Abrüstung und Rüstungskontrolle in Zeiten des Krieges
von Rolf Mützenich
Vor 60 Jahren, am 10. Oktober 1963, trat der Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser in Kraft. Das sogenannte Moskauer Atomteststoppabkommen war das erste Rüstungskontrollabkommen im Kalten Krieg und markierte den Beginn der multilateralen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsdiplomatie. Die Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle führte in den Jahren darauf u.a. zum Atomwaffensperrvertrag (1968), ABM-Vertrag (1972), INF-Vertrag (1987) und KSE-Vertrag (1990). In den vergangenen Jahrzehnten haben diese Errungenschaften der Entspannungspolitik und Rüstungskontrolle die Welt sicherer gemacht. Vor allem während des Kalten Krieges waren sie wichtige Instrumente zur Kriegsverhütung und Vertrauensbildung und entwickelten sich zu einem integralen Bestandteil der globalen Sicherheitsarchitektur.
Dreißig Jahre nach Ende des Kalten Krieges befindet sich die nukleare Ordnung jedoch in einer tiefen und existentiellen Krise. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist nicht nur der Krieg, sondern auch die Gefahr eines Atomschlags nach Europa zurückgekehrt. Seit Beginn des Krieges hat Putin bereits mehrmals mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gedroht. Im Februar dieses Jahres setzte Russland zudem die Teilnahme an New START aus – dem letzten verbleibenden großen nuklearen Abrüstungsabkommen zwischen Washington und Moskau. Einen Monat später kündigte Putin an, taktische Atomwaffen in Belarus stationieren zu wollen. Mit dem Austritt Russlands aus dem KSE-Vertrag kündigte der Kreml im Mai 2023 schließlich einen weiteren Abrüstungsvertrag aus der Endphase des Kalten Krieges auf.
Neben dem russischen Krieg gegen die Ukraine und der Erosion elementarer Rüstungskontrollverträge, ist die sich zuspitzende strategische Rivalität zwischen den USA und China ein weiterer wichtiger Grund für die gegenwärtige Krise der nuklearen Ordnung. Laut Ergebnissen von SIPRI stiegen die weltweiten Rüstungsausgaben im Jahr 2022 bereits das achte Jahr in Folge und erreichten mit 2.240 Mrd. US$ einen neuen Höchststand. Alle neun Nuklearmächte führen derzeit umfangreiche Modernisierungsprogramme ihrer atomaren Arsenale durch und entwickeln neue Trägersysteme und Produktionskapazitäten. Besonders China hat in den vergangenen Jahren erheblich aufgerüstet und hat sein nukleares Arsenal zuletzt auf 410 Sprengköpfe deutlich erhöht.
Fakt ist: Wir befinden uns längst wieder in einem neuen atomaren Rüstungswettlauf. In den Militärdoktrinen der Großmächte erlebt die Atombombe eine strategische Renaissance und wird dabei zunehmend auch als Mittel der Kriegsführung gesehen. Hinzu kommen die technologische Modernisierung hochkomplexer Waffensysteme und eine Vermischung von nuklearen und konventionellen Waffensystemen. Besonders die technologischen Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz, für die es bislang noch keine Regelwerke gibt, könnten bereits in naher Zukunft unvorhersehbare Folgen für die globale Sicherheit haben. Die Zeitschrift »Bulletin of the Atomic Scientists« hat angesichts dieser dramatischen Entwicklungen am 24. Januar 2023 den Zeiger der Weltuntergangsuhr auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgestellt – so nah an einer globalen Katastrophe wie noch nie seit ihrer Einführung im Jahr 1947.
All dies zeigt: Rüstungskontrolle und Abrüstung sind keine Themen längst vergangener Zeiten, sondern notwendiger als je zuvor. Wir müssen dabei allerdings auch realistisch bleiben. Momentan ist kein großer Wurf bei der Rüstungskontrolle zu erwarten. Seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine gibt es kein Vertrauen zu Putin und der russischen Führung. Auch Chinas Führung zeigt bislang kein Interesse an nuklearer Rüstungskontrolle. Dennoch sind bereits jetzt Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle notwendig, um auch in Zeiten des Krieges und zunehmender geopolitischer Spannungen ein Minimum an strategischer Stabilität zu erhalten. Nach dem Krieg könnten sie auch wichtige Instrumente sein, um verlorengegangenes Vertrauen wieder langsam aufzubauen – wenn Russland und China bereit dazu sind. Deshalb war es auch richtig und wichtig, dass die Biden-Administration im Juni dieses Jahres Moskau und Peking zu einem Dialog über nukleare Rüstungskontrolle ohne Vorbedingungen aufgerufen hat. Dass solche Bemühungen nicht vergebens sind, zeigte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in China im November 2022, bei dem das nukleare Tabu auch von Peking nochmals bekräftigt wurde. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind letztlich unerlässlich, um den Großmächtewettbewerb und die gegenseitigen Beziehungen wieder etwas berechenbarer zu gestalten. Weder im Kalten Krieg noch heute war militärische Abschreckung allein ein erschöpfendes Konzept für Sicherheit. Dies gilt umso mehr in einer multipolaren Weltordnung mit mehreren Nuklearmächten. Die einzige Alternative – ein weltweites atomares Wettrüsten – kann jedenfalls in niemandes Interesse liegen.
Dr. Rolf Mützenich ist seit 2019 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Er gehört seit 2002 dem Deutschen Bundestag an. Er wurde 1991 über eine Arbeit zu atomwaffenfreien Zonen promoviert.