W&F 2020/1

50 Jahre NVV

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag – (k)eine Erfolgsgeschichte?

von Rebecca Johnson

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) gilt als »Eckpfeiler« des Völkerrechts in puncto Atomwaffen. Er wurde 1968 vereinbart und trat nach der Ratifizierung durch die USA, das Vereinigte Königreich und die Sowjetunion sowie 40 weitere Staaten 1970 in Kraft. Damals gab es fünf Atomwaffenstaaten mit etwa 40.000 Atomwaffen, die meisten in den Arsenalen der Sowjetunion und der USA. Heute, fünfzig Jahre später, hat der Vertrag mit 191 Mitgliedstaaten fast universelle Gültigkeit erlangt1 und die Zahl der Atomwaffen ist unter 14.000 gesunken. Lässt sich das als Erfolgsgeschichte bezeichnen, auch wenn es jetzt neun Atomwaffenstaaten gibt? Dazu gibt es ganz unterschiedliche Einschätzungen, die bei der nächsten Überprüfungskonferenz von 27. April bis 22. Mai 2020 in New York aufeinanderprallen werden.

Als die USA, die Sowjetunion und 15 weitere Länder 1965 beschlossen, einen Vertrag auszuarbeiten, der die Verbreitung von Atomwaffen in immer mehr Länder verhindern soll, stand im Raum, dass ohne völkerrechtliche Regelung bald einige Dutzend Staaten in den Besitz von Atomwaffen gelangen könnten. Auch Deutschland schien – nur 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – Ambitionen auf ein eigenes Atomwaffenprogramm zu haben. Der Stopp dieses Trends lässt sich durchaus auf der Habenseite des NVV verbuchen, auch wenn neun Atomwaffenstaaten fast doppelt so viele sind wie 1970. Allerdings kommen faktisch fünf weitere Staaten hinzu, da im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« US-Atomwaffen in fünf NATO-Mitgliedstaaten stationiert sind. Diese Rechtslücke ist eine von mehreren Hinterlassenschaften aus der Entstehungszeit des Vertrages, dem Kalten Krieg. Die nukleare Teilhabe wird von Russland und von Blockfreien Staaten häufig kritisiert. Die NATO argumentiert hingegen, die USA würden die Kontrolle über diese Atomwaffen nur im Kriegsfall an Piloten anderer Länder übertragen, und im Kriegsfalle verlöre der NVV ohnehin seine Gültigkeit. Dieser Zirkelschluss ist nur möglich, weil der Vertrag weder für alle Mitgliedstaaten einheitliche Regeln definiert noch den Einsatz von Atomwaffen untersagt, wie das im Humanitären Völkerrecht sonst üblich ist.

Stärken und Schwächen des Nichtverbreitungsvertrags

Der NVV umfasst nur elf Artikel und regelt im Wesentlichen drei Bereiche:

  • Die damals fünf Atomwaffenstaaten (China, Frankreich, Sowjetunion [Russland], Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten) werden als solche akzeptiert (Artikel IX-3), dürfen ihre Atomwaffen aber nicht weitergeben (Artikel I); die Nicht-Atomwaffenstaaten verzichten auf die Annahme und den Besitz von Atomwaffen (Artikel II).
  • Allen Mitgliedstaaten wird das „unveräußerliche Recht“ auf „die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke“ zugestanden (Artikel IV), obwohl schon damals absehbar war, dass die zivile und die militärische Nutzung von Kernenergie nicht sauber voneinander zu trennen sind. Im Gegenzug verpflichten sich die Nichtatomwaffenstaaten, Sicherungsmaßnahmen nach Maßstäben der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zuzulassen, „damit verhindert wird, dass Kernenergie von der friedlichen Nutzung abgezweigt und für Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper verwendet wird“ (Artikel III). Die Befugnisse der IAEO sind im Wesentlichen auf die Überwachung der waffentauglichen Spaltmaterialien begrenzt.
  • Alle Mitgliedstaaten verpflichten sich, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung (Artikel VI).

Nicht verboten wird den Atomwaffenstaaten (im Folgenden NVV5) der Besitz, die Herstellung oder der Einsatz von Atomwaffen, obwohl in der Präambel betont wird, der Vertrag habe die „Abwendung der Gefahr eines [nuklearen] Krieges“ zum Ziel.

Was heißt das in Bezug auf Sicherheit?

Im vergangenen Jahrzehnt zeigten Klima­forscher auf, dass der Einsatz von 100 Atomwaffen von der Größe der Hiroshima-Bombe außer zu immenser Zerstörung, menschlichem Leid und radioaktiver Verseuchung der Umwelt auch zu einem nuklearen Winter und einer weit verbreiteten Hungersnot führen würde (siehe dazu den Text von Jürgen Scheffran auf S. 13). Der NVV konnte die elementaren Ziele – Sicherheit, Nichtverbreitung und Abrüstung – nur bedingt erreichen, da er den NVV5 einen Sonderstatus zuschreibt; diese räumen Atomwaffen in ihrer jeweiligen Sicherheitspolitik nach wie vor einen hohen Stellenwert ein. Solange die NVV5 Tausende Atomwaffen unterhalten und neue, leistungsfähigere Sprengköpfe und Trägersysteme bauen, untergraben sie die Rolle und die Glaubwürdigkeit des NVV als Nichtverbreitungs- und Abrüstungsvertrag.

Das ist dennoch kein Grund, den NVV abzuschreiben, sondern sollte Anlass sein, ihn zu stärken. Trotz der genannten Schwächen, die sich aus seiner Entstehungsgeschichte, seiner strukturellen Widersprüche und den gegensätzlichen politischen Zielsetzungen seiner Mitgliedstaaten ergeben, leistet der Vertrag einen wesentlichen Beitrag zur internationalen Sicherheit: Er ist Eckpfeiler eines viel umfassenderen Nichtverbreitungsregimes, das ein ganzes Bündel von Abkommen, Rechtsinstrumenten und Institutionen einschließt und flexibel genug ist, um auf sich wandelnde geopolitische Verhältnisse und Bedürfnisse zu reagieren. Genauso wichtig ist die unbestrittene Tatsache, dass die überwältigende Anzahl von Mitgliederstaaten den Vertrag fraglos einhält und keine Atomwaffen anstrebt.

Die in der Präambel des NVV formu­lierten Ziele waren u.a. Grundlage für den »Vertrag über das umfassende Verbot von Atomtests« (im Folgenden »Test­stoppabkommen«) von 1996 und den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« (im Folgenden »Verbotsvertrag«) von 2017. Beide Verträge sind von höchster Bedeutung, aber umstritten.

Eine Handvoll Staaten, die Atomwaffen besitzen oder bauen können, weigern sich, das Teststoppabkommen zu ratifizieren, weshalb seine Rechtskraft vorläufig eingeschränkt bleibt. Dabei hat die Implementierungsorganisation in Wien bereits ein eindrucksvolles Überwachungssystem aufgebaut, das auch weitergehenden humanitären und Sicherheitsbelangen gerecht wird (z.B. Detek­tion von Erdbeben oder Atomkraftwerksunfällen) und nach Inkraft­treten des Verbotsvertrags eine noch weitergehende Rolle bei der Abrüstung und Verifikation spielen kann.

Der Verbotsvertrag, der alle Aktivitäten im Zusammenhang mit Erwerb, Einsatz, Besitz und Herstellung von Atomwaffen verbietet und ihre vollständige Beseitigung vorschreibt, wurde so formuliert, dass er die meisten, wenn nicht alle wesentlichen Lücken des NVV schließt. Bei den Verhandlungen wurden aus den bisherigen Verträgen, einschließlich dem NVV und dem Teststoppabkommen, Lehren gezogen: Der neue Vertrag wurde als Übereinkommen im Rahmen des Humanitären Völkerrechts konzipiert. Er umfasst klare, universell gültige Verbote und Gebote sowie anpassungsfähige Regeln, auf die noch auszuhandelnde Regularien zur Umsetzung, Durchsetzung und Verifikation aufsetzen können. Für das Inkrafttreten müssen 50 Staaten dem Vertrag beitreten; Zweidrittel der nötigen Ratifizierungsurkunden wurden bereits hinterlegt.

Die Atomwaffenstaaten und praktisch alle NATO-Verbündeten hatten die Vertragsverhandlungen boykottiert, meist mit dem Argument, ein Verbotsvertrag würde den NVV untergraben. Dieser Vorwurf zieht aber nicht, da der Verbotsvertrag ausdrücklich auf die „entscheidende Rolle“ des NVV „bei der Förderung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ verweist.

Versagen im Nahen und Mittleren Osten

Der NVV sieht ausdrücklich vor, dass sich Staaten zu atomwaffenfreien Zonen zusammenschließen können; auch das trug zu seinem Erfolg bei. Inzwischen erstrecken sich atomwaffenfreie Zonen über die gesamte südliche und beträchtliche Teile der nördlichen Hemisphäre.

Im Kontext des NVV bereitet der Nahe und Mittlere Osten die größten Sorgen. Bei der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des NVV im Jahr 19952 wurde erst dann ein Konsens über die unbefristete Verlängerung erzielt, als alle Mitgliedstaaten u.a. einer Resolution zustimmten, die zur Schaffung einer »Zone frei von Atomwaffen und sonstigen Massenvernichtungswaffen im Nahen und Mittleren Osten« aufrief. Dieses Thema war seither alle fünf Jahre bei den Überprüfungskonferenzen von zentraler Bedeutung; aufgrund fehlender Fortschritte in diesem Bereich scheiterten die Konferenzen 2005 und 2015. Das kann auch bei der Überprüfungskonferenz 2020 passieren.

Der Nahe und Mittlere Osten ist von Kriegen sowie von politischen und Sicherheitsproblemen geplagt; dazu gehören u.a. der Besitz von Atomwaffen durch Israel und der Einsatz von Chemiewaffen durch andere Länder der Region. Diese Gemengelage lässt sich nicht einfach auflösen. Solange es aber keine Fortschritte dabei gibt, diese Re­gion von allen Atomwaffen zu befreien, bleibt die Glaubwürdigkeit des gesamten Nichtverbreitungsregimes beeinträchtigt. Nicht hilfreich sind in dieser Situation die konkurrierenden militärisch-industriellen Interessen anderer Staaten, insbesondere der USA und Russlands, im Nahen und Mittleren Osten. Dies macht sich bei den Überprüfungskonferenzen des NVV ebenso wie in anderen Zusammenhängen bemerkbar.

Positiv wirkt sich im Nahen und Mittleren Osten aus, dass das Nichtverbreitungsregime inzwischen um etliche Abkommen zur Sicherung von Nuklearmaterialien und zum Handel mit kerntechnischen Gütern ergänzt wurde. Resolution 1540 des UN-Sicherheitsrates von 2004 weitet den Wirkungsbereich von (nationalen) Nichtverbreitungsgesetzen und -institutionen auf Aktivitäten nichtstaatlicher Akteure aus. Anfangs war dieser Ansatz umstritten, nun wurde beim UN-Sicherheitsrat aber das »1540-Komitee« eingerichtet, das sich gezielt mit der Umsetzung dieser Resolution befasst.

Das 2015 von Iran, den Vereinigten Staaten, China, Russland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Deutschland und der Europäischen Union vereinbarte »Iranabkommen« wurde zu Recht als erhebliche Schärfung des Nichtverbreitungsregimes begrüßt. Seither ist viel passiert: Präsident Trump ordnete den Rückzug der USA von dem Abkommen an; die iranische Regierung entschied daraufhin, das Urananreicherungsprogramm wieder zu intensivieren und andere Beschränkungen des Nuklearabkommens nicht länger einzuhalten; der iranische General Soleimani wurde von einer US-Drohne ermordet, was zu einer militärisch-politischen Krise führte. Welche Gefahr solche Konfliktsituationen bergen, wurde nur allzu deutlich, als die iranischen Revolutionsgarden in der Nähe des Teheraner Flughafens versehentlich ein ukrainisches Passagierflugzeug abschossen und den Tod von 176 Zivilist*innen verursachten. Das Thema Iran wird im April und Mai in New York ein zentraler Streitpunkt sein.

Die Überprüfungskonferenz 2020 in New York

Der Wert eines Vertrags misst sich an seiner politischen Relevanz, normativen Wirksamkeit und Vertragstreue. Der NVV schneidet relativ gut ab in puncto politischem und normativem Wert. Die mangelnden Abrüstungsbemühungen und die proliferationsträchtigen Aktivitäten der Atomwaffenstaaten werden aber regelmäßig kleingeredet.

Wenn sich Ende April 2020 im UN-Hauptquartier in New York die Vertreter*innen der 191 NVV-Mitgliedstaaten treffen, müssen sie die negativen wie die positiven Entwicklungen unter die Lupe nehmen. Ganz oben auf der Tagesordnung werden die Abrüstungsverpflichtungen stehen, die sich aus Artikel VI des Vertrags ergeben. Die atomwaffenfreien Staaten und zivilgesellschaftlichen Organisationen wiesen im letzten Jahrzehnt verstärkt auf die Auswirkungen von Atomwaffen und die humanitären Folgen eines Einsatzes sowie auf die Gefahr von Missverständnissen, Unfällen und Fehleinschätzungen hin (zu diesem Punkt siehe den Text von Karl Hans Bläsius auf S. 10 dieser W&F-Ausgabe) und untermauerten damit ihre Argumente gegen Atomwaffen.

Es reicht nicht aus, wenn die Diplomat*innen Erfolg oder Misserfolg der Überprüfungskonferenz 2020 daran messen, ob sie einen Konsens über ein Abschlussdokument erzielen können. Die Geschichte des NVV zeigt paradoxerweise, dass ein »erfolgreicher« Konferenzabschluss nicht automatisch echte Fortschritte bei der Abrüstung und der Nichtverbreitung in der Welt außerhalb des Konferenzsaals mit sich bringt.

  • Die Verlängerung des Vertrags auf unbegrenzte Zeit im Jahr 1995 schwächte das Vertragsregime eher, da die NVV5 den Eindruck bekamen, sie könnten ihre Atomwaffenarsenale auf unbegrenzte Zeit aufrecht erhalten.
  • Die eindrucksvolle Liste von »13 Schritten« zur Abrüstung und Nichtverbreitung, die am Ende der Konferenz 2000 stand, war von vielen Staaten ernsthaft gewollt. Dann aber verwarfen zunächst die USA und in ihrer Folge die anderen NVV5-Staaten diese hart erkämpften Abrüstungsschritte, und die Konferenz 2005 scheiterte grandios.
  • 2010 gab es eine Einigung auf deutlich schwächere »Aktionspunkte«, die vor allem von den NVV5 gleich wieder miss­achtet oder untergraben wurden. Der wichtigste »Erfolg« von 2010 war die Zusage, in Kürze eine Regionalkonferenz über eine »Zone frei von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen im Nahen und Mittleren Osten« abzuhalten. Die Konferenz kam nicht zustande, was zum Scheitern der Überprüfungskonferenz 2015 beitrug.

Je nach politischen Vorgaben der einzelnen Staaten an ihre Diplomat*innen werden die Diskussionen bei der Überprüfungskonferenz 2020 von Belang sein – oder belanglos. Ein positives Signal wäre es, die weiterführenden Schritte von 2000 und 2010 mit Nachdruck wieder aufzugreifen. Einige weitere Faktoren könnten tatsächlich zu einer rascheren Abrüstung beitragen und den vermeintlichen Wert und Status von Atomwaffen verringern:

  • das Inkrafttreten des Verbotsvertrages sowie des Teststoppabkommens,
  • konkrete Maßnahmen zur Verhinderung eines Atomwaffeneinsatzes sowie
  • ein Ende der Aktivitäten, die die Demontage von Abrüstungsverträgen und -verpflichtungen bewirken.

Das funktioniert aber nur, wenn die Schritte von allen Parteien, einschließlich der NVV5, ernst genommen und in reale Politik überführt werden.

Anmerkungen

1) Nicht Vertragsmitglied sind die faktischen Atomwaffenstaaten Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan. Ebenfalls noch nicht beigetreten ist der neu geschaffene und jeglicher Atomwaffenaktivitäten unverdächtige Staat Südsudan. Die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete den Vertrag kurz nach Amtsantritt von Bundeskanzler Willy Brandt am 28.11.1969. Die Ratifizierung erfolgt wenige Tage vor der ersten Überprüfungskonferenz am 2. Mai 1975. [die Übersetzerin]

2) Der NVV war ursprünglich auf 25 Jahre befristet (Artikel X). [die Übersetzerin]

Dr. Rebecca Johnson ist feministische Friedensaktivistin, Mitbegründerin der International Campaign to Abolish ­Nuclear Weapons (ICAN), Sprecherin der Green Party von England und Wales für Sicherheit, Frieden und Verteidigung und Gründungsdirektorin des Acronym Institute (acronym.org.uk).

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/1 Atomwaffen – Schrecken ohne Ende?, Seite 28–30