W&F 1987/2

„Abschreckungsimmanent“ oder „Abschreckungskritisch“?

Zum Reykjavik-Beitrag von Wolfgang Bruckmann

von Wolfgang Zellner

Der Anspruch des Beitrags von Wolfgang Bruckmann (WB) besteht in der Beurteilung der „sowjetischen SDI-Junktimspolitik in Reykjavik“ „aus abschreckungskritischer Sicht“. Sein Ziel ist es nachzuweisen, daß die in Reykjavik von der sowjetischen Führung für die Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen bzw. die Halbierung der strategischen Atomwaffen aufgestellte Bedingung, auf SDI zu verzichten bzw. den ABM-Vertrag strikt einzuhalten, überflüssig, ja kontraproduktiv sei.

Zur Klärung der Begriffe: Unter einem Junktim kann man zwei verschiedene Qualitäten von Verbindung verstehen. Zum einen einen mehr oder weniger willkürlich, auf jeden Fall politisch hergestellten Zusammenhang zwischen einem Ziel und einem anderen. wobei dieser Zusammenhang nicht in der Sache selbst begründet liegt. Diesem Begriff von Junktim folgt WB. Zum anderen kann ein Junktim einen nicht oder schwer zu lösenden Sachzusammenhang ausdrücken. Ob Junktim im politischen Sinne oder als Sachzusammenhang: Jede Verkettung eines angestrebten (oder zugestandenen) Ziels mit einem anderen Ziel, das für die Erreichung des ersteren als Bedingung aufgestellt wird, folgt einer Logik, in der das Bedingungsziel der stärkere und ausschlaggebende Teil des Zusammenhangs ist. Unter Abschreckung verstehe ich die immer einseitige Bedrohung des einen durch einen anderen; dies impliziert notwendigerweise die eigene Nichtbedrohung, den eigenen Schutz. Eine Erhöhung der Abschreckungsdrohung kann daher direkt durch Erhöhung der offensiven Bedrohung oder indirekt durch Erhöhung des eigenen Schutzes erfolgen. Abschreckung bleibt immer einseitige Bedrohung, auch wenn sich beide Seiten gegenseitig bedrohen. Mutual assured destruction existiert nicht als gemeinsame Strategie, sondern lediglich als labile Resultante sich gegenseitig aufhebender einseitiger Bedrohungen.

Was das sowjetische Junktim in Reykjavik zwischen Null-Lösung und SDI betrifft, bin ich mit den Schlußfolgerungen von WB einverstanden. Zwischen INF und SDI besteht kein unmittelbarer militärstrategischer Zusammenhang, der Zusammenhang war vielmehr ein mit Blick auf die westeuropäische Haltung zu SDI verhandlungspolitisch gesetzter, der am 28.2.87 von der sowjetischen Führung politisch wieder gelöst wurde. Damit muß diese Frage hier nicht weiter behandelt werden.

Anders liegen die Dinge auf der strategischen Ebene. WB versucht auch hier nachzuweisen, daß ein zwingender militärstrategischer Zusammenhang zwischen strategischen Offensiv- und Defensivwaffen nicht gegeben sei und kommt in seinem „Fazit zum Junktim SDI/Strategische Atomwaffen“ zu dem Ergebnis: „Der militärstrategische Begründungszusammenhang ist auf Grund der irrationalen Prämissen von Erstschlagsszenarien fragwürdig.“ Deshalb wäre das sowjetische Junktim zwischen dem Verzicht auf SDI und der Halbierung der strategischen Offensivwaffen überflüssig.

Der Erörterung von Erstschlagsszenarien ist ein großer Teil des Papiers gewidmet. Die Ausführungen sind jedoch über weite Strecken im Urteil nicht so apodiktisch wie das eben zitierte Fazit, sondern schwanken in ihrer Charakterisierung von Erstschlagsszenarien zwischen „irrational“ und „nicht ausgeschlossen“.

Nach einer längeren Aufzählung von Gründen, warum Erstschlagsszenarien nicht funktionieren können, schreibt WB: „Erstschlagsszenarien mögen noch so unplausibel sein; solange innerhalb der Abschreckungsstruktur die waffentechnologische und strategisch-konzeptionelle Entwicklung von den jeweiligen sicherheitspolitischen Eilten als Absicht des Gegners interpretiert wird, Erstschlagsfähigkeit zu erlangen, (…) dann gewinnt dieser Umstand praktische Relevanz - trotz falscher Prämissen.“ Dies trifft natürlich nicht nur für die Einschätzung durch den Gegner zu, sondern auch für die Eigeneinschätzung einer Atomwaffenmacht bezüglich ihrer Möglichkeiten, das eigene Atomwaffenpotential einzusetzen. So forderte das Pentagon-Leitliniendokument 1982 trotz sicherlich völlig falscher Prämissen von den amerikanischen Streitkräften die Fähigkeit, „die gesamte sowjetische (und mit der Sowjetunion verbündete) militärische und politische Machtstruktur auszuschalten“ und darüber hinaus die sichere Vernichtung der „atomar und konventionell ausgerüsteten Streitkräfte und der Industrien, die für die militärische Macht von entscheidender Bedeutung sind.“1

Leider geht WB nur auf sowjetische Erstschlagsfähigkeit, nicht jedoch auf amerikanische Erstschlagsstrategien ein. Im Übrigen ist nicht primär die Frage handlungsrelevant, ob Erstschlagsstrategien irrational sind. Das sind sie immer, wie Atomwaffen überhaupt. Die Frage ist vielmehr, ob diese Irrationalität handlungsleitend wahrgenommen wird oder nicht. Daß dies eben nicht der Fall ist, zeigt WB mit einer ausführlichen Darlegung der Verbesserung der amerikanischen counterforce-Fähigkeiten durch die bis Mitte der 90er Jahre zulaufende Generation neuer strategischer Atomwaffen i.Z. mit den die U-Boot-gestützte Zweitschlagsfähigkeit der UdSSR bedrohenden, rapide gewachsenen amerikanischen Fähigkeiten zur U-Boot-Bekämpfung. Er kommt zu dem Schluß: „Es können jedoch beunruhigende technologische Entwicklungen beobachtet werden, so daß eine theoretische First-Strike-Fähigkeit mit Hilfe der rasant fortschreitenden Anti-Submarine-Warfare-Technologie (ASW) in Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann.“ Damit bestätigt WB einen militärstrategischen Zusammenhang zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zumindest als Gefahr für die unmittelbare Zukunft. Er reduziert ihn allerdings auf zwei Aspekte: Erstschlagsfähigkeit auf Grund der technologischen Entwicklung sowie die Erstschlagsbefürchtungen der UdSSR.

Dieser reduzierte, keineswegs aber aufgelöste Zusammenhang bildet den Hintergrund für den zentralen Vorschlag von WB: „Derzeit (ist) offenbar nur ein Verhandlungsansatz abrüstungsträchtig, (…) der den Ausgleich zweier gegenläufiger Interessen bewirken würde, also: - die sowjetische Erstschlagsbefürchtungen auszuräumen in der Lage ist; - das amerikanische SDI-Programm innerhalb der durch den ABM-Vertrag gesetzten Schranken unberührt läßt. M.a.W.: Es geht um die Suche nach einer weitgehend abschreckungsimmanenten und pragmatischen Lösung des Problems. Hier wird die Auffassung vertreten, daß der Schlüssel für einen Interessenausgleich in einer Abrüstungsmechanik läge, die - SDI vorerst außer Betracht lassend - vor allen Dingen die counterforce-Potentiale der Großmächte reduziert.“

Als erstes ist bei diesem Ansatz klärungsbedürftig, was gemeint sein soll: „SDI innerhalb des ABM-Vertrages“ oder „SDI vorerst außer Acht lassen“. Daß der Autor „SDI vorerst außer Acht lassen“ meint, bestätigt eine andere Textstelle, wo von einem „Verzicht auf das Junktim SDI und strategische Atomwaffen“ noch einmal die Rede ist, zumal „SDI innerhalb des ABM-Vertrages“ ja i.w. der sowjetischen Position gleichkäme. Zwei Aspekte sind an dieser Position bemerkenswert:

1. Aus der „abschreckungskritischen“ Sicht ist die Suche nach „weitgehend abschreckungsimmanenten Lösungen“ geworden. Der anfangs der Arbeit aufgestellte Anspruch ist damit aufgegeben, m.E. mit verheerenden Folgen.

2. WB stellt ein neues Junktim her zwischen der Reduzierung der Counterforce-Waffen um die Hälfte als Bedingung für das Außerachtlassen von SDI. In Frageform vermerkt er dies zwar selbst, verfolgt den Gedanken jedoch nicht weiter.

Damit drängt sich ein Vergleich auf zwischen dem sowjetischen Junktim und dem neu formulierten von WB:

Das sowjetische Junktim verknüpft zwei Dinge: Den Verzicht auf SDI mit der Halbierung der strategischen Offensivwaffen. Als bedingendes Ziel ist der Verzicht auf SDI der Dreh- und Angelpunkt der sowjetischen Position. Man könnte diese auch wie folgt formulieren: Wir reduzieren die offensive Bedrohung unter der Bedingung, daß keine neue defensive Bedrohung dazukommt. WB dreht das sowjetische Junktim um. Er sagt: Unter der Bedingung der Halbierung der strategischen Waffen unter besonderer Berücksichtigung der Counterforce-Waffen müßte man bereit sein, „SDI vorerst außer Betracht zu lassen“. Damit stellt er, ohne dies expressis verbis zu sagen, den ABM-Vertrag zur Disposition. Daran ändert nichts, daß WB weiter dafür plädiert, „den ABM-Vertrag einzuhalten und sein Regime zu stärken“, denn diese Zielsetzung hat wegen der angestrebten Außerachtlassung von SDI keine praktische Relevanz mehr.

Der Dreh- und Angelpunkt des neuen Junktims ist nicht mehr die Verhinderung einer neuen Bedrohung (SDI) durch das Festhalten am ABM-Vertrag, sondern der (noch zu diskutierende) Versuch einer Verringerung der offensiven Bedrohung durch Reduzierung der Counterforce-Waffen im Austausch gegen das Zugeständnis des de facto Gewährenlassens bei SDI. Käme ein Abkommen nach diesem Muster zustande, wäre das Wettrüsten auf der einen Seite gebremst und auf der anderen Seite - bei den modernsten Waffensystemen - beiderseits sanktioniert. Von den offensiven Möglichkeiten von Weltraumwaffen, die WB nicht erörtert, ganz zu schweigen.2

Von der logischen Struktur her - nicht den quantitativen Parametern - ist WBs Junktim baugleich mit dem amerikanischen Junktim in Reykjavik für eine zehnjährige Nichtkündbarkeit des ABM-Vertrages. Dort hatte die amerikanische Delegation als Bedingung für eine zehnjährige Unkündbarkeit des ABM-Vertrages gefordert, alle strategischen ballistischen Raketen abzuschaffen. Gemeint war damit allerdings eine Interpretation des ABM-Vertrages, die freies Testen im Weltraum erlauben und lediglich die Stationierung von ABM-Systemen verbieten würde. Diese sollte nach Ablauf der zehn Jahre erlaubt sein. Unter dem Strich bedeutete dies, SDI außer Acht zu lassen.

An dieser Stelle rächt sich bitter, daß WB die „abschreckungskritische Sicht“ verlassen hat zugunsten abstrakter abschreckungsimmanenter Lösungsmodelle, ohne zumindest jene politischen Möglichkeiten zu diskutieren, die etwa in den USA von denjenigen Kräften erörtert werden, die abschreckungsimmanent nach Lösungen suchen.

So wird an keiner Stelle des Papiers die Diskussion um den Versuch der Reagan-Administration aufgenommen, den ABM-Vertrag neu zu interpretieren. Aber gerade vom Scheitern dieses Versuches - und dafür spricht seit Senator Nunns Reden einiges - hängt wesentlich ab, ob es amerikanisch-sowjetische Verständigungsmöglichkeiten darüber geben kann, was der ABM-Vertrag erlaubt und was nicht. Die Voraussetzung, um dies überhaupt erörtern zu können, ist allerdings der politische Wille, am ABM-Vertrag festhalten zu wollen. Da WB dieses Ziel - nicht verbal, aber handlungsrelevant - aufgegeben hat, ist es kein Zufall, daß er die Interpretationsdebatte um den ABM-Vertrag, die ihn in die Problematik wieder zurückgeführt hätte, nicht aufnimmt. Ebenfalls nicht erörtert wird das im US-Kongreß bisher durchgehaltene ASAT-Testmoratorium, obwohl dies auch für die Beschränkung von SDI-Tests von Bedeutung ist.

Was den Abbau der Counterforce-Waffen im Rahmen der Halbierung der strategischen Waffen angeht, nennt WB auf amerikanischer Seite die Systeme Minuteman III, MX, Midgetman, Trident 2, Stealth-Bomber und Cruise Missiles. Das sind diejenigen Systeme, aus denen die US-Streitkräfte im Jahr 2000 zu über zwei Dritteln bestehen sollen. Wie dieser Entwicklungstrend mit dem Abbau der Counterforce-Waffen, der ja der Dreh- und Angelpunkt des Vorschlags von WB ist, in Einklang zu bringen ist, wird nicht erläutert. „Rüstungskontrollpolitisch unbedingt erfaßt müßten zudem nach Auffassung von WB die ASW-Fähigkeiten werden, da sie die U-Boot-gestützte Zweitschlagsfähigkeit bedrohen.

Wie hier allerdings die Verifizierung laufen soll, die im Grunde genommen nur darin bestehen könnte, die ASW-Fähigkeiten des Gegners - und damit gut gehütete Militärgeheimnisse - zu kennen, bleibt trotz einiger Vorschläge im Dunkel. Insgesamt erscheint das Untemehmen, prioritär die Counterforce-Waffen zu reduzieren, wenig praktikabel und vielmehr wahrscheinlich, was WB (in Frageform) selbst befürchtet: „… eine wenig erfolgträchtige Debatte darüber, was nun eigentlich erstschlagsfähige Counterforce-Waffen sind und was nicht.“

Nicht mehr nachzuvollziehen ist daß WB trotz dieser Zweifel und trotz de; Einsicht, daß „Raketenabwehr verheerende Auswirkungen auf die strategische Stabilität entfalten könnte“ und „also strikt abzulehnen ist“, festhalten kann an einem Ansatz, der für die in ihrem Erfolg fragwürdige Reduzierung von Counterforce-Waffen den Aufbau einer Raketenabwehr konzediert.

Der Fehler an WBs Arbeit ist nicht der anfangs gesetzte abschreckungskritische Ansatz, sondern ganz im Gegenteil die Tatsache, daß der Autor diesen Anspruch im Verlauf der Arbeit völlig zugunsten von „pragmatischen“ Lösungen aufgegeben hat, die keinerlei Verbindung zum Ausgangspunkt mehr aufweisen. Der Vorschlag, wider besseres Wissen den Aufbau einer neuartigen Bedrohung aus dem Weltraum zuzulassen zugunsten eines Abbaus von Bedrohung auf der Erde, ist kein Weg heraus aus den tödlichen Bedrohungen der atomaren Abschreckung, sondern im Gegenteil geeignet, die Abschreckung zu stärken und das Wettrüsten auf die modernsten Sektoren zu verlagern.

Es gibt m.E. durchaus Möglichkeiten, pragmatische und abschreckungsimmanente Lösungen mit der Perspektive der Überwindung der atomaren Abschreckung zu verbinden. Einen solchen Denkansatz sehe ich in dem Versuch, auf der Grundlage des ABM-Vertrags in der bisherigen Interpretation auszuhandeln, welche konkreten Tests erlaubt sind und welche nicht und dabei im Detail kompromißbereit vorzugehen. Einen solchen Vorschlag hat die Union of Concerned Scientists gemacht.3 Die Voraussetzung für jede solche Lösung ist aber, nichts zur Disposition zu stellen, was schon einmal erreicht worden ist, keine Drohung neu aufzubauen, auf deren Nichteinsetzung man sich schon einmal verständigt hat. Das gilt zu allererst für den ABM-Vertrag.

Anmerkungen

1 Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/82, S. 1014.Zurück

2 Vgl. Jürgen Altmann, Laserwaffen, HSFK-Report 3/1986, S. 18f.Zurück

3 Vgl. Gert Kren u.a., Von der Rüstungskontrolle zur Abrüstung? HSFK-Report 1/1987, S. 47. Zurück

Wolfgang Zellner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro von Katrin Fuchs, SPD-MdB.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1987/2 30 Jahre »Göttinger Erklärung«, Seite