A long time coming
Klimawandel und humanitäre Herausforderungen
von Andrea Steinke
Der Klimawandel betrifft das gesamte planetare System und wird den humanitären Sektor in seinen Grundfesten erschüttern. Auch auf der humanitären Seite sind Veränderungen notwendig: in der Art und Weise, wie humanitäre Organisationen ihre Einsätze planen und durchführen, in den Grundsätzen, die den normativen Handlungsrahmen bilden, und in dem Mandat, das den Umfang der Intervention mit Blick auf das Schicksal der von Krisen betroffenen Menschen bestimmt. »Skilling-up«, »Scaling-up« und »Futuring-up« sind mögliche Wege für die Humanitären, um den enormen Herausforderungen zu begegnen.
Das Ausmaß der potenziellen humanitären Herausforderung, die der Klimawandel in Zukunft darstellen wird, ist enorm. Dies ist ein entscheidender Moment, um sicherzustellen, dass die Herausforderung nicht unüberwindbar und menschliches Leid minimiert wird“ (IASC 2009, in Herbeck 2013).
Dieses Zitat des »Interagency Standing Committee« (IASC) ist mittlerweile eineinhalb Jahrzehnte alt. Ähnliche Forderungen werden auch heute von Humanitären formuliert. Ganz offenkundig ist dieser entscheidende Moment für die Bewältigung der Herausforderung des Klimawandels und seiner Auswirkungen auf die humanitäre Hilfe längst verstrichen. Jede weitere Verzögerung einer konzertierten Aktion, so heißt es im jüngsten Bericht des »Intergovernmental Panel on Climate Change« (IPCC), würde bedeuten, ein kurzes und sich rasch schließendes Zeitfenster zu verpassen, um noch eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft zu sichern (Pförtner et al. 2022).
Die Herausforderungen, die sich aus der Eskalationsdynamik ergeben, machen es erforderlich, dass sich die Arbeitsweise der humanitären Hilfe ändert. Andernfalls wird sich das humanitäre System bis zur Erschöpfung überarbeiten und schließlich – wenn die Not so überwältigend ist, dass die Humanitären keine brauchbaren Antworten mehr liefern können – in die Bedeutungslosigkeit rutschen. Schon jetzt steigt der Bedarf an humanitärer Hilfe sprunghaft an, vor allem als Folge von Konflikten und Naturkatastrophen. Derzeit sind 339 Mio. Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen (UN OCHA 2022).
Einige aktuelle Schätzungen zur Vertreibung aufgrund klimatischer Bedingungen gehen davon aus, dass bei den derzeitigen Treibhausgasemissionen bis 2070, also in 50 Jahren, bis zu 3,5 Mrd. Menschen aus dann unbewohnbaren Regionen mit Jahresmitteltemperaturen über 29 Grad umziehen müssen (Xu et al. 2020). Im Jahr 2022 sind bereits 100 Mio. Menschen infolge des Klimawandels und daraus resultierenden Konflikten vertrieben worden. Allein in der Sahelzone wurden fünf Millionen Menschen vertrieben, davon drei Millionen innerhalb ihres Landes.
Die komplizierte Beziehung zwischen dem Klimawandel und Konflikten ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen (Mena et al. 2022). Aufgrund der Multikausalität von Gewalt gibt es nur schwache Belege für einen monokausalen Zusammenhang zwischen beiden. Die meisten Untersuchungen kommen jedoch zu dem Schluss, dass der Klimawandel Konflikte indirekt beeinflusst und Risiken und Bedrohungen vervielfacht. Es wird davon ausgegangen, dass die Auswirkungen des Klimawandels in alle Bereiche des menschlichen und nichtmenschlichen Lebens hineinreichen. Der Klimawandel verstärkt bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten und andere wirtschaftliche, soziale und politische Risikofaktoren, die sich negativ auf die Fähigkeiten von Gesellschaften und Akteuren auswirken, gewaltsame Konflikte sowohl zu vermeiden als auch sie zu schlichten.
Aus humanitärer Sicht ist dies besonders relevant, da 80 % des gesamten humanitären Bedarfs bereits auf gewaltsame Konflikte zurückzuführen ist (World Bank Group 2022). UN-Organisationen gehen davon aus, dass der Klimawandel diese Situation weiter verschärfen wird (UN OCHA 2016). Dies erfordert eine genauere Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Klimawandel und Konflikten, und zwar aus und durch die humanitäre Brille. Als diejenigen, die damit beauftragt sind, mit den Folgen von Klimawandel und Konflikten umzugehen, können humanitäre Organisationen brauchbare Evidenzen dafür liefern.
Trotz der enormen Herausforderungen sind das humanitäre System insgesamt und die humanitären Organisationen im Besonderen finanziell, technisch und kapazitär nicht auf die Klimakrise und ihre konfliktträchtigen und gewalttätigen Auswirkungen vorbereitet und ausgerüstet. »Scaling-up« – die Anpassung des Umfangs der humanitären Maßnahmen an den prognostizierten Bedarf – und »Skilling-up« – die Anpassung der für eine angemessene Reaktion erforderlichen Kapazitäten und Qualifikationen – sind die beiden zentralen Paradigmen der humanitären Zukunft. Es gibt Rufe nach einem „neuen Humanitarismus“ (Marin und Naess 2017) oder sogar einem „Klima-Humanitarismus“ (Slim 2021). Es bedarf eines Wandels (1) in der Art und Weise, wie humanitäre Organisationen ihre Operationen planen und durchführen, darin, wie sie sich an das neue, weitgehend schädliche Klima anpassen sowie in der Abschwächung seiner Auswirkungen, (2) in Bezug auf die Normen und Grundsätze, die die Grundlage der humanitären Arbeit bilden, sowie (3) in Bezug auf das humanitäre Mandat und seine Grenzen, insbesondere in Anbetracht des in der Projektlogik verankerten kurzfristigen Denkens.
Praktiken
Die operative Ebene der humanitären Hilfe scheint der konkreteste Bereich zu sein, in dem die notwendigen Veränderungen stattfinden müssen. In den letzten Jahren wurde viel in Bewegung gesetzt, vor allem im Bereich der Vorausschau (»Foresight«) und Antizipation. Der humanitäre Sektor hat sich darum bemüht, seinen Schwerpunkt teilweise von reaktiven auf präventive Arbeitsweisen zu verlagern (Marin und Naess 2017). Vorangegangene Diskussionen und Konzeptualisierungen im Zusammenhang mit Vulnerabilität, Resilienz und Katastrophenvorsorge bildeten die Grundlage dafür.
Antizipierende Maßnahmen sind ein Bündel von Aktivitäten, das aus drei grundlegenden Elementen besteht: Auslöser (»Trigger«), Standardprozeduren für frühzeitiges Handeln und vorhersagegestützte Finanzierung. Antizipierende Maßnahmen stellen zwar eine der vielversprechendsten innovativen Praktiken und Beispiele für »Up-Skilling« der jüngsten Vergangenheit dar, können aber nur ein Mechanismus in einem ganz neuen Werkzeugkasten sein, der zur Bewältigung des Klimawandels erforderlich sein wird.
Darüber hinaus ist die zunehmende Übertragung von »Early Warning«- und »Early Action«-Systemen auf lokale Strukturen eine Möglichkeit zur Verwirklichung der politischen Ziele, die unter »Lokalisierung der humanitären Hilfe« zusammengefasst werden. Dies kann ein Weg zu mehr Gleichheit, Aneignung (»Ownership«) und Beteiligung bei der Bewältigung humanitärer Krisen im Allgemeinen sein und auch eine Möglichkeit, den ökologischen Fußabdruck humanitärer Organisationen zu verringern. Das »Global Network of Civil Society Organisations for Disaster Reduction« (GNDR) hat vor kurzem einen Aufruf an Entscheidungsträger*innen gerichtet, die für lokal verankerte antizipierende Maßnahmen erforderlichen Strukturen auszubauen und zu ermöglichen (GNDR 2023).
Leider tragen auch die humanitären Organisationen durch ihre Praxis zu den globalen Treibhausgasemissionen bei. Daher ist eine ökologische Ausrichtung der organisationellen Prozesse erforderlich. Viele Organisationen haben bereits Vorschriften erlassen, um den ökologischen Fußabdruck der von ihnen geleisteten Hilfe zu reduzieren, indem sie die Reisetätigkeit einschränken, den unnötigen Import von Ressourcen einschränken, nicht in schädliche Energieerzeugung investieren, aber auch auf die Sekundäremissionen durch Finanzströme und Investitionen achten.
Der operative Bereich ist auch derjenige, in dem die organisatorischen Hürden für den Wandel am deutlichsten zutage treten. Zu den Hemmnissen, die den für die Bewältigung des Klimawandels erforderlichen Wandel behindern, gehören Veränderungsmüdigkeit, eine gewisse Trägheit des Systems und der es repräsentierenden Fachleute, Personalmangel und Personalfluktuation, mangelnde Klimakompetenz, »Silos« innerhalb der Organisationen – insbesondere zwischen humanitären und Entwicklungsabteilungen –, finanzielle Abhängigkeiten sowie ineffektive und exklusive Entscheidungsprozesse und Führungsqualitäten. Da die künftigen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Klimakrise voraussichtlich sektorübergreifend sein und das Ausmaß vergangener Krisen überschreiten werden, kann die Bedeutung der organisationellen Bereitschaft (»Readiness«) des humanitären Sektors nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Normen
Es gibt vier wesentliche Prinzipien, die allen humanitären Interventionen zugrunde liegen. Jede dieser normativen Dimensionen muss genau untersucht werden.
Humanität – Schutz von Leben und Gesundheit und Achtung vor dem Menschen
Es gibt Diskussionen, die eine Ausweitung des obersten humanitären Grundsatzes auf andere Bereiche befürworten, die ursprünglich bei der Formulierung der humanitären Grundsätze nicht berücksichtigt wurden (Slim 2022). Demnach erfordert die Klimakrise die Anerkennung, dass nicht-menschliches Leben, einschließlich allen Lebens auf dem Planeten, für das Überleben des Planeten von entscheidender Bedeutung ist (siehe Krohn in dieser Ausgabe, S. 14ff.). Der Klimaforscher Rockström betont, dass die Welt nicht nur eine Klimakrise, sondern eine planetare Krise durchlebt (PIK 2023). Das Konzept der »planetaren Gesundheit« ist einer der bereits erfolgten Schlüsse. Investitionen in den Erhalt von Ökosystemen und den Schutz der biologischen Vielfalt sind der Schlüssel zur Wahrung des Grundsatzes der Menschlichkeit, da „der Zweck humanitärer Maßnahmen darin besteht, Leben und Gesundheit zu schützen und die Achtung vor dem Menschen zu gewährleisten“, gemäß der Definition des Prinzips der Menschlichkeit (UN OCHA 2012).
Unparteilichkeit – nur die Bedürftigkeit entscheidet
Potenzielle Kompromisse am und Herausforderungen für das Prinzip der Unparteilichkeit bestanden schon lange vor den derzeitigen schädlichen Dynamiken, die durch den Klimawandel hervorgerufen werden. Doch der für die nahe Zukunft prognostizierte globale Bedarfsüberhang infolge des Klimawandels bringt den humanitären Grundsatz der Unparteilichkeit weiter in Bedrängnis. Wenn der Bedarf überwältigend ist und die Ressourcen und Finanzmittel knapp sind, wird es immer schwieriger, die Hilfeleistung allein auf die Bedürftigkeit zu stützen. Es gibt bereits Initiativen, die versuchen den Klimawandel in die Gleichung der humanitären Bedürfnisse einzubeziehen, wie der »INFORM Climate Change Risk Index« und der »Children’s Climate Risk Index«.
Eine „Quantifizierung der Bedürftigkeit“ (Glasman 2020) für klimabedingte Notfälle, analog zur integrierten Klassifizierung der Ernährungssicherheit (»Integrated Food Security Phase Classification«, IPC) in Fällen der Unterernährung, könnte eine Möglichkeit sein, das humanitäre Grundprinzip der Unparteilichkeit zu wahren. Darüber hinaus könnten bereits bestehende Klassifizierungsstandards wie die IPC-Skala überprüft und um die Auswirkungen des Klimawandels erweitert werden. Wie sich die verschiedenen Formen der Klassifizierung zueinander verhalten werden, einschließlich der jeweiligen Hierarchisierung zwischen ihnen, ist noch offen.
Neutralität – nicht Partei ergreifen oder sich an Kontroversen beteiligen
Der Verzicht auf die Parteinahme in Kontroversen politischer oder ideologischer Natur ist die Hauptforderung, die im Neutralitätsprinzip formuliert ist. Die Frage der Klimagerechtigkeit kann als eine solche Kontroverse verstanden werden. Die wissenschaftliche Beweislage ist eindeutig: Diejenigen, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, müssen den höchsten Preis zahlen und zwar in Form des Verlusts von Leben, Ressourcen und Infrastruktur und des Verlusts einer lebenswerten Zukunft. Die räumliche Verteilung von Umweltrisiken spiegelt die historisch bedingte ungleiche Verteilung des Zugangs zu Macht, Kapital und Stätten der Wissensproduktion wider. Oft ist es genau diese Kluft, in der sich humanitäre Maßnahmen bewegen. Wie andere Forderungen nach Gerechtigkeit sind auch Ansätze der Klimagerechtigkeit explizit politische Ansätze, die zu Spannungen mit dogmatischen Neutralitätsverständnissen führen können. Dennoch plädieren einige Expert*innen im Nothilfesektor dafür, dass Nothilfe, Klimawissenschaft und Klimaaktivismus ihre Kräfte bündeln und Allianzen bilden sollten, wobei die notwendigen internen Reflexionsprozesse noch ausstehen (Herbeck 2013; Söderberg und Clarke 2022).
Die letzte Konferenz der Vertragsparteien des UN-Rahmenübereinkommens zu Klimaveränderungen (COP) im November 2022 blieb in vielerlei Hinsicht hinter den Erwartungen zurück, insbesondere was die Abschwächung des Klimawandels (»mitigation«) betrifft, wurde aber dafür gelobt, dass immerhin Fortschritte mit der Einrichtung einer Fondsinfrastruktur für Ausgleichsprozesse (»Loss and Damage«) erzielt wurden. Auch wenn die Einzelheiten der Funktionsweise des Fonds für Schäden und Verluste noch zu klären sind, wird die Einrichtung selbst als Erfolg gewertet, nach vielen Jahren der Diskussionen und der Forderungen seitens der Länder, die bereits vom Klimawandel betroffen sind. Damit der Fonds über den technischen Austausch hinaus zu einem Mechanismus heranwächst, der einer gerechten Kostenverteilung nahekommt und mit den Ansprüchen der Klimagerechtigkeit in Einklang gebracht werden kann, werden weitere intensive Verhandlungen erforderlich sein. Diese Diskussionen könnten von zusätzlichen untermauernden Evidenzen durch humanitäre Organisationen profitieren.
Unabhängigkeit – von politischen Zielen
Einige der größten Geber von humanitärer Hilfe sind auch die größten Verursacher von Treibhausgasemissionen. Zum Beispiel Deutschland: Die größte Volkswirtschaft der EU ist nicht nur der zweitgrößte humanitäre Geber weltweit (Hövelmann und Südhoff 2022), sondern leistet auch den größten Beitrag zur WHO und zur zivilen Krisenprävention (GPPI 2021). Auf der anderen Seite ist Deutschland für die meisten Treibhausgasemissionen in der EU verantwortlich, sowohl bei historisch kumulierter, jährlicher als auch bei einer pro-Kopf-Betrachtung. Die Frage der Macht ist in den Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren, die eine lebenswerte Zukunft bestimmen, allgegenwärtig, denn „gering geachtete Akteure sind weiterhin auf die Bemühungen der großen Treibhausgasemittenten und der Staaten als dominante Akteure angewiesen, um Maßnahmen zur Dekarbonisierung zu koordinieren“ (Wilkens und Datchoua-Tirvaudey 2022).
Ohne glaubwürdige und verbindliche Zusagen, die Emissionen signifikant reduzieren zu wollen und das völkerrechtlich verankerte »No-Harm«-Prinzip einzuhalten (Mayer 2016), können Investitionen in die Anpassung an den Klimawandel und die Abfederung des Klimawandels in anderen Ländern als eine moderne Form des Ablasshandels interpretiert werden, der von internationalen NGOs unterstützt und durchgeführt wird.
Mandate
Das humanitäre Mandat umfasst in der Regel Nothilfe für Menschen, die unter akuten, plötzlich oder schleichend eintretenden Krisen leiden. Insbesondere der Zeitrahmen und die Tiefe der Intervention markieren die Unterscheidung zu längeren und weitreichenderen Entwicklungsprojekten. Die meisten Hilfsorganisationen haben mehrere Mandate und leisten sowohl humanitäre Hilfe als auch Entwicklungshilfe. Andere engagieren sich auch aktiv in konfliktbezogenen Aktivitäten wie dem sozialen Zusammenhalt und der Konfliktbewältigung.
Die Ausweitung des humanitären Mandats auf eine stärker integrierte Reaktion kann ein kohärentes Handeln auch im Klimasektor erleichtern. Unter dem Dach des »Nexus« besteht für prinzipiengeleitetes humanitäres Handeln jedoch das potenzielle Risiko, in regierungsgeleitete Maßnahmen hineingezogen zu werden und letztlich militärischen Zielen zu dienen, die nicht im Einklang mit den humanitären Grundsätzen stehen (Hövelmann 2020; Steinke 2021). Nachdem Konflikte als paradigmatische Herausforderung für den humanitären Sektor identifiziert worden waren, begann die humanitäre Gemeinschaft 2016 den Nexus »Humanitäre Hilfe-Entwicklung-Frieden« (HDP) zu diskutieren und zu operationalisieren (Südhoff, Hövelmann und Steinke 2020). Später forderten die Organisationen die Integration des Klimawandels als Querschnittaufgabe in den HDP-Nexus. Mena et al. (2022) bevorzugen diese Option gegenüber der Hinzufügung des Klimawandels als separatem viertem Element im Nexus, da dies „die Gefahr birgt, dass Nachhaltigkeitsprioritäten von der globalen bis zur lokalen Ebene eher fragmentiert werden, anstatt sie miteinander zu verbinden und zu integrieren“.
Die zeitliche Dimension des humanitären Mandats ist einer der zentralen Aspekte, die auf dem Prüfstand stehen – nicht nur im Hinblick auf die Klimakrise. Der humanitäre Sektor ist in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung, seinem Selbstverständnis und seiner Arbeitsweise immer noch sehr stark auf die Gegenwart fokussiert. Er versäumt es oft, zurückzublicken, um Antworten auf aktuelle Herausforderungen zu finden, und vorauszudenken, um positive Szenarien zu entwerfen. Wissenschaftler*innen haben hervorgehoben, dass die humanitäre Art Zukunft zu erdenken oft in Begrifflichkeiten eines »emergency imaginary« gerahmt wird (Calhoun 2010; Opitz und Tellmann 2015). „Dieser Begriff des ‚Notfalls‘ neigt dann dazu, die Zukunft weniger ‚zukünftig‘ zu denken – oder zu entleeren –, weil er uns ein verstärktes Gefühl der Diskontinuität vermittelt und die Zukunft sehr viel kontingenter erscheinen lässt“ (Brun 2016). Orte wie Za‘atari, Kutupalong und Kakuma, große Geflüchtetenlager, die oft jahrzehntelang bestehen, sind räumliche Zeugnisse und die greifbarsten Verkörperungen eines humanitären Sektors, der „in der Gegenwart feststeckt“ (Brun 2016). In diesen Lagern gibt es keine Geschichte und keine Zukunft, sondern nur die Gegenwart. Diese Sichtweise wird durch quantitative Daten gestützt. Krisen andauernder Zwangsvertreibung (»protracted forced displacement«) dauern im Durchschnitt bereits 26 Jahre (UNHCR 2016). Der Klimawandel wird dies voraussichtlich noch verstärken.
Der Klimawandel und das Wiederauftreten, die Häufigkeit und das Ausmaß extremer Wetterphänomene wie Dürren, Überschwemmungen und Hitzewellen werden wahrscheinlich dazu führen, dass eine Krise nahtlos in die nächste übergeht und sich so eine »neue Normalität« der humanitären Krise für die kommenden Jahrzehnte entwickelt. Um die Herausforderungen, die die Klimakrise mit sich bringt, angemessen anzugehen, muss die humanitäre Hilfe in längeren Zeiträumen denken und handeln.
Blut, Schweiß und Tränen – der koloniale Nenner
Als sie auf den »Elefanten im Raum« angesprochen wurde, bezüglich der Finanzierbarkeit von Klimaschutzmaßnahmen – nämlich, dass die für Entwicklungen des Klimawandels am stärksten verletzlichen Länder angeblich ewig schulden- und korruptionsbelastet seien –, nahm Mia Mottley, die Premierministerin von Barbados, die koloniale Vergangenheit als Ausgangspunkt für ihre Entgegnung:
„Wenn unser Blut, unser Schweiß und unsere Tränen die industrielle Revolution finanzieren, und die industrielle Revolution dann die Klimakrise verursacht und ich dann für die Folgen der Klimakrise zahlen muss, weil die industrielle Revolution durch unser Blut, unseren Schweiß und unsere Tränen finanziert wurde, dann denke ich, dass sie keine moralische Autorität haben, mir irgendetwas über die Finanzierung der Klimakrise zu sagen oder darüber, warum wir nicht genug haben.“
Für Humanitäre ist es von größter Bedeutung, sich neue Zukünfte vorzustellen. Doch damit diese Zukünfte auch gerecht sein können, muss die Vergangenheit berücksichtigt werden. Es gibt eben keinen „Nullpunkt“ (Castro-Gómez 2005), kein unbeschriebenes Blatt, mit dem man beginnen könnte. Die Geschichte der humanitären Helfer*innen ist eng mit der Geschichte der betroffenen Bevölkerungsgruppen verwoben (Rejali 2020). Oftmals bauen sie auf der Geschichte von Gewalt und Konflikten auf, die auch den Rahmen für die heutigen Konflikte bilden. Um Ngũgĩ wa Thiong’o’s (2009) Metapher des »Re-Membering« zu verwenden, können die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft nicht länger »dis-membered« gedacht werden, sondern müssen »re-membered« werden, um den humanitären Folgen der Klimakrise angemessen begegnen zu können.
Unter Bezugnahme auf unterschiedliche Vorstellungen davon, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausmacht, haben Wissenschaftler die „Kolonialisierung der Zeit in der Politikgestaltung durch die vorherrschenden Konzepte der Klimageschichte(n) und Klimazukünft(e) als eine koloniale Praxis der Wissensproduktion in der globalen Klimagovernance“ hinterfragt (Wilkens und Datchoua-Tirvaudey 2022). Durch dieses Prisma betrachtet, könnte man argumentieren, dass humanitäre Organisationen derzeit mentale Zeitmodelle verwenden, die vom Kolonialismus geerbt wurden und besser zum bestehenden humanitären Projekt- und Finanzierungszyklus passen als zu dem, was die jeweilige Situation vor Ort erfordert. Die notwendigen Veränderungen könnten leichter herbeigeführt werden, wenn humanitäre Entscheidungsfindung und Maßnahmen in einer Triangulierung von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Maßnahmen begründet wäre.
Die Herausforderungen angehen
Die Beweislage für den Klimawandel ist klar und unmissverständlich (Pförtner et al. 2022). Die Klimakrise und ihre schwerwiegenden Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen und das Wohlergehen der Menschheit werden zunehmend die Dynamik und die Prioritäten der internationalen Nothilfe bestimmen. Der humanitäre Sektor wird mit kaskadierenden und sich verstärkenden Risiken konfrontiert sein.
Um den Herausforderungen der Klimakrise angemessen begegnen zu können, braucht der humanitäre Sektor möglicherweise mehr als Reformen und die Verringerung seines ökologischen Fußabdrucks, sondern einen tiefgreifenden institutionellen Wandel und eine Veränderung der Zusammenarbeit. Im Hinblick auf die normative Dimension der humanitären Hilfe kann die Klimakrise als Gelegenheit gesehen werden, um die Grundprinzipien – Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit – auf ihre Angemessenheit und Konsistenz in Zeiten der Klimakrise und der damit einhergehenden »neuen Normalität« von Krisen zu überprüfen und neu zu bewerten.
Sich neue Formen von Allianzen innerhalb des Sektors und mit anderen Sektoren vorzustellen und zu schaffen, wäre ein Aspekt einer angemessenen und integrierten Antwort. Gemeinsame Anstrengungen und Selbstverpflichtungen zur Emissionsreduzierung sind ein weiterer Teil des Puzzles. Die »Lokalisierung« gehört nicht nur zur ökologischen Gestaltung der Nothilfe, sondern auch zur Klärung von Fragen der »Ownership«, der Machtverteilung und der Verantwortlichkeiten, während gleichzeitig die betroffenen Gemeinschaften mit Fachwissen und finanziellen Mitteln unterstützt werden müssen, um dem Klimawandel begegnen zu können. Der offensichtliche und logisch konsequente Weg wäre, nun die Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen und die notwendigen strukturellen Veränderungen vorzunehmen, um zumindest einige der Machtungleichgewichte, Verhaltensmuster und mentalen Modelle zu überwinden, die aus dem Kolonialismus und der anhaltenden Kolonialität stammen.
Angesichts dieser Krise ist die Dimension der Zeitlichkeit humanitärer Hilfe einer der wichtigsten Knotenpunkte und anstehenden Themen. Dies bedeutet auch, Verantwortung für die Vergangenheit und die Gegenwart zu übernehmen, um neue Zukünfte zu schaffen. Auf der Grundlage der schon laufenden Veränderungen im Bereich der antizipierenden humanitären Maßnahmen und der Ausweitung des zeitlichen Rahmens über die operationellen Praktiken hinaus auf normative Überlegungen und Mandatsfragen könnte der humanitäre Sektor aus seiner »Gegenwartsfixiertheit« befreit werden.
Dementsprechend könnten »Futuring-up«, »Skilling-up« und »Scaling-up« die zentralen Paradigmen zukünftiger humanitärer Praxis in einem vom Klimawandel stark betroffenen planetaren System sein.
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Dr. Andrea Steinke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am »Centre for Humanitarian Action« (CHA), einem Think Tank für humanitäre Policyfragen mit Sitz in Berlin.
Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing. Korrigierte Fassung von 8.7.24 nach Mitteilung der Autorin über einen sachlichen Fehler: Der erzwungene Umzug von Menschen aus unbewohnbaren Regionen mit einer gemittelten Temperatur über nicht unter 29 Grad Celsius.