Rezension: „…aber eine Chance haben wir“
Zum 100. Geburtstag von Egon Bahr
Hans-Joachim Gießmann, Peter Brandt, Götz Neuneck (Hrsg.) (2022): „…aber eine Chance haben wir“. Zum 100. Geburtstag von Egon Bahr. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf., ISBN 978-3-8012-0632-1, 568 S., 36 €.
Der Titel des Buches ist ungewöhnlich: ein Halbsatz in Anführungsstrichen. Er macht neugierig auf das vollständige Zitat. Es stammt aus einem Interview mit Egon Bahr von 2012, in dem er auf die Frage „Ist die Welt noch zu retten?“ nach längeren Ausführungen zur damaligen aktuellen Weltsituation sagte: „Die Aussichten stehen fifty fifty, dass die Welt überlebt. Mehr nicht, aber eine Chance haben wir.“ Diese Aussage wiederum macht neugierig auf das Buch. Denn Egon Bahr hat sich einen großen Teil seines langen Lebens darum bemüht, einen dritten Weltkrieg zu verhindern, der zu Zeiten des Kalten Krieges mit großer Wahrscheinlichkeit überwiegend in Europa und mit Atomwaffen ausgetragen worden wäre und damit vielleicht nicht zum Ende der Welt, aber doch zum Ende Europas geführt hätte. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich Egon Bahr bis zu seinem Tod am 19. August 2015 mit der Frage befasst, wie die Chancen erhöht werden können, dass unsere Welt überlebt. Vor allem – aber nicht nur – nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle spielten dabei eine große Rolle.
Das Buch ist nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert. Es kommen Wissenschaftler, Politiker*innen und Menschen aus seinem persönlichen Umfeld zu Wort. Zentrale Kapitel sind die historische und politische Einordnung des Wirkens von Egon Bahr, der Themenkomplex »Gemeinsame Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung« und das Kapitel »Von der Vereinigung zur Einheit«, in dem ausschließlich Autor*innen mit ostdeutscher Perspektive zu Wort kommen. Im letzten Kapitel des Bandes beleuchten fünf Autoren, was aus den Konzepten und Denkansätzen von Egon Bahr heute noch politisch gelernt werden kann.
Der Festband zum 100. Geburtstag eignet sich – wie viele Sammelbände – eher dazu, einzelne Aufsätze in einer selbstgewählten Reihenfolge und sukzessive zu lesen, als es gemäß der Seitennummerierung durchzuarbeiten. Für friedenspolitisch Aktive sind die Rückblicke auf die Ost- und Entspannungspolitik der siebziger Jahre aktuell vielleicht weniger wichtig, als die immer noch gültige Bahr’sche Erkenntnis, dass man über Interessen verhandeln kann, über Werte aber nicht.
Hochaktuell sind die Aufsätze von Götz Neuneck und Rolf Mützenich, die sich (überwiegend, aber nicht nur) mit nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung und mit den Risiken von Rüstungswettläufen befassen. Wer sich für die Frage interessiert, ob es für Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban eine Perspektive für inneren Frieden gibt, kann als Erstes den Aufsatz von Hans-Joachim Gießmann am Ende des Buches lesen, der ausgehend von Bahrs Begriffen »Wandel durch Annäherung« und »Gemeinsame Sicherheit« skizziert, wie zwischen den Konfliktparteien in Afghanistan ein Bewusstsein dafür entstehen könnte, dass sie durch Dialog und Kooperation mehr gewinnen als verlieren können. Und wer mit Sorge nicht nur auf den Krieg in der Ukraine, sondern auch auf die wachsenden Spannungen zwischen den USA und China sieht, findet in Michael Staacks Aufsatz »Egon Bahr und die großen Mächte« interessante Denkanstöße.
Das Buch sollte eigentlich zum 100. Geburtstag von Egon Bahr am 18. März 2022 veröffentlicht werden. Fast alle Beiträge, die es enthält, sind bis Ende 2021 verfasst worden, also vor dem umfassenden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Nach dem 24.2.2022 wurde dann kurzfristig entschieden, die Buchveröffentlichung aufzuschieben, um zumindest im Vorwort und in einem Abschnitt auf die aktuellen Ereignisse eingehen zu können. Daher enthält das Buch auch einige Reden vom Festsymposium am 18. März 2022, die eine Würdigung des Lebenswerkes von Egon Bahr mit Reaktionen auf den Krieg verbinden und die Erklärung des Willy-Brandt-Kreises, den Egon Bahr als bewusst ost-west-deutschen und überparteilichen Gesprächskreis ins Leben gerufen hatte, zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine.
Das Buch ist allen friedenspolitisch Interessierten zu empfehlen, die sich für die zentralen Aspekte der deutschen Entspannungs- und Ostpolitik der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts und für das, was wir bis heute daraus lernen können, interessieren. Es ist auch eine lohnende Lektüre für alle, die sich für die Person Egon Bahr und den Blick prominenter Politiker*innen aus Deutschland und vielen anderen Ländern auf diese Person interessieren. Insbesondere im Abschnitt »Historische und politische Einordnung« finden sich auch für zeitgeschichtlich und politikwissenschaftlich Interessierte spannende Beiträge. Leider ist es den Herausgebern nicht gelungen, Beiträge aus osteuropäischen Ländern zu gewinnen, obwohl sie sich intensiv darum bemüht haben. Die Gründe dafür sind unklar. Dass unter den ca. 50 Autor*innen nur fünf Frauen sind, spiegelt dagegen eindeutig die politischen Realitäten der deutschen und internationalen Politik bis weit in dieses Jahrtausend wider.
Ute Finckh-Krämer ist ehemalige Bundestagsabgeordnete der SPD (2013 bis 2017) und Co-Vorsitzende des SprecherInnenrates der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. Sie war u.a. im Auswärtigen Ausschuss und im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung des Bundestages, der auf Vorschlag von Egon Bahr eingerichtet wurde und bis heute besteht.