Krieg gegen die Ukraine: feministische & dekoloniale Kritik
Internationale Konferenz, Hochschule Rhein-Waal, 18.-19. Januar 2023
Russland rechtfertigt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht zuletzt durch eine grundsätzliche Opposition zu LGBTQIA+-Rechten und zur Gleichstellung der Geschlechter. Daher scheint es nur logisch, den Krieg aus einer Genderperspektive zu analysieren und auch die Zivilgesellschaft in den Blick zu nehmen. Dies war das Ziel der internationalen Konferenz »Gender, Civil Society, and Women’s Movements in the Context of Russia’s War on Ukraine«, die im Januar 2023 in Kleve und online stattfand.
Die Konferenz wurde von Eva Maria Hinterhuber (Hochschule Rhein-Waal, Deutschland) eröffnet mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, den Konflikt aus einer feministischen Perspektive zu betrachten. Themen wie die Beteiligung an den Streitkräften, die Vertreibung von Menschen und Gewalt hätten einen geschlechtsspezifischen Einfluss, der berücksichtigt werden müsse, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Initiative der Zivilgesellschaft sei ein Schlüsselelement bei der Verwirklichung von Demokratie, Frieden und Geschlechtergerechtigkeit.
Olena Strelnyk (Technische Universität München, Deutschland) brachte ihre Perspektive als ukrainische Feministin und Akademikerin ein und erklärte, wie wichtig politischer Aktivismus für die Veränderung der Geschlechterverhältnisse sei. Ihrer Analyse nach werden aufgrund der russischen Invasion in der Ukraine dort Konzepte der Staatsbürgerschaft derzeit vor dem Hintergrund eines patriarchalischen Konstrukts des Militarismus diskutiert, welcher eine traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter vorsieht. Jedoch ergibt sich inmitten des Krieges auch ein Lichtblick: die ukrainische Bevölkerung scheint die patriarchalen und homophoben Werte der russischen Regierung zunehmend abzulehnen, was infolgedessen einen neuen Aufwind für politische Debatten zur Geschlechtergleichheit in der Ukraine bringe, so Strelnyk.
Galyna Kotliuk (Heinrich-Böll-Stiftung, Ukraine) erläuterte in ihrem Beitrag die Problematik kolonialer Kontinuitäten im Ukrainekrieg. Sie arbeitete heraus, dass der Westen die Ukraine weitgehend als Russlands Peripherie wahrnehme und somit in ein »drittes Anderes« stelle, während der russische Kolonialismus die Gebiete, die er als »angrenzend« betrachte, hierarchisch einordne, sodass die Russen das »überlegene Volk« seien, gefolgt von den »Kleinrussen« (Ukrainer*innen) und dann den »Weißrussen« (Belarus*innen). Kotliuk analysierte den größer gedachten Kampf der Ukraine, resultierend aus der konfliktträchtigen Beziehung zu Russland, folglich als antikolonial, durch deren Position zwischen zwei Kolonialsystemen: russischem Kolonialismus und westlichem Orientalismus.
Vanya Solovey (Humboldt-Universität zu Berlin und TGEU, Deutschland) untersuchte die Spaltung zwischen russischen Feministinnen. Er erkennt im wesentlichen zwei Gruppen: Diejenigen, die den Krieg unterstützen, und diejenigen, die ihn verurteilen. Solovey betonte die in beiden Bewegungen genutzte, ambivalente Bezugnahme auf Kolonialismus. So konzentriere sich der russische feministische Antikriegs-Widerstand auf die Solidarität mit der Ukraine und betone seine dekoloniale Haltung. Auf der anderen Seite erfolge derzeit unter konservativen feministischen Akteurinnen eine weit verbreitete Selbstviktimisierung, z.B. indem Sanktionen gegen Russland als Zeichen eines westlichen Kolonialismus interpretiert werden, russischer Imperialismus unterstützt und die Ukraine als Aggressor konstruiert werde. Nicht zuletzt verstärkten sich in dieser Perspektive Trans-Exklusionismus und Nationalismus gegenseitig.
Janet Elise Johnson (Brooklyn College of the City University of New York, USA) betonte in ihrem Beitrag zunächst, dass es für das Verständnis und die Analyse jeglicher Konflikte positiv sei, auch Menschen außerhalb der Region als Expert*innen zu haben. Die Meinungen osteuropäischer Frauen würden im gegenwärtigen Kontext jedoch entprivilegiert: Westeuropäische feministische Manifeste, die zur Entmilitarisierung aufriefen, wurden ohne Beteiligung ukrainischer Feministinnen verfasst – ein Phänomen, das sie als Variante des »White-Savior-Komplexes« analysierte.
Elizabeth A. Wood (MIT, USA) referierte über die sich jahrelang aufbauenden Frühwarnsignale vor dem Krieg in der Ukraine mit Blick auf das Geschlechterregime der Putin-Autokratie. Putin, Russland und der Krieg würden durch Hypermaskulinität charakterisiert, während Widerstand dagegen feminisiert und als »zu unterwerfen« ausgerufen werde. Dazu zeige sich im russischen Diskurs und Gesellschaft folgende Positionierung: Die Darstellung Putins als männlicher Held, Beschützervater und Geschäftsmann sei ein zentraler Bestandteil der Invasionslogik gewesen. Gleichzeitig seien die wichtigsten gesellschaftlichen Positionen dominant männlich vereinnahmt. Diskursiv werde Europa als »Gayropa« verunglimpft und Russland als der »große Bruder« personifiziert, der den »kleinen Bruder« Ukraine vermeintlich gegen dessen Queering verteidige. Lösungsansätze, wie diese Strukturen aufgebrochen werden könnten, wurden leider nicht vorgebracht.
Yulia Gradskova (Södertörn University, Schweden) lieferte einen Blick auf Maternalismus in der europäischen Geschichte. Sie verstand darunter das Gebären von, die Fürsorge für, und die Vermittlung patriotischer Werte an Kinder. Die gegenwärtige russische Propaganda greife diese Ideologie auf, da Kriegsführung von der Berufung auf traditionelle Werte und der Bereitschaft patriotischer Mütter abhänge, ihre Kinder im Krieg zu opfern. Nach der Invasion der Ukraine verstärkte sich Russlands Unterstützung für die »traditionelle Familie«, z.B. durch monetäre Anreize zur Geburt von Kindern. Dies offenbare die Instrumentalisierung von Mutterschaft für Kriegszwecke.
Dana Jirouš (OWEN e.V., Deutschland) stellte das Konzept des Dialogs als Konfliktbearbeitungsmethode vor. Sie definierte den Dialog als Zuhören, Reflektieren und Verstehen dessen, was der/die andere denkt und warum. Vor der Invasion förderte die Arbeit von OWEN (Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung e.V.) im Rahmen des Projects »Women & Peace in Donbass« Dialog zwischen Frauen aus der Ukraine, den besetzten Gebieten und Russland, mit dem Bestreben eines Wandels auf der persönlichen, relationalen und kulturellen Ebene. Andrea Zemskov-Züge (OWEN e.V., Deutschland) erklärte, dass seit Februar 2022 die Legitimität und Relevanz von konfliktübergreifenden Kontakten und Kooperationen generell in Frage gestellt werden. Die Notwendigkeit dieses Projekts wurde bekräftigt, da ein offener Dialog es ermöglichen kann, die vorherrschende Feindeslogik zu hinterfragen und individuelle Identitäten und Bedürfnisse sichtbar zu machen und zur eigenen Interpretation zu ermächtigen.
Manuela Scheuermann (Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Deutschland) zufolge müsse eine Friedensvision ein Ziel einer feministischen Zivilgesellschaft sein. Dagegen gäben derzeit Feministinnen in Deutschland pazifistische Ideale zugunsten von Waffenlieferungen auf, während in der Ukraine der Diskurs militaristisch und nationalistisch sei und die (Selbst-)Verteidigung des Landes zentriere. Kurzfristige Ziele sollten Ressourcen für Grundbedürfnisse und Material für die Verteidigung umfassen, aber langfristige Bemühungen sollten auf Frieden abzielen, so Scheuermann.
Der Fokus auf Frieden rief unter den Teilnehmenden konträre Reaktionen hervor; vor allem ukrainische Teilnehmerinnen argumentierten, dass „wir überleben müssen, um an Frieden zu denken“.
Was passiert, wenn Geflüchtete in eine Aufnahmegesellschaft kommen? Diese Frage stellte Gesine Fuchs (Hochschule Luzern, Schweiz) zum Zuzug ukrainischer Flüchtlinge in der Schweiz und präsentierte erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes zur Frage. Zwar gebe es Erstaufnahmezentren für sie, doch seien diese oft isoliert und behinderten die Integration. Eine bessere Option sei eine private Unterkunft. Die meisten Flüchtlinge seien weiblich, so wie auch die meisten Haushalte weiblich geführt sind, die diese aufnehmen. Allerdings sei diese Situation oft nur vorübergehend und viele Flüchtlingsfamilien zögen bereits nach kurzer Zeit in eine eigene Wohnung.
Helma Lutz (Goethe Universität Frankfurt am Main, Deutschland) und Elisabeth Tuider (Universität Kassel, Deutschland) untersuchten die Willkommenskultur in Deutschland aus einem intersektionalen und kritischen Blickwinkel und konzentrierten sich dabei auf Weißsein, Christentum und »Europeanness«. Eine positive Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft umgebe ukrainische Geflüchtete, sowohl weibliche (Mütter und Kinder) als auch männliche (heldenhafte Kämpfer) Darstellungen würden positiv bewertet. Dem gegenüber stehe der negative Blick auf Flüchtlinge aus muslimisch geprägten Ländern, deren Aufnahme von politischer und gesellschaftlicher Unsicherheit und Misstrauen bis hin zu offener Gegner*innenschaft geprägt war. Zu den Unterschieden im Umgang mit ukrainischen Flüchtlingen gehörten Veränderungen in der bundesdeutschen Asylpolitik mit der Abschaffung von Hürden und Implementierung von Leistungen die anderen Geflüchteten bisher nicht zuteil wurden, die Anerkennung der Ukrainer*innen als »Neubürger« statt sie als »unwillkommene Gäste« zu verstehen und die Abwesenheit eines Diskurses der »gesellschaftlichen Belastung« und des »Andersseins« der Geflüchteten. Lutz und Tuider führten dies auf Faktoren wie die kulturelle und religiöse Nähe und das wahrgenommene »Weißsein« und »Europäischsein« der Ukrainer*innen zurück. Es sei demgegenüber eine feministische Aufgabe, diese Ungleichbehandlung zu ändern und gleiche Rechte für alle Geflüchteten einzufordern.
Die Konferenz brachte feministische Stimmen aus verschiedenen Erdteilen zusammen, mit teils sehr unterschiedlichen Ansätzen und Positionen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Diese unterschiedlichen Ansichten und wissenschaftlichen Schwerpunkte führten zu lebhaften Diskussionen – jedoch in einer Atmosphäre, die es ermöglichte, auch kontroverse Themen auf respektvolle Weise zu diskutieren. Die Konferenz wurde von einem internationalen Publikum verfolgt und zeigte das Interesse von Betroffenen, Akademiker*innen und der Zivilgesellschaft an den Antworten feministischer und genderbezogener Fragestellungen, auch wenn die Forschung diese Perspektiven und die Bedeutung der Zivilgesellschaft bislang noch zu oft vernachlässigt.
Luna Orsini und Eva-Maria Pölger