W&F 1997/1

50 Jahre internationale Strafgerichtsbarkeit

von Nürnberg über Den Haag zu einem Ständigen Internationalen Strafgerichtshof

von Bernhard Graefrath

Im Dezember 1996, 50 Jahre nach der Verkündung des Nürnberger Urteils, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen, 1998 eine Staatenkonferenz einzuberufen, die das Statut für einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof (StIStGH) beraten und verabschieden soll.1 An dem Entwurf dieses Statuts wurde in der UNO seit 50 Jahre gearbeitet. Die Arbeiten begannen mit der Kodifizierung der Nürnberger Prinzipien 1948, wurden dann aber zeitweilig unterbrochen, bis man sich auf eine Definition der Aggression verständigen konnte. Insbesondere seit 1992 sind die Beratungen über ein Statut für einen StIStGH in der Völkerrechtskommission wieder intensiv betrieben worden. Beschleunigt durch die Einsetzung von ad hoc Gerichten durch den Sicherheitsrat für das ehemalige Jugoslawien2 und Ruanda3 haben sie nun zu einem Ergebnis geführt, von dem angenommen wird, daß es als Grundlage für eine Einigung auf einer Staatenkonferenz dienen kann.

Häufig wird Unverständnis, Enttäuschung und Kritik geäußert, daß ein halbes Jahrhundert nach Nürnberg noch immer kein StIStGH eingerichtet worden ist. Um jedoch zu ermessen, wie gewaltig der Schritt war, der in der Entwicklung des Völkerrechts durch Nürnberg gemacht wurde und welch Stellenwert in diesem Prozeß dem vorliegenden Entwurf für einen StIStGH zukommt, muß kurz an die Rechtslage vor Nürnberg erinnert werden.

Bis zum ersten Weltkrieg war eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen im Völkerrecht im Grunde unbekannt. Völkerrecht war als Recht zwischen den Staaten nur mit diesen als Subjekten befaßt. Nur Staaten konnten völkerrechtliche Regeln schaffen und verletzen. Das Völkerrecht kannte daher im Prinzip nur eine Verantwortlichkeit von Staaten für Völkerrechtsverletzungen. Personen, die in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten des Staates gehandelt hatten, konnten zwar eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Staates begründen, persönlich aber nicht haftbar gemacht werden.

Zur Zeit des I. Weltkrieges war weder die koloniale Unterdrückung eines Volkes noch das Führen eines Krieges eine Völkerrechtsverletzung. Das Recht zum Kriege wurde geradezu als Kriterium der Souveränität eines Staates betrachtet.4 Der Krieg galt in der herrschenden Lehre als notwendig, als sittliches Ideal und von „Gottes Weltordnung gewollt.“ 5 Zwar kannte man bereits Kriegsverbrechen, Verletzungen der Regeln, die während eines Krieges zwischen den Staaten zu beachten waren, aber die strafrechtliche Verfolgung solcher Verletzungen oblag ausschließlich dem Landesrecht.

Allerdings gab es in der Völkerrechtsliteratur, besonders der französischen, bereits Bemühungen, die für den Krieg Verantwortlichen strafrechtlich zu belangen. Was von diesen Bemühungen nach zähen Verhandlungen 1919 Eingang in den Versailler-Vertrag fand, spiegelt den politischen Charakter der Strafforderungen deutlich wider. Der deutsche Kaiser sollte nach Artikel 227 des Versailler-Vertrages „wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage“ gestellt werden. Es sollte ein Gerichtshof, bestehend aus fünf Richtern (USA, UK, Frankreich, Italien und Japan), eingesetzt werden, der „urteilt auf der Grundlage der erhabensten Grundsätze der internationalen Politik.“ Auch das Auslieferungsersuchen an Holland vom 16. Januar 1920 betont ausdrücklich, daß es sich „um einen Akt der internationalen Politik handelt, der vom Weltgewissen inspiriert“ ist. Die holländische Regierung fand nicht, daß sich aus dem Weltgewissen rechtliche Verpflichtungen ergeben und brauchte keine acht Tage, das Auslieferungsersuchen abzulehnen, weil es eben politischer Natur und rechtlich unbegründet war. Damit war dieses Kapitel internationaler Strafgerichtsbarkeit beendet.6

Alle Versuche, im Rahmen des Völkerbundes einen internationalen Gerichtshof mit Strafkompetenz zu schaffen, blieben in den Ansätzen stecken. Kein Staat war an einem solchen Strafgericht interessiert. Immerhin versuchte der Völkerbund, den Krieg einzudämmen und zu ächten. 1928 kam es zum Briand-Kellogg-Pakt, der den Krieg als Mittel der nationalen Politik verbot, jedoch keine Sanktionen für die Verletzung des Verbotes vorsah. Auf diesem Hintergrund ist der Nürnberger-Prozeß am Ende des zweiten Weltkrieges zu sehen, in dem zum ersten Mal die verantwortlichen Personen aufgrund des Völkerrechts für die Planung und Führung eines Angriffskrieges und damit verbundener Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden.

Nürnberg war ein Wendepunkt

Sowohl die Organisation der Vereinten Nationen als auch das Nürnberger Tribunal beruhten auf den Ergebnissen des Sieges der Alliierten im Kampf gegen den deutschen Faschismus, der Ächtung des Völkermordes und der Aggression, des menschenverachtenden Terrors nach innen und der imperialistischen Eroberungspolitik nach außen. Daraus erwuchsen die entscheidenden Rechtssätze des Völkerrechts unserer Zeit, die in Nürnberg als geltendes Völkerrecht angewandt wurden. Obgleich 1945 in der UN-Charta verankert, gelang es der Generalversammlung erst 1970 in der Resolution 2625 (XXV) die grundlegenden Prinzipien des gegenwärtigen Völkerrechts, das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, das Gewalt- und Interventionsverbot, das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung, zur friedlichen Zusammenarbeit und zur Erfüllung der Verträge nach Treu und Glauben zusammenfassend zu formulieren.7 Um ihre Einhaltung und Durchsetzung wird noch immer gerungen.

Das Nürnberger Tribunal wurde aufgrund des Abkommens zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse vom 8. August 1945 errichtet, ihm schlossen sich in der Folgezeit 19 andere Staaten an. Es diente der Strafverfolgung der Hauptkriegsverbrecher in Europa.8 Ein entsprechender Gerichtshof für den Fernen Osten wurde durch General McArthur in Tokyo eingesetzt.9 Im Nürnberger-Prozeß standen 22 Naziführer und Generäle vor Gericht. Das Gericht hatte keine Schwierigkeiten, der Angeklagten habhaft zu werden10 und die notwendigen Beweismittel zu sichern. Angeklagt wurde wegen Verbrechens gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Tatbestände, die im Artikel 6 des Statuts des Tribunals definiert worden waren.

Bald nach dem Urteil, das am 1. 10. 1946 erging, bekräftigte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 95 (I), vom 11.12. 1946 die dem Statut und Urteil zugrunde liegenden Rechtsgrundsätze und beauftragte die Völkerrechtskommission, diese Grundsätze für eine allgemeine Kodifizierung zu formulieren. Schon 1950 legte die Völkerrechtskommission einen entsprechenden Text vor, 11 der seitdem sowohl für die Arbeiten am Kodex für Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit12 als auch am Statut für einen StIStGH eine entscheidende Rolle gespielt hat.13 Jedoch war es bisher nicht möglich, einen solchen Kodex oder ein Statut für einen StIStGH zu verabschieden.

Die Nürnberger Grundsätze, die von der Völkerrechtskommission in Form von sieben Prinzipien dargestellt wurden, lassen sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen:

  • Personen können für internationale Verbrechen aufgrund des Völkerrechts strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
  • Weder Landesrecht noch die Immunität von Staatenvertretern oder Handeln auf Befehl können eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für internationale Verbrechen hindern.
  • Als internationale Verbrechen sind nach Völkerrecht strafbar: das Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Damit waren für eine internationale Gesellschaft, die sich aus gleichberechtigten souveränen Staaten zusammensetzt, elementare Grundwerte für eine Friedensordnung abgesteckt. Der unmittelbare Zugriff auf die verantwortlichen Einzelpersonen markierte eine grundlegende Veränderung im Völkerrecht. Es war ein kompliziertes Geflecht von staatlicher Souveränität, völkerrechtlicher Verantwortlichkeit und individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit bei internationalen Verbrechen geschaffen worden. In Nürnberg wurden nicht nur einzelne kriminelle Handlungen bestraft, sondern bloßgelegt, daß diese Verbrechen nach innen und außen Systemcharakter hatten, planmäßig mit Hilfe des Staates begangen wurden und sich gegen das friedliche Zusammenleben gleichberechtigter Völker richteten. In Zukunft Verbrechen zu verhindern bzw. zu ahnden, die sich gegen das friedliche Zusammenleben gleichberechtigter Völker richten, war der normative Auftrag der Nürnberger Prinzipien.

<>Koordinierung nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit<>

Die internationale Strafgerichtsbarkeit hat dort ihre Berechtigung und Notwendigkeit, wo Rechtsgüter der internationalen Gemeinschaft zu schützen sind und dies durch die nationale Gerichtsbarkeit nicht oder nicht wirksam gewährleistet werden kann. Das gilt vor allem bei Straftaten, die in der Regel vom Staat selbst angeordnet, gefördert oder geduldet werden, die mit Hilfe der Machtmittel des Staates begangen werden. Grundlage der Koordinierung von nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit in den Nürnberger Prinzipien ist deshalb die Definition derjenigen internationalen Verbrechen, die dem Völkerstrafrecht zugeordnet werden. Zwar wird der Schutzwall der staatlichen Souveränität durchbrochen und die internationale strafrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen Individuums hergestellt, aber eben nur für bestimmte Verbrechen. Es wird ein sorgfältig ausgewogenes Gleichgewicht hergestellt, indem einerseits ausgeschlossen wird, daß staatliche Souveränität, Gesetzeshoheit oder Immunität zur Deckung von internationalen Verbrechen geltend gemacht werden können, andererseits die strafrechtliche Verantwortlichkeit aber nicht auf Völkerrechtsverletzungen im allgemeinen, sondern nur auf bestimmte, sehr sorgfältig definierte und begrenzte internationale Verbrechen erstreckt wird.

Diese Rechtslage wurde kürzlich in einem Gutachten des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte eindeutig dargestellt: „Der Erlaß eines Gesetzes, das offensichtlich Verpflichtungen verletzt, die ein Staat bei der Ratifikation oder dem Beitritt zur (Menschenrechts)Konvention eingegangen ist, stellt eine Verletzung dieses Vertrages dar und begründet die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des betreffenden Staates… eine individuelle Verantwortlichkeit kann gegenwärtig nur für Verletzungen geltend gemacht werden, die in internationalen Dokumenten als Verbrechen nach Völkerrecht definiert werden: wie das Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord… Die Durchsetzung eines Gesetzes, das offensichtlich die (Menschenrechts) Konvention verletzt, durch Beauftrage oder Beamte des Staates führt zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates. (Nur) wenn diese Durchsetzung ein internationales Verbrechen darstellt, begründet sie zugleich auch die internationale (strafrechtliche) Verantwortlichkeit des Beauftragten oder Beamten, der es ausführt.“ 14

Es ist außerordentlich aufschlußreich, daß alle Versuche der Völkerrechtskommission und internationaler Organisationen, die Anzahl der internationalen Verbrechen zu erweitern, gescheitert sind. So fanden sich z.B. noch 1991 in dem Entwurf zum Kodex für Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit Verbrechen wie die Drohung mit Aggression, Intervention, Apartheid, gewaltsame Aufrechterhaltung von Kolonialherrschaft, Söldnertum, Terrorismus, Drogenhandel, schwere Menschenrechtsverletzungen und schwere Umweltschädigungen.15 In zweiter Lesung sind diese Tatbestände aufgrund der Einwände vieler Staaten, insbesondere aber unter dem Einfluß der USA, alle wieder gestrichen worden. Nur mühselig gelang es, die Nürnberger Prinzipien mit ihren Tatbeständen, Verbrechen der Aggression, Verbrechen gegen die Menschlichkeit einschließlich Völkermord und Kriegsverbrechen im wesentlichen aufrecht zu erhalten. Hinzu genommen wurden nur Verbrechen gegen UN-Personal.16

Das zeigt sehr deutlich, wie stark nach wie vor der Widerstand vieler Staaten gegen eine Ausweitung internationaler Straftatbestände ist, eben weil damit die Durchbrechung des Souveränitätsgrundsatzes verbunden wird. Das gleiche Bild ergibt sich notwendig bei den Bestrebungen um die Errichtung eines StIStGH, denn es stellen sich die gleichen Probleme, die Abgrenzung bzw. Komplementierung von nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit, die Bestimmung der Grenzen staatlicher Souveränität.

Das gilt jedenfalls für den eigentlich interessanten und wichtigen Bereich der Fälle, in denen ein StIStGH auch ohne Zustimmung oder gegen den Willen des betroffenen Staates anklagen und verhandeln kann. Natürlich können Staaten jederzeit vereinbaren, die Strafverfolgung bestimmter Straftaten einem internationalen Gericht zu übertragen. Das kann aus mancherlei Gründen zweckmäßig erscheinen, z.B. um Rachejustiz zu verhindern, einheitliche Strafmaßstäbe herauszubilden, einen fairen Prozeß zu garantieren etc. Das aber würde kaum den mit der Schaffung eines StIStGH verbundenen Aufwand rechtfertigen. Wirklich notwendig wird der StIStGH für die internationale Staatengemeinschaft erst da, wo die nationale Strafgerichtsbarkeit keine adäquate Strafverfolgung mehr gewährleistet. Das hat die Einsetzung der ad hoc Tribunale für Jugoslawien und Ruanda deutlich gemacht.

Den Haag – Wegbereiter oder Umweg

Die Problematik fängt mit der Einsetzung des Gerichts an. Die ad hoc Gerichte sind durch Beschluß des Sicherheitsrates, gestützt auf Kapitel VII der Charta, mit verbindlicher Wirkung gegenüber allen Staaten geschaffen worden. Der Sicherheitsrat hat die Jurisdiktion der Gerichte im einzelnen zeitlich und sachlich begrenzt definiert und angeordnet. In Bezug auf die in den Statuten definierten Straftaten, die sich im Unterschied zu Nürnberg auf Völkermord, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen beschränken, das Verbrechen gegen den Frieden deutlich ausklammern, greift die Jurisdiktion dieser Gerichte nicht nur in die Gerichtshoheit der Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens und Ruandas sondern auch in die Gerichtshoheit aller Staaten ein. In jedem Staat können diese ad hoc Gerichte Ermittlungen durchführen, ihre Haftbefehle und sonstigen Anordnungen sind in allen Staaten der Welt durchzuführen, ihre Auslieferungsersuchen gehen jedem Auslieferungsvertrag vor. Sie können selbst die Auslieferung von Staatsbürgern des ersuchten Landes verlangen und in schwebende Verfahren eingreifen. Selbst ein vor einem nationalen Gericht abgeschlossenes Verfahren können sie wiederaufnehmen, wenn sie der Meinung sind, daß es aus irgendeinem Grunde nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist. Diese schwerwiegenden Kompetenzen, die weit über Nürnberg hinausgehen, unterstreichen den Ausnahmecharakter dieser Sondergerichte. Eine so weitreichende internationale Gerichtsbarkeit für Den Haag konnte im Sicherheitsrat nur beschlossen werden, weil sie auf zeitlich und räumlich eng beschränkte Straftaten begrenzt war und man sicher sein konnte, daß sich keinerlei Anklagen oder Beschuldigungen gegen Mitglieder des Sicherheitsrates richten konnten.

Zweifellos hat bei der Schaffung der Charta und der Definition der Kompetenzen des Sicherheitsrates nie jemand auch nur im entferntesten daran gedacht, daß der Sicherheitsrat einmal im Rahmen von Sanktionen ad hoc Strafgerichte mit so weitreichenden Vollmachten in Form von Hilfsorganen des Sicherheitsrates einsetzen könnte. Er hat es getan, obgleich die UNO keinerlei Personalhoheit hat und kein Staat ihr eine solche Kompetenz übertragen hat. Die Staaten haben es – angesichts der Greueltaten über die berichtet wurde – als eine mögliche Maßnahme zur Friedenssicherung hingenommen. Welche Wirksamkeit und Bedeutung diese Gerichte haben werden, ist noch nicht abzusehen. Bislang beschäftigen sie sich mit einzelnen Greueltaten. Ob sie je zu denjenigen vorstoßen werden, die die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und Ruanda ausgelöst oder ermöglicht haben, scheint in hohem Maße fraglich. Trotzdem sind ihre Statuten nicht ohne Einfluß auf den Entwurf für einen StIStGH geblieben.

Die übergroße Mehrheit der Staaten ist gegen die Einsetzung von ad hoc Gerichten oder die Schaffung eines StIStGH durch Beschluß des Sicherheitsrates. Sie besteht darauf, daß ein StIStGH, da eine Ergänzung der Charta zur Zeit nicht realisierbar erscheint, nur durch einen völkerrechtlichen Vertrag geschaffen werden kann.17 Auf diese Weise wollen die Staaten sichern, daß nicht nur das Statut und die Einsetzung des StIStGH, sondern auch der Umfang seiner Jurisdiktion und sein Tätigwerden von ihrer Zustimmung abhängt.

Der Entwurf geht davon aus, daß mit der Zustimmung zum Statut nicht automatisch der Umfang der Jurisdiktion des StIStGH bestimmt ist. Dazu bedarf es einer besonderen Erklärung der Staaten, in der sie festlegen, für welche Verbrechen sie die Zuständigkeit des StIStGH akzeptieren wollen. Lediglich für Völkermord sollte der Gerichtshof bereits aufgrund der Beschwerde eines Staates tätig werden können.18 In allen anderen Fällen, also auch bei Aggression, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen sollte ebenso wie bei Verbrechen, die in internationalen Verträgen definiert sind, wie Geiselnahme, Luftpiraterie, Verbrechen gegen Diplomaten, Folter19 mindestens die Zustimmung des Staates erforderlich sein, in dem sich der Beschuldigte befindet, sowie des Staates, auf dessen Territorium die Straftat begangen wurde. Hinzu käme noch die Zustimmung des Staates, der gegebenenfalls ein Auslieferungsersuchen gestellt hat. Schon dieser Zustimmungsmechanismus ist kompliziert. Viele Staaten, darunter auch die USA, fordern aber, daß außerdem jedenfalls der Staat, gegen den das Verbrechen gerichtet war oder der Opfer des Verbrechens geworden ist und gegebenenfalls auch der Staat, dessen Nationalität der Beschuldigte hat, zustimmen müssen. Weiterhin fordern die USA, daß jedenfalls bei Kriegsverbrechen immer das zuständige nationale Gericht Vorrang vor einem internationalen Gericht haben sollte.20 Damit soll sichergestellt werden, daß die Jurisdiktion des StIStGH nicht an die Stelle der nationalen Gerichtsbarkeit tritt, sondern nur ergänzend zu ihr tätig werden kann. Darüber hinaus bestreiten die USA nach wie vor, daß das Verbrechen der Aggression als individuelles strafrechtliches Verbrechen genügend definiert ist. Dahinter steckt im Grunde natürlich die Scheu zu akzeptieren, daß z.B. ein amerikanischer Präsident für militärische Aktionen wie die gegen Vietnam, Laos, Grenada oder Panama vor einen StIStGH gestellt werden könnte. Überhaupt sind die USA im Prinzip dagegen, daß jeder Staat den StIStGH wegen Kriegsverbrechen anrufen kann. Sie würden dieses Recht am liebsten nur dem Sicherheitsrat zugestehen, weil dann die Zuständigkeit des StIStGH für Kriegsverbrechen nie gegen das Veto eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrates begründet werden könnte.

Das Veto bleibt ein ernstes Hindernis

In Anlehnung an die Entstehungsgeschichte der ad hoc Gerichte räumt der Entwurf des Statuts für einen StIStGH dem Sicherheitsrat eine sehr fragwürdige Sonderstellung ein. Erstens kann der Sicherheitsrat, wenn der StIStGH einmal geschaffen ist, sich jederzeit dieses Gerichts bedienen und ihm eine Jurisdiktion für bestimmte Situationen oder Angelegenheiten erteilen. Er brauchte dann keine ad hoc Gerichte mehr zu schaffen, sondern könnte das gleiche über die Begründung einer ad hoc Jurisdiktion für einen bereits existierenden StIStGH erreichen und zwar selbst für Staaten, die das Statut des StIStGH nicht ratifiziert haben. Diese Variante hätte den Vorteil, daß man jedenfalls für Situationen, in denen das für notwendig gehalten wird, eine internationale Strafgerichtsbarkeit hätte, ohne von der Zustimmung des in die Verbrechen verwickelten Staates abhängig zu sein. Das Problem liegt darin, daß eine solche Entscheidung vom Sicherheitsrat im Rahmen eines Verfahrens gefällt wird, in dem jedem ständigen Mitglied ein Veto zusteht. D. h. niemals könnte durch den Sicherheitsrat eine Zuständigkeit des StIStGH begründet werden, wenn ein ständiges Mitglied sein Veto einlegt.

Die Idee, dem Sicherheitsrat für bestimmte internationale Verbrechen die Möglichkeit zu geben, eine Zuständigkeit des StIStGH ohne Zustimmung der unmittelbar betroffenen Staaten zu begründen, ist an sich gut. Sie wird sich jedoch nur dann als nützlich erweisen und eine Chance haben, durchgesetzt zu werden, wenn eine solche Entscheidung nicht dem Vetorecht unterliegt, sondern im Sicherheitsrat mit einfacher Mehrheit gefällt werden kann. Das wäre wirklich ein Fortschritt und würde den StIStGH von vornherein in eine starke Position im System der kollektiven Friedenssicherung versetzen. Leider sieht es z. Zt. nicht so aus, als gäbe es für eine solche Lösung gute Aussichten.

Der Entwurf sieht außerdem vor, daß eine Anklage vor dem StIStGH wegen des Verbrechens der Aggression nicht erhoben werden kann, solange der Sicherheitsrat nicht das Vorliegen einer Aggression festgestellt hat. Zusätzlich wurde auf Druck der USA sogar eine Regel aufgenommen, die dem StIStGH untersagt, Ermittlungen ohne Zustimmung des Sicherheitsrates aufzunehmen, solange eine Angelegenheit im Rahmen des Kapitels VII beim Sicherheitsrat anhängig ist. Zu Recht haben viele Staaten gegen eine solche Regelung Bedenken geäußert, weil damit der StIStGH in eine unmittelbare Abhängigkeit von der politischen Entscheidung eines Organs der UN kommt, noch dazu eine Entscheidung, die dem Veto unterliegt. D. h., eine solche Entscheidung wäre niemals gegen ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates denkbar. Der StIStGH käme damit in die gleiche mißliche Lage, in der die vom Sicherheitsrat eingesetzten ad hoc Gerichte sind. Sie sind Gerichte, die der Sicherheitsrat gegen andere eingerichtet hat, die er nie akzeptieren würde, wenn sie auch gegenüber den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates eine Zuständigkeit hätten. Die Aussichten, daß eine Mehrheit der Staaten, sich freiwillig unter eine Strafjustiz begibt, die auf einer institutionalisierten Ungleichheit und Diskriminierung von Mitgliedstaaten der UNO aufbaut, ist gering.

Auch im Zusammenhang mit Fragen wann eine Auslieferung an den StIStGH erfolgen muß und wann der StIStGH an ein Urteil eines nationalen Gerichts gebunden ist, entstehen ähnliche Probleme der Abgrenzung von nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit. Sie sind im Entwurf zugunsten des StIStGH geregelt. Diese Regelung, die sich an entsprechende Bestimmungen im Statut für das Jugoslawien-Tribunal anlehnt, findet aber noch keineswegs die Zustimmung aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates oder der Mehrheit der Staaten. Sie würde sehr weitreichende Eingriffe in die nationale Strafgerichtsbarkeit zur Folge haben.

Bislang war nur von prinzipiellen Fragen der Abgrenzung die Rede. Hinzu kommen aber viele praktische Fragen, die nicht weniger schwierig sind. Hierzu gehören die Voraussetzungen für die Aufnahme von Ermittlungsverfahren, die Kompetenzen der internationalen Staatsanwaltschaft, die Finanzierung des StIStGH, das Verfahren, insbesondere das Beweisrecht etc. In all diesen Fragen gibt es noch große Divergenzen zwischen den Staaten. Klar ist jedenfalls, daß ein Statut für einen StIStGH keine Chancen auf Annahme hat, wenn nicht zugleich die Verfahrens- und Beweisregeln wenigstens in ihren Grundzügen vorliegen. Das Beispiel der ad hoc Gerichte, die die Vollmacht hatten, ihre Verfahrens- und Beweisregeln selbst auszuarbeiten und zu beschließen, wird auf den StIStGH nicht übertragbar sein.

Bemerkenswert an der jüngsten Entwicklung ist, daß man sich plötzlich wieder auf Nürnberg beruft. Das war über mehr als 35 Jahre nicht üblich. Vielfach und vielerorts – nicht zuletzt in der Bundesrepublik – war Nürnberg durchaus als Siegerjustiz verpönt, die gegen das Rückwirkungsverbot für Strafgesetze verstoße.21 Freilich ist die Berufung auf Nürnberg noch sehr selektiv. Sie klammert das Verbrechen gegen den Frieden aus und versucht, die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit nur für einige internationale Verbrechen zu instrumentalisieren. Noch gibt es starke Kräfte, die zu verhindern suchen, daß ein internationales Strafgericht prinzipiell die Chance erhält, die Nürnberg hatte und auch wahrgenommen hat, nämlich in einem Strafprozeß gegen die Hauptschuldigen des Krieges, nicht nur einzelne Verbrechen abzuurteilen, sondern den kriminellen Charakter des Systems bloßzulegen, mit dessen Hilfe allein diese Verbrechen möglich waren und damit ein Stück staatlicher Verantwortlichkeit zu realisieren.

Trotz all der offenen Fragen ist es ein großer Fortschritt, an den vor fünf Jahren noch niemand geglaubt hätte, daß zum ersten Mal der Entwurf für einen StIStGH einer Staatenkonferenz vorgelegt wird, noch dazu ein Entwurf, der in vielen wichtigen Fragen auf den Nürnberger Prinzipien aufbaut. Es geht darum, einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen, der zu einem wichtigen Element der internationalen Sicherheit werden könnte und nicht für die politischen Zwecke eines Staates oder einer Staatengruppe manipuliert werden kann.

Literatur

Bassiouni, M. Cherif (1992): Crimes Against Humanity, in International Law, Dordrecht/Boston/London.

Hankel, Gerd /Gerhard Stuby (1995): Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg.

Heintschel v. Heinegg, Wolff (1996): Zur Zulässigkeit der Errichtung des Jugoslawien-Strafgerichtshofes durch Resolution 827 (1993), in: 9 Humanitäres Völkerrecht, S. 75.

Jescheck, Hans-Heinrich (1952): Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, Bonn.

Taylor, T. (1992): The Anatomy of the Nuremberg Trials, New York.

Triffterer, Otto (1994): Möglichkeiten und Grenzen des internationalen Tribunals zur Verfolgung der Humanitätsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, ÖJZ, S. 825.

Anmerkungen

1) Resolution der Generalversammlung 51/207 vom 17.12.1996. Zurück

2) Resolution des Sicherheitsrates 827 vom 25. Mai 1993, dt. Text des Statuts in: G. Hankel/G. Stuby, Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg 1995, S. 525. Zurück

3) Resolution des Sicherheitsrates 955 vom 8. November 1994. Zurück

4) Daran erinnern heute Aussprüche von Politikern, die den Besitz von Kernwaffen als Kriterium der Souveränität bezeichnen. Zurück

5) Lüder in Holtzendorffs Handbuch des Völkerrechts, Hamburg 1889, S. 198 f.; vgl. Liszt-Fleischmann, Das Völkerrecht, Berlin 1925, S. 466. Zurück

6) Vgl. zu dieser Periode H-H. Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerrecht, Bonn 1952, S. 29 ff. Zurück

7) Deutscher Text der Deklaration über die Prinzipien des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, in: Völkerrecht, Dokumente Teil 3 Berlin 1980, S.709. Zurück

8) Vgl. die Dokumentation in: Internationaler Militärgerichtshof in Nürnberg, Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Nürnberg 1947, Bd. I S. 7 ff. Andere Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen wurden aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 und landesrechtlicher Strafbestimmungen verfolgt. Zurück

9) Während in Nürnberg nur die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion die Richter stellten, gehörten in Tokyo auch Richter aus Australien, China, Kanada, den Niederlanden, Neuseeland und den Philippinen dem Gericht an. Zurück

10) Wenn man von Martin Bormann absieht, der in Abwesenheit verurteilt wurde. Vgl. das Nürnberger Urteil in: Internationaler Militärgerichtshof in Nürnberg, Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. I, Nürnberg 1947, S. 189. Zurück

11) Vgl. Principles of International Law Recognized in the Charter of the Nürnberg Tribunal and in the Judgment of the Tribunal, in: The Work of the International Law Commission, New York 1988, S. 140. Zurück

12) Report of the International Law Commission 48th Session 1996, in Official Records of the General Assembly, A/51/10, Chapter II. Zurück

13) Report of the International Law Commission 46th Session 1994, in Official Records of the General Assembly, A/49/10, Chapter II, B I,5. Auch bei der Ausarbeitung des Statuts für das Jugoslawientribunal waren die Nürnberger Prinzipien eine wesentliche Grundlage, vgl. den Bericht des Generalsekretärs in: S/25704 vom 3. Mai 1993. Zurück

14) Inter-American Court of Human Rights: Advisory Opinion on International Responsibility for the Promulgation and Enforcement of Laws in Violation of the American Convention on Human Rights, in: 34 International Legal Materials (1995) 1188 (1201). Zurück

15) Vgl. den Text in: Report of the International Law Commission 43rd Session, Official Documents of the General Assembly A/46/10, Chapter IV. Zurück

16) Vgl. Anm. 12. Zurück

17) Seine enge Beziehung zu den Vereinten Nationen sollte durch besondere Vereinbarungen oder Regeln gesichert werden. Zurück

18) Dabei beruft man sich darauf, daß bereits in der Völkermord-Konvention die Möglichkeit eines Internationalen Strafgerichtshofes ins Auge gefaßt wird. Ein wenig überzeugendes Argument, das auch von vielen Staaten in Zweifel gezogen wird. Zurück

19) Vgl. A/49/10, S. 66 ff., die Artikel 20, 21, 22 sowie die Liste der in Betracht kommenden Verträge im annex II, S. 147. Zurück

20) Vgl. die ausführlichen Stellungnahmen der USA in: A/CN. 4/458/Add. 7 vom 24. Juni 1994 S. 20 und A/AC. 244/1 Add. 2 vom 31. März 1955, S. 7. Zurück

21) Aus diesem Grunde hat die Bundesrepublik einen Vorbehalt gegen Artikel 7, Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention geltend gemacht, der die Verurteilung von Personen für Handlungen nicht ausschließt, die im Zeitpunkt ihrer Begehung zwar nicht nach Landesrecht, wohl aber nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren. Es wurde erklärt, daß diese Regelung mit Art. 103 Abs. 2 des GG unvereinbar sei.(Bulletin 1952,S. 1022) In seinem Beschluß vom 26. Oktober 1996 hat das BVerfG die Beschwerde über eine Verletzung des Rückwirkungsverbotes des ehemaligen DDR-Verteidigungsministers u. A. zurückgewiesen. Darin wird die Aufhebung des Rückwirkungsverbotes gerechtfertigt, wenn die Handlungen gegen allgemein anerkannte Menschenrechte in schwerwiegender Weise verstoßen. Damit geht das BVerfG weit über das hinaus, was aufgrund des Artikels 7, Abs. 2 der Menschenrechtskonvention gerechtfertigt werden könnte, ohne den Vorbehalt der Bundesrepublik zu Artikel 7 Absatz 2 auch nur zu erwähnen. Diese Rechtsprechung verstößt sowohl gegen Artikel 7, wie auch gegen Artikel 15 Abs. 1 des Paktes über politische und Bürgerrechte der UN. Zurück

Prof. em. Dr. Bernhard Graefrath lehrte Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war von 1986 bis 1991 Mitglied der UN-Völkerrechtskommission.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1997/1 Neben-einander – Gegen-einander – Mit-einander, Seite