W&F 2023/2

Hanne-Margret Birckenbach (2023): Friedenslogik verstehen. Frieden hat man nicht. Frieden muss man machen. Berlin: Wochenschau Verlag. ISBN 978-3-7344-1539-5, 229 S., 22,90 €.

Abb. von Buch

In den 1990er Jahren, als in der Außenpolitik Deutschlands zivile Konfliktbearbeitung in eine umfassende Sicherheitspolitik eingeordnet wurde, entstand in den friedenspolitischen Initiativen und Organisationen, wie z.B. der Plattform zivile Konfliktbearbeitung, ein großes Interesse, sich mit dieser Einordnung kritisch auseinanderzusetzen: Lassen sich die Handlungsprinzipien für Frieden umstandslos mit einer Sicherheitsstrategie verbinden, die auf militärisches Potential setzt? In Abgrenzung zu einem solchen sicherheitslogischen Denken entstand der Begriff der Friedenslogik, zu dem die Friedens- und Konfliktforscherin ­Hanne-Margret Birckenbach die ersten Ansätze erarbeitete. Sie hat seither das Konzept der eigenständigen Friedenslogik als friedenspolitische Leitperspektive in zahlreichen Aufsätzen entwickelt, im kollegialen Zusammenhang weiter entfaltet und einer interessierten Öffentlichkeit in vielfältigen wissenschaftlichen und praktisch orientierten Foren vorgetragen und diskutiert. Dass nun ihr Buch »Friedenslogik verstehen« vorliegt, ist ein großer Gewinn und glücklicher Umstand. Die Darstellung soll als „Kompass“ oder systematische Wegbeschreibung“ dienen (S. 8). Mit dieser Veröffentlichung ist zu erwarten, dass sich der derzeit wegen des Kriegsgeschehens gegen die Ukraine vorrangig auf Militärstrategien und Waffen verengte deutschsprachige Diskurs wieder weitet. Denn in ihrem Band wird Friedenslogik als ein handlungsorientiertes Konzept in den Mittelpunkt gestellt.

Der erste Teil des Buches ist dem Schlüsselbegriff Frieden gewidmet, aufgefasst als integrierendes „Rahmenkonzept“ (S. 20ff). Dies ermöglicht es, die sich historisch verändernden Sichtweisen auf Frieden zu erkennen und seine Bedingungen als produktiven Ausgangspunkt für lebensnotwendige Aufgaben in der Konflikthaftigkeit moderner Gesellschaften zu begreifen. Dabei weist die Autorin den UN-Verfahren zur Innovation von völkerrechtlichen Normen und Regeln große Bedeutung zu. Nicht zuletzt die allgemeine Zustimmung zu den 17 Nachhaltigkeitszielen zeigt – wie Birckenbach hervorhebt –, dass es darauf ankommt, nicht einzelne Normen, z.B. Recht auf reines Wasser oder auf wirtschaftliche Entwicklung, gegeneinander zu halten, sondern diverse Aspekte in den integrativen Friedensdiskurs einzubringen. Friede bezeichnet demnach „heute eine existenzerhaltende Lebenspraxis“, geprägt von Veränderungen, „die innerhalb und zwischen Gesellschaften gefördert werden muss und kann“ (S. 29). Auch in gewaltträchtigen Lebensverhältnissen kann sich nach Birckenbach Frieden in den sozialen Beziehungen, bei der Austragung von Konflikten und durch die Schaffung friedenszuträglicher Strukturen und Institutionen herausbilden.

Im zweiten, zentralen Teil des Buchs entfaltet die Autorin dazu fünf Handlungsprinzipien der Friedenslogik. Dabei geht es erstens um die Prävention von Gewalt. Diese sei zwischen Individuen, Gruppen und Staaten zwar normativ verankert, werde allerdings in der Praxis oft nicht umgesetzt. Birckenbach geht hier besonders auf die konkreten Ansätze in den Vereinten Nationen und ihrer Agenturen ein – von der präventiven Diplomatie bis zur strukturellen und systematischen Prävention. Aber auch die neueren Ansätze zur Gewaltprävention in Deutschland und der EU werden dargestellt, ohne die Schwierigkeiten zu verschweigen, die notwendigen Mittel zur Vorsorge innenpolitisch durchzusetzen.

Zweitens wird das Prinzip der Konflikttransformation eingeführt, bei der es darauf ankommt, die „ursächlichen Hintergründe für Gewalt“ (S. 41), sei diese direkt, strukturell oder kulturell, zu bearbeiten. Hier stehen – unabhängig von den je konkreten Kontexten – die Ziele, die Haltung und das Verhalten von Akteuren im Vordergrund, die dazu beitragen, aus Konfrontationen zu Formen der Kooperation zu gelangen: durch Rückzug, Kompromiss oder Horizonterweiterung, in der weitere Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden (nach Johan Galtungs transcend-Ansatz als „Transzendenz“ bezeichnet, S. 74). Als zentral für die Beförderung einer Transformationsfähigkeit gilt der Autorin eine glaubwürdige, verstehbare und anschlussfähige Kommunikation – innergesellschaftlich wie auch international –, wofür sie vielfältige Beispiele anführt.

Auf dieser Kommunikationsebene liegt das dritte Prinzip, die Dialogfähigkeit. Auch hier knüpft die Autorin an Verfahren der Vereinten Nationen an: Im Artikel VI der UN-Charta werden acht Mittel zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten aufgeführt. Diese Mittel zeichnen sich durch Merkmale aus, die teils in Evaluationen von Projekten ziviler Konfliktbearbeitung hervorgehoben werden: Eigenverantwortung der Konfliktparteien für die Bearbeitung des Konflikts, Kombinierbarkeit und universelle Anwendbarkeit der Mittel sowie Kommunikationsoffenheit. Birckenbach geht in ihrer Analyse allerdings auch deutlich über die UN-Mittel hinaus, indem sie sich anhand der Erfahrungen aus den Gebieten der Konfliktforschung und der »conflict resolution« detailliert mit dem Zusammenwirken verschiedener politischer Kommunikations­ebenen und Akteursgruppen sowie erprobten Dialogformaten auseinandersetzt.

Das vierte Handlungsprinzip wirft die Frage nach der Beziehung zwischen ethischen Normen und spezifischen Interessen je bestimmter Akteursgruppen auf. Angesichts der allfälligen Erfahrung in Gesellschaften und Staaten, dass es Widersprüche zwischen ethischen Überzeugungen und dem eigenen Tun gibt, entwirft die Autorin das innovative Konzept der „Normorientierten Interessenentwicklung“ (S. 124ff), meist getragen von ethisch engagierten Akteuren; deren Bedeutung im zwischenstaatlichen Verkehr möchte sie friedenspolitisch vergegenwärtigen. Konzeptionell bezieht sie sich u.a. auf das Spiralmodell normativer Sozialisierung von Thomas Risse. Im Einzelnen wird im Buch dargestellt, wie es gelingt, im Zusammenspiel verschiedener nichtstaatlicher Akteure mit staatlichen Instanzen die Vorteile einer Einhaltung bestimmter Regeln für alle wahrnehmbar zu machen oder in einem mehrstufigen Prozess der Interessenentwicklung die Handlungspraxis mit Normen in Einklang zu bringen.

Fünftens geht es um das Prinzip der Reflexion oder – in der Sprache der Organisationsforschung – um „Fehlerfreundlichkeit“ (S. 146ff). Gemeint ist eine Kultur, die im Fall von Fehlern sich nicht auf Schuldige konzentriert, sondern auf die Aufklärung, wie es zu den unerwünschten Ergebnissen kam, um daraus kollektiv zu lernen und die Praxis zu ändern. Bei friedenspolitischen Handlungsweisen geht es darum, auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen drei zentrale Qualitätsstandards zu beachten: Abschätzung intendierter Wirkungen und nicht intendierter Folgen, Schadensvermeidung sowie Eigenverantwortung derer, die sich in Konflikt befinden. Um Friedens­entwicklung als Staatsaufgabe (S. 161f) gut zu verankern, – so das Plädoyer der Autorin – sollte sie als Querschnittsaufgabe in den einzelnen Ressorts verankert werden.

Der letzte Teil des Buches behandelt drei konkrete trans- und internationale Konfliktfälle, in denen jeweils aufgezeigt wird, was in friedenslogischer Hinsicht gelungen ist und welche weiteren Friedensschritte gleichwohl nötig sind: Es sind dies die Staatsbürgerschaftskonflikte nach der Unabhängigkeitserklärung Estlands und Lettlands, der Umgang mit terroristischer Gewalt im Nordirlandkonflikt und der ethnisierende Gewaltkonflikt in Kenia. Zudem werden drei konkrete Beispiele neuer, international gültiger Normbildung betrachtet: die Internationalen Übereinkommen zum Verbot von Minen, Streuwaffen und Atomwaffen, die alle trotz starker Widerstände verschiedener Staaten zustande kamen. Zum Gelingen trug insbesondere die Beteiligung derer bei, die Leidtragende der Testung bzw. der faktischen Einsätze solcher Waffensysteme waren. Dieser Befund wurde jüngst detailliert bestätigt von Ray Acheson (Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit), die am Beispiel des UN-Vertrages zum Atomwaffenverbot die Beteiligung zivilgesellschaftlicher und zuvor marginalisierter Stimmen an internationalen Verhandlungen als ausschlaggebend für die Überwindung mächtiger staatlicher Blockaden bewertet.

Mit dem handlungsorientierten Konzept der »Friedenslogik« werden Gewalt und Konfliktträchtigkeit im Prozess großer Umbrüche in einzelnen Gesellschaften und der Weltpolitik nicht verwischt oder gar verharmlost. Vielmehr zeigt Hanne-Margret Birckenbach systematisch Gegenkräfte und friedensförderliche Gestaltungsmöglichkeiten auf. Sie hat ein Buch geschrieben, dessen Art in der hoch arbeitsteiligen Wissenschaftswelt selten geworden ist; sie stellt den internationalen Stand friedensrelevanter Erkenntnisse und Praktiken konzeptionell und beispielhaft so dar, dass er für Kenner*innen und Interessierte, die es werden wollen, handlungsträchtige neue Gedanken und Hinweise enthält. Sehr nützlich sind die grafischen Darstellungen und die interdisziplinären Angaben zu wissenschaftlichen Quellen, Institutionen, Internetadressen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Und Birckenbach hat – entsprechend ihrem sozialwissenschaftlichen Verständnis von Friedenspädagogik – auch für die Lektüre ihres Buchs das Prinzip der Eigenverantwortung im Sinn: Wer liest, wird mit weiterführenden Fragen eingeladen, die beschriebenen Themen, Konzepte und Verfahren im je eigenen Kontext zu bedenken. So bietet sich ihr Buch auch hervorragend für den Einsatz in der Lehre an.

Eva Senghaas-Knobloch

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/2 Klimakrise, Seite 64–66