W&F 1987/4

ABM-Vertrag

von Jürgen Scheffran

Spätestens seit dem Abbruch der Gipfelgespräche zwischen dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan in der isländischen Hauptstadt Reykjavik am 12. Oktober 1986 wurde der Weltöffentlichkeit klar, welche Bedeutung der ABM-Vertrag für die Beziehungen zwischen den beiden Großmächten hat. Während eine Einigung bei der Reduzierung der Nuklearwaffen möglich erschien, ergaben sich hinsichtlich der Interpretation des ABM-Vertrages erhebliche Unterschiede. Ob die bisher gültige „restriktive“ und von Gorbatschow vertretene Auslegung des ABM-Vertrages, die SDI enge Grenzen auferlegen würde, während des Abbaus von Atom Waffen gültig sein soll, oder die von der Reagan-Administration vorgeschlagene „weite“ Auslegung ohne konkrete Grenzen für SDI, das war der wesentliche Streitpunkt in Reykjavik, der eine Einigung verhinderte.

Dies zeigt, wie wichtig es für die Friedensbewegung ist, sich mit dem ABM-Vertrag zu beschäftigen, ohne die Friedensdiskussionen auf rein rechtliche Fragen reduzieren zu wollten. Ohne diesen Vertrag wäre die „Büchse der Pandora“ neuer Waffensysteme im Weltraum völlig offen. Mit der Zukunft dieses Vertrages steht und fällt der Erfolg des Rüstungskontrollprozesses.

Struktur und Begriffe des ABM-Vertrages

Der ABM-Vertrag von 1972, ergänzt durch das Zusatzprotokoll von 1974, wurde im Rahmen des SALT-Prozesses von den USA und der UdSSR unterzeichnet, um Raketenabwehr-Systeme und ihre Komponenten zu begrenzen. Dieser Vertrag ist das Ergebnis der ersten ABM-Debatte in den sechziger Jahren und repräsentiert die Erkenntnis, daß Raketenabwehr technisch fragwürdig, finanziell zu teuer und politisch strategisch gefährlich ist. Durch den ABM-Vertrag wurden Atomwaffen als Kriegsführungswaffen überflüssig und der Weg für ihre Begrenzung in den SALT-Verhandlungen geöffnet. Aus der Sicht Europas ist der ABM-Vertrag ein Markstein auf dem Weg zur Entspannung und das wichtigste Abkommen zur Rüstungsbegrenzung.

Mit Artikel I verbietet der ABM-Vertrag eine umfassende Raketenabwehr zur Landesverteidigung. Unter ABM (Anti Ballistic Missile oder Raketenabwehr)-Systemen werden nach Art. II generell alle Systeme zur „Bekämpfung anfliegender strategischer ballistischer Flugkörper“ verstanden, die bei Abschluß des Vertrages aus Abfangflugkörpern, Abschußvorrichtungen und Radargeräten bestanden und als „gegenwärtige Komponenten“ bezeichnet werden. Bis auf die durch die Artikel III und IV gegebenen Ausnahmen (100 Abschußvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei feste Versuchsgebiete) werden in dem zentralen Art. V Entwicklung, Test und Stationierung von ABM-Systemen und ihren Komponenten verboten, und zwar see-, luft-, weltraumgestützt oder als bewegliches System landgestützt.

Weitere Paragraphen untersagen, Nicht ABM-Systeme mit einer „ABM-Fähigkeit“ auszurüsten (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologien bzw. technischer Konstruktionsbeschreibungen in andere Staaten (Art. IX und Interpretation G). Von den verschiedenen „Gemeinsamen Interpretationen“ und „Vereinbarten Stellungnahmen“ beider Seiten zum ABM-Vertrag ist die wichtigste die Interpretation D, die verlangt, daß spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit „anderen physikalischen Prinzipien“ Gegenstand von Gesprächen sein sollen, „um die Erfüllung der Verpflichtung sicherzustellen, keine ABM-Systeme oder deren Komponenten zu stationieren“. Für die mit dem ABM-Vertrag zusammenhängenden Fragen wurde eine Ständige Beratende Kommission (SBK) geschaffen. Der Vertrag wird alle fünf Jahre überprüft (als nächstes 1987), ist von unbegrenzter Dauer, hat jedoch eine Rücktrittsklausel.

Wie andere Verträge auch enthält der ABM-Vertrag einige Begriffe, die Raum für Interpretationen lassen, insbesondere die Begriffe „Entwicklung“, „ABM-Komponente“ oder „ABM-Fähigkeit“. Schwierig ist die genaue Festlegung einer Grenze zwischen erlaubter Forschung und verbotener Entwicklung, doch gibt es eine Richtlinie des SALT Chefunterhändlers Gerard Smith, wonach die Trennungslinie beim Übergang vom Labor in die Feldtestphase verläuft, sofern dies von der anderen Seite beobachtet werden kann. Ohne eine genaue und vereinbarte Klärung wichtiger Begriffe des ABM-Vertrages für neue ABM-Technologien können die Vertragsbestimmungen in den „Grauzonen“ durch neue waffentechnische Entwicklungen unterhöhlt werden.

Grauzonen und neue Waffentechnologien

Hierzu zählen insbesondere phasengesteuerte oder mobile Radaranlagen. Taktische Raketenabwehrsysteme (ATM: Anti Tactical Missiles), Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) und „exotische“ Technologien wie Strahlenwaffen. Ober den „Umweg“ von ATM und ASAT-Technologien könnten zugleich auch neue ABM-Technologien entwickelt werden. Neue Waffentechnologien, die mehreren Funktionen dienen können und schwierig zu unterscheiden sind, stellen eine ernste Herausforderung für Rüstungskontrolle und Verifikation dar und können die strategische Stabilität gefährden. Dies macht vorbeugende Kontrollmaßnahmen wichtig, die eine Waffentechnik bereits im Frühstadium ihrer Entwicklung begrenzen. Nach Abschluß des ABM-Vertrages hatte es einige Streitfälle zur Vertragseinhaltung gegeben ( so bei Tests sowjetischer Luftabwehrraketen oder beim „Low Altitude Defense System“ (LoADS) der USA), die jedoch in der Ständigen Beratenden Kommission (SBK) weitgehend geklärt werden konnten. Bei entsprechendem politischen Willen könnten auch die genannten Problembereiche, die sich z.T. seit Jahren abzeichnen, gelöst werden . Es gibt bereits ausgearbeitete Begrenzungsvorschläge, die zur Ergänzung (nicht Änderung) des ABM-Vertrages und in Erfüllung der Interpretation D gemeinsam vereinbart werden könnten. Möglich wären insbesondere eine genauere Definition wichtiger Vertragsbegriffe, Begrenzungen phasengesteuerter Radaranlagen, ATM-Systeme und ASAT-Waffen sowie Vorschläge für exotische Waffentechnologien wie Strahlenwaffen und Sensoren. Hierzu zählt auch die Verbesserung des Informationsprozesses zwischen beiden Seiten und die Behandlung von Streitfragen in der SBK. Das geeignete Forum für die Diskussion solcher Fragen sind die Genfer Verhandlungen. Konkreter Anlaß könnte die Überprüfungskonferenz zum ABM-Vertrag 1987 sein.

Eine neue Qualität erreichen die Herausforderungen durch das SDI-Programm, wodurch das Fundament des ABM-Vertrages insgesamt erschüttert wird. Abgesehen davon, daß trotz eines Entwicklungsverbots im ABM-Vertrag Reagan in seiner Star-Wars-Rede ein Forschungs- und Entwicklungsprogrammm gefordert hat, enthält SDI für die nächsten Jahre eine Reihe von Großversuchen, die bereits in die Testphase hineinreichen. Das jüngste Beispiel war der SDI-Versuch vom 5. September 1986, bei dem sich zwei von einer Delta-Rakete gestartete Satelliten im Weltraum verfolgten und durch eine Kollision zerstörten. Durch solche Ereignisse, die eher den Charakter von „kosmischen Zauberkunststücken“ als von wissenschaftlichen Experimenten haben, wird der ABM-Vertrag durchlöchert. Weitere Versuche verzögerten sich wegen der Challenger-Katastrophe. Hierzu zählen Programmnamen wie AOA, ERIS, HEDI, KKV, SBL, ATP, BSTS, SSTS u.a., die den USA bereits einige Prototypen für ABM-Komponenten liefern könnten. Einer der ersten Versuche, der an die Substanz des ABM-Vertrages geht, wird der Test des „Airborne Optical Adjunct“ (AOA) sein, eines luftgestützten Infrarotsensors für die Ortung von Gefechtsköpfen in der Wiedereintrittsphase, der die Funktion einer ABM-Komponente übernehmen könnte.

Vorwürfe und Interpretationen

Um den Gegensatz zwischen SDI und dem ABM-Vertrag abzuschwächen, versucht die Reagan-Administration zum einen, die Sowjetunion öffentlich der Vertragsverletzung zu beschuldigen, wie im Falle der Radaranlage von Krasnoyorsk. Diese wirft wegen ihrer Lage im Inneren der Sowjetunion vertragsrechtliche Probleme auf, die Gegenstand der SBK sind. Die Sowjetunion hat die Lösung des Problems in Aussicht gestellt, wenn die USA ebenfalls zur Klärung ansprechender Fragen bei ihren Radaranlagen in Fylingdales (England) und Thule (Grönland) bereit ist. Als Vorwand für einen Ausstieg aus dem ABM-Vertrag ist Krasnoyarsk nicht geeignet, noch weniger gilt dies für andere Vorwürfe.

Zum anderen bemüht sich die Reagan-Regierung, SDI als kurzfristig mit dem ABM-Vertrag vereinbar darzustellen. So werden im SDI-Report des Pentagon unklare Vertragsbegriffe ausgeschöpft und neu bewertet, um eine Zuordnung der SDI-Projekte zu drei vertragskonformen Kategorien zu ermöglichen. Es wird unterschieden zwischen Labortests, Feldtests von ABM-Subkomponenten und Feldtests von festen landgestützen Komponenten. Eine klare Grenzlinie zwischen Forschung und Entwicklung wird nicht gezogen, so daß ein weiter Ermessensspielraum für die SDI-Entwicklungen bleibt. Während der ABM-Vertrag Entwicklung und Tests von ABM-„Komponenten“ verbietet, werden die SDI-Großversuche lediglich als Tests von nicht definierten „Subkomponenten“ bezeichnet, ein Terminus, der bei Abfassung des Vertrages keine Rolle gespielt hat.

Darüber hinaus unternahm im Oktober 1985 der damalige Sicherheitsberater Reagans, Robert McFarlane, gestützt auf Überlegungen des Rechtsberaters des Außenministeriums, Abraham Sofaer, den Versuch einer „weiten“ Interpretation des ABM-Vertrages, im Unterschied zur bis dahin gültigen „engen“ bzw. „traditionellen“ Auslegung. Unter Berufung auf Interpretation D sollen danach Entwicklungen und Tests von ABM-Systemen mit neuen physikalischen Prinzipien wie Strahlenwaffen oder optischen Sensoren generell zulässig sein. Dies widerspricht der Auffassung bisheriger US-Regierungen (einschließlich der Reagan-Administration selbst), wonach neue ABM-Technologien verboten sind, solange hier keine spezifischen Begrenzungen vereinbart wurden.

Streitpunkte und Kompromisse

Sollte sich die Neuinterpretation durchsetzen, könnte der ABM-Vertrag rasch zu einem „wertlosen Stück Papier“ werden. Gemäß der Philosophie des ABM-Vertrages wären dann auch die Möglichkeiten für Begrenzungen oder Reduzierungen von Atomwaffen stark eingeschränkt: einschneidende Abrüstung bei Atomwaffen bei gleichzeitiger Entwicklung und Aufbau von Abwehrsystemen kann stark destabilisierend wirken. Dies erklärt die Abneigung der Sowjetunion in Reykjavik, von einer engen Vertragsauslegung abzuweichen, und ihre Forderung nach einer „Stärkung“ des ABM-Vertrages, die seine Erosion wirkungsvoll aufhalten und den Weg für einschneidende Abrüstungsschritte eröffnen würde.

Nie zuvor waren derart weitreichende Abrüstungsziele wie die Abschaffung aller Atomwaffen in zehn Jahren auf höchster Ebene erörtert worden. Konkret schien in Reykjavik eine Einigung zum Greifen nah, die tiefe Einschnitte (deep Cuts) bei den nuklearstrategischen Offensivwaffen auf 50 % und darunter sowie eine Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen vorsah, was bei Realisierung ein „historisch sensationeller Einbruch in den Rüstungswettlauf" wäre. Während sich beide Seiten in diesem Ziel noch einig schienen, ergaben sich die entscheidenden Differenzen bei der Vereinbarkeit von SDI mit dem ABM-Vertrag.

Zwar erklärten sich beide Seiten für zehn Jahre bereit, den ABM-Vertrag einzuhalten. Während Gorbatschow jedoch auf der Einhaltung der bislang gültigen engen Auslegung des Vertrages in der Abrüstungsphase bestand, die Tests von Abwehrsystemen im Weltraum verboten hätte, schlug Reagan die weite Auslegung vor, die solche Tests erlauben würde und darüber hinaus nach Ablauf der zehn Jahre die Möglichkeit einer Stationierung von SDI offenhielt. Dementsprechend lastete er in seiner Fernsehrede unmittelbar nach Reykjavik der Sowjetunion das „Scheitern“ des Gipfels an, da sie an einem „14 Jahre alten“ Vertrag festhalte.

Eine Realisierung des von Reagan vorgestellten „Pakets von Reykjavik“ wurde von der Sowjetunion als riskant und destabilisierend beurteilt. Es hätte sie aus ihrer Sicht der atomaren Abschreckungsmittel gegen eine mit SDI nach Überlegenheit strebende USA beraubt An irgendeinem Punkt der Abrüstung und des Aufbaus von SDI wäre der Zeitpunkt gekommen, wo eine Seite einerseits noch genügend Atomwaffen besitzen würde, um die andere Seite zu vernichten, aber andererseits schon genügend Abwehrsysteme, um sich vor einem begrenzten Gegenschlag zu schützen. Die Sicherheit beider Seiten in einer solchen destabilisierenden Übergangsphase würde dadurch entschieden, wer bei den Abwehrtechnologien führt oder die Abwehrsysteme der anderen Seite unwirksam macht. Für beide Seiten stellen sich schwierige Fragen: für die Reagan-Regierung, ob sie den durch nukleare Abrüstung geschaffenen öffentlichen Erwartungsdruck vom SDI-Programm ablenken kann, um langfristig militärische Überlegenheit anzustreben, fr die Sowjetunion, ob die Verbesserung der politischen Beziehungen das militärische Risiko von weiteren Zugeständnissen bei SDI wert ist. Bei den Mittelstreckenraketen bot sich eine Entkopplung von SDI an, so daß der Weg für die Null-Lösung frei wurde. Schwieriger ist es bei den strategischen Atomwaffen wegen des engen Zusammenhangs mit SDI. Hier wäre eine Einigung nur im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Bewertung des ABM-Vertrages sinnvoll.

Von verschiedenen Seiten wurde im Gefolge von Reykjavik auch hier ein Kompromiß zwischen den verhärteten Fronten gefordert, um damit den Weg für einschneidende Abrüstungsschritte zu öffnen, so auf dem Hamburger Naturwissenschaftler-Kongreß am 14./16. November 1986 und dem Moskauer Friedensforum im Februar 1987. Die Sowjetunion hat ihre prinzipielle Bereitschaft dazu erklärt. Wissenschaftler wie John Pike von der Federation of American Scientists schlugen Grenzen für ABM-Technologien und SDI-Tests im Weltraum vor, die destabilisierende Entwicklungen einschränken würden, so etwa bei der Zahl der Tests, bei der Relativgeschwindigkeit zwischen Raumflugkörpern oder bei technischen Leistungsparametern der Waffensysteme (z.B. von Lasern). Für Laserwaffen wurden konkrete Grenzen bereits von dem Physiker Jürgen Altmann ausgearbeitet.

Mit solchen quantitativen Grenzen für neue Waffentechnologien entstehen hohe Anforderungen an die Verifikation, die ein gewisses Maß an Kooperation voraussetzen. Sie müßten zur Konkretisierung und Festigung des ABM-Vertrages beitragen und verhindern, daß die Reagan-Administration sich immer weiter vom ABM-Vertrag entfernt, während die Sowjetunion hinter der wechselnden US-Interpretation „hinterherläuft“ (J. Pike), die dem jeweiligen technischen Stand des SDI-Programms angepaßt wird. Grundlage solcher Vorschläge ist die Einschätzung, daß SDI-Systeme noch geraume Zeit von ihrer Realisierung entfernt sind und ihre Entwicklung begrenzt werden kann. Trotz der komplizierten Materie dürfte die Machbarkeit eines Kompromisses vor allem von der Bereitschaft der US-Regierung abhängen, das lange Zeit als unantastbar erklärte SDI-Programm für Verhandlungen freizugeben.

Testen und Stationieren

Diese lehnte jedoch nach Reykjavik trotz sowjetischer Angebote jede Einschränkung für das SDI-Programm ab und verstärkte ihre Anstrengungen zur Neuinterpretation durch weitere Gutachten Sofaers, die auf einer Sichtung der bis dahin geheimgehaltenen Verhandlungs- und Ratifizierungsprotokolle zum ABM-Vertrag basierten. Außerdem wurde unmittelbar nach dem Gipfel von rechtsstehenden Kreisen mit Forderungen wie „Deploy Now“ für eine beschleunigte Entwicklung und Stationierung von SDI geworben. Solche Konzeptionen einer vorgezogenen Stationierung (early deployment) beruhten auf Vorschlägen von Rüstungsforschern aus den Waffenlabors sowie des privaten George C. Marshall Instituts, die stark an die High-Frontier-Idee von 1982 erinnerten. Innerhalb von wenigen Jahren (bis 1994) sollte zu Kosten von „nur“ 121 Mrd. $ ein dreischichtiges Abwehrsystem installiert werden, bestehend aus konventionellen Boden-Raketen für die Endphasenabwehr innerhalb und außerhalb der Atmosphäre sowie aus 2000 Kampfstationen im Weltraum mit je fünf kleinen Abfangraketen. Das Pentagon benutzte diese Studie trotz einer Vielzahl fragwürdiger technischer und ökonomischer Annahmen als politisches Druckmittel im US-Kongreß, um für das Haushaltsjahr 1988 höhere SDI-Mittel zu erreichen.

Im Unterschied zu Reagans langfristiger - SDI-Vision, Atomwaffen „unwirksam und überflüssig“ zu machen, setzt diese kurzfristige Option eher auf begrenzte Abwehr, die zur Stärkung der Abschreckung beitragen soll, ohne die langfristige Option aufzugeben. Während der strategische und ökonomische Sinn der „early deployment“-Konzepte umstritten ist, wird von Kritikern vermutet, der Hauptzweck sei eine möglichst frühe Zerstörung des ABM-Vertrages sowie das SDI-Programm auch über die Reagan-Ära hinaus unaufhaltsam zu machen. Solche Pläne können selbst durch eine Neuinterpretation des ABM-Vertrages nicht mehr vertragskonform gemacht werden. Ihre Realisierung hätte eine Abkehr vom ABM-Vertrag zur Folge, die einer Aufkündigung gleichkommt. Folgerichtig drohte US-Verteidigungsminister Weinberger auch damit, den ABM-Vertrag ganz aufzukündigen, wenn der US-Kongreß nicht höhere Mittel für SDI bereitstelle und der weiten Vertragsauslegung zustimme.

Der Verfassungskonflikt mit dem Kongreß

Hier stieß die Reagan-Administration jedoch auf heftigen Widerstand der liberalkonservativen „arms control community“ (Rüstungskontrollschule), denen die „visionären“ Vorschläge von Reykjavik ohnehin zu weit gingen, und die „rationale“ Rüstungskontrolle einer politisch motivierten Abrüstung vorzogen. Für diese politischen Kräfte waren die Vorschläge beider Seiten in Reykjavik, die auf die Abschaffung der Atomwaffen bzw. deren Bekämpfung zielten, unrealistisch und auch nicht wünschenswert, da sie die durch Atomwaffen garantierte Abschreckung untergruben. Sie kritisierten die Reagan-Rüstung als zu wenig „effektiv“ und drängten auf eine Sicherheitspolitik, die militärische Stärke mit Verhandlungen über Rüstungskontrolle verbindet. Spätestens Reykjavik war für sie ein Signal, daß die militärische Sicherheit der USA bei Reagan in unsicheren Händen war. Ein Hinweis darauf ist die vergleichsweise scharfe Reaktion vom konservativen Vorsitzenden des Streitkräfteausschusses Sam Nunn sowie anderen Kongreßabgeordneten und Senatoren wie Carl Levin auf die weite Auslegung des ABM-Vertrages. In ausführlichen Studien und Reden im Frühjahr 1987 griff Nunn die Gutachten Sofaers an und begründete, daß der Kongreß den ABM-Vertrag 1972 in seiner engen Auslegung ratifiziert habe. Er wies anhand teilweise der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Dokumenten nach, daß der US-Senat zum Zeitpunkt der Ratifizierung nicht an eine weite Auslegung gedacht hatte. Forschung an neuen Raketenabwehrtechnologien wurde zwar Eis erlaubt angesehen, nicht aber Erprobung und Stationierung, außer im begrenzten Umfang bei fest landgestützten Systemen. Damit sind insbesondere Weltraumtechnologien ausgeschlossen. Dem Sofaer-Gutachten warf Nunn vor, sie seien „fundamental fehlerhaft“, würden sich in allen wichtigen Punkten irren und durch bewußtes Weglassen i wichtiger Zitate den wirklichen Ratifizierungsprozeß verdrehen. Eine einseitige Abkehr der US-Regierung von der traditionellen Interpretation würde zu einem „Verfassungskonflikt“ mit dem Kongreß führen, der die letzte gesetzgeberische Kompetenz besitze.

Dies zeigt, daß ein rein rechtlicher Streit über den ABM-Vertrag nicht ausreicht, um sein Überleben sichern. Entscheidend ist die politische Unterstützung der bisherigen Interpretation. Aus dieser Erkenntnis heraus versucht in den USA seit Jahren die „Nationale Kampagne zur Erhaltung des ABM-Vertrages“, ein breites Bündnis aus früheren Politikern (darunter Expräsident Carter und die früheren Verteidigungsminister Schlesinger und McNamara), Diplomaten (wie Gerard Smith), Militärs, Wissenschaftlern und Friedensgruppen, dem „Irrsinn des Vertragsbruchs" entgegenzuwirken und die Reagan-Administration zur Einhaltung der restriktiven Interpretation zu drängen. Sie betreibt hierfür Öffentlichkeitsarbeit und hat auch konkrete Maßnahmen zur Stärkung des ABM-Vertrages vorgeschlagen.

Die Mitverantwortung Westeuropas

Eine wichtige Mitverantwortung für die Zukunft des ABM-Vertrages haben auch die NATO-Verbündeten der USA. Obwohl sie nicht Mitunterzeichner dieses Vertrages sind und ihnen der Vorsitzende des US-Abrüstungsausschusses Adelman in dieser Frage die „Kompetenz“ absprach, haben westeuropäische Regierungen offiziell stets die bedeutende Rolle des ABM-Vertrages für Rüstungskontrolle und Entspannung gewürdigt.

Solche Erklärungen wirken jedoch nur dann glaubwürdig, wenn Westeuropa sich nicht selbst direkt oder in Form einer „Europäischen Verteidigungsinitiative“ (EVI) am SDI-Programm beteiligt. Durch den Aufbau eines eigenen Systems zur Abwehr taktischer Raketen und anderer Flugkörper (ATM: Anti Tactical Missiles) oder einen Transfer entsprechender Technologien könnte Westeuropa mit zur Untergrabung des ABM-Vertrages beitragen.

Durch die Artikel VI und IX sowie die Interpretation G wird ein Austausch zwischen ATM- und SDI-Technologien in beiden Richtungen stark eingeschränkt. Dennoch wurde von US-Regierungsvertretern die Absicht geäußert, SDI auf dem „legalen Umweg“ über ATM voranzutreiben, Westeuropa zum ersten Versuchsfeld für SDI zu machen und damit den ABM-Vertrag zu umgehen. Dies geschieht zum Teil mit Unterstützung westeuropäischer Rüstungskonzerne bzw. einiger Regierungsvertreter, die sich auf diesem Weg den Einstieg in das SDI-Rüstungsgeschäft sowie erweiterte politische und militärische Optionen erhoffen. Für sie ist der ABM-Vertrag „zur heiligen Kuh der Rüstungskontrolldogmatiker und Raketenabwehrgegner geworden, in den fast nach Belieben hineininterpretiert wird“ (T. Enders). Der Schwarze Peter für eine Untergrabung des ABM-Vertrages wird schon im Voraus der Sowjetunion angelastet, falls sie als Vertragsunterzeichner die ATM-Entwicklung der nicht direkt an den Vertrag gebundenen Westeuropäer mitmachen sollte.

Ein erster Prüfstein ist hier die Aufrüstung der Luftabwehr-Rakete Patriot für die Raketenabwehr und ihre Stationierung in Westeuropa. Die Entwicklung dieser Rakete war bereits ein Grund für die damalige Ablehnung der US-Regierung, den ABM-Vertrag auch auf taktische Raketen auszudehnen. Während diese Rakete von der US-Regierung als vereinbar mit dem Transferverbot angesehen wird, richtet sie Vorwürfe an die Sowjetunion, sie unterlaufe den ABM-Vertrag, indem sie planmäßig an der Erweiterung ihrer Luftabwehr arbeite, um auch Raketen abfangen zu können. Genannt werden hier die sowjetischen Luftabwehrraketen SA-10 und SA-X-12, deren Leistungsfähigkeit von der US-Regierung von Jahr zu Jahr als bedrohlicher eingeschätzt wird, ohne daß sich an den Waffen selbst etwas wesentliches geändert hätte. Solche übertriebenen Bedrohungsperzeptionen könnten zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden, wenn die Sowjetunion den durch die Patriot-Rakete vorgezeichneten Weg tatsächlich mitmacht. Mit Fortschreiten der technischen Entwicklung wird es schwieriger, eine eindeutige Grenze zwischen der ABM-, ATM- und Luftabwehr-Funktion zu ziehen.

Weitere Literatur zum ABM-Vertrag

Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vom 26. Mai 1972 über die Begrenzung der Systeme zur Abwehr ballistischer Flugkörper (ABM-Vertrag) mit Interimsabkommen sowie Interpretation, „Europa-Archiv“, Folge 17/1972, S. D. 392-405
H. Lin, Evolving the ABM Treaty Towards the Year 2000, Center for International Studies, MIT Cambridge, May 23, 1986 (detaillierte technische Analyse)
A. B. Sherr, A Legal Analysis of the New Interpretation ot the Anti Ballistic Missiles Treaty, Report for the Lawyers Alliance for Nuclear Arms Control, Boston. M.A., 1986
R. Bulkeley, The ,McFarlane Reading of the ABM Treaty, in: Wege aus dem Wettrüsten, S. 379-382, Marburg 1987
W. J. Durch, Technology, Strategy and the ABM Treaty, A Background Paperforthe Barnett Hill Conference, 6-8 May 1986
McGeorge Bundy, George F. Kennan, Robert S. McNamara, Gerard Smith, The Presidents Choice: Star Wars or Arms Control, „Foreign Affairs“, Vol. 63, No.2, 1985: auf deutsch: „Blätter“ 5/85, S. 614-624
Compliance of the Strategic Defense Initiative with the ABM Treaty, Appendix D of: Report to the Congress on the Strategic Defense Initiative, Department of Defense, April 1987; s. auch die SDIO-Reports 1985, 1986
Abram Chayes, Antonia Chayes, The Future of the ABM Treaty, „Arms Control Today“, January/February 1987, pp.2-4
ABM-Treaty, „Arms Control Reporter“, Chronology 1985, 1986
B. W. Kubbig, Die Neuinterpretation des ABM-Vertrages durch die Reagan-Administration, Forschungsbericht 13/1985 der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt, S. 3
H. G. Brauch, Antitactical Missile Defense - Will the European Version of SDI undermine the ABM-Treaty, AG Friedensforschung und Europäische Sicherheitspolitik, Stuttgart, Juli 1985
T. Enders, Raketenabwehr als Teil einer erweiterten NATO-Luftverteidigung, Interne Studien des sozialwissenschaftlichen Instituts der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr.2/1986, S. 65


Zur Diskussion über Reykjavik und den ABM-Vertrag s.:

W. Bruckmann, Die sowjetische SDI-Junktimspolitik in Reykjavik, „Informationsdienst Wissenschaft und Frieden“, 2/87, S. 7-11; W. Zellner, Abschreckungsmanagement oder Abschreckungskritisch?, „Informationsdienst", 2/87, S. 12-14
C. Levin, Administration wrong on ABM Treaty, „Bulletin of the Atomic Scientists“, April 1987, S. 30-33
Bruce B. Auster, Treaty Reinterpretation Under Attack „Arms Control Today", January/February 1987, S. 11
James, Nunn Senate Move On ABM Treaty Interpretation, „Arms Control Today“, April 1987, S. 27-28;
B. Taylor, Republicans Filibuster as Senators Try to Prevent ABM Reinterpretation, „Arms Control Today“, June 1987, S. 20;
State Department Releases Portions of ABM Treaty Record, „Arms Control Today“, June 1987, S. 21;
P. Mann, Nunn Threatens INF Pact With Link to ABM Treaty, „Aviation Week & Space Technology“ (AWST), May 11, 1987, S. 30;
Nine SDI Tests Planned in 1988-89, „AWST“, April 6, S. 28

Jürgen Scheffran, Physiker und Friedensforscher an der Universität Marburg

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/4 1987-4, Seite