W&F 2011/2

Abziehen, um zu bleiben

Der Plan B für Afghanistan

von Arne C. Seifert

Die NATO und mit ihr die Bundesregierung versuchen, die kritische Öffentlichkeit in Sachen Afghanistan-Krieg zu beschwichtigen. Immer wieder heißt es: Der Rückzug der Truppen ist beschlossen, er beginnt in diesem Jahr – wenn die Umstände es erlauben. Aber es sind jene »Wenn« und »Umstände«, die misstrauisch machen und beunruhigen. Denn zu den »Umständen« zählen nicht nur die Unsicherheiten bezüglich der innerafghanischen Entwicklung, dazu gehören auch die ökonomischen und strategischen Interessen der NATO-Staaten, die mit ihren Truppen in Afghanistan stehen.

Die NATO erhält die essentiellen äußeren Grundlagen für ihren Kriegseinsatz in Afghanistan weiterhin aufrecht. Weder ist der Beistandsfall nach Art. 5 des NATO-Vertrags ausgesetzt, noch hat die NATO beim UN-Sicherheitsrat die Einstellung der Maßnahmen des Beistandsfalls beantragt, wie es Absatz 2 des Art. 5 vorsieht: „Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.“1 Wenn die Bundesregierung ihre Versprechungen ernst meint, dann muss sie als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat beantragen, entsprechende Schritte nach Art.5/Abs.2 einzuleiten. Schließlich macht es nur Sinn, an dem alten Mandat festzuhalten, wenn man in irgendeiner Form zusammen mit den USA in Afghanistan militärisch präsent bleiben will.

Anhaltende Präsenz in Afghanistan?

Für Letzteres spricht die intensive Diskussion unter US-Sicherheitsexperten über ein Verbleiben der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan nach 2014. Im Mittelpunkt der Erörterungen steht ein Wechsel weg vom primär militärischen Afghanistan-Szenario hin zu einem gemischt politisch-militärischen. Das strategische Ziel ist eine langfristige Präsenz in Afghanistan mit einer Hegemonieprojektion in die angrenzenden Regionen. Anders gesagt: Was die USA auf militärischem Wege bisher nicht erreichen konnten, soll jetzt mit einem Strategiewechsel erreicht werden. Dabei geht es um »state building« und verstärkten »zivilem Aufbau«, in der Diskussion ist aber auch die Teilung Afghanistans entlang seiner ethnischen Bruchlinien in einen paschtunischen Osten und Süden, einen tadschikischen, usbekischen, hazarischen Norden und Westen sowie eine Kernregion um Kabul.

Unter Stichworten wie „Plan B“ für Afghanistan, „Wie der Krieg doch noch gewonnen werden kann“, „Finish the Job“ und „Withdraw in order to stay“, führen prominente US-Politiker und -Diplomaten das Wort, darunter Robert D. Blackwill vom Council of Foreign Relations und ehemaliger Botschafter in Indien, Paul D. Miller von der National Defense University und ehemaliger Direktor für Afghanistan im US National Security Council unter George W. Bush und Barack Obama.

Originalzitate: „Ein Sieg ist doch noch möglich, wenn den Truppen und ihren zivilen Partnern ausreichend Zeit gegeben wird, um ihre Mission zu vollenden.“ 2 „Zeit ist die wichtigste Ressource, welche die USA (in Afghanistan – A.S.) brauchen, nicht mehr Truppen.“ 3 „Obama sollte ISAF die Zeit lassen“, welche sie benötigt, um die „Schwäche der afghanischen. Regierung“ zu beheben, welche die „wichtigste strategische Bedrohung ist.“ 4 Letzteres erfordere, dass die „Obama-Regierung ein dramatisch anspruchsvolleres Capacity Building-Programm auflegt und dieses mit einer kraftvoll verstärkten zivilen Präsenz in der afghanischen Verwaltung und im Rechtssystem beginnt.“ 5

Weil ein Sieg noch möglich wäre, solle, so Blackwill, „die US-Regierung aufhören, über Exit-Strategien zu reden, sondern die USA auf die Übernahme einer langfristigen Kampfmission von 35.000 bis 40.000 Mann orientieren.“ 6

Da „Washington sich damit zu arrangieren hat, dass die Taliban den größten Teil des paschtunischen Ostens und Südens unvermeidbar kontrollieren werden“,7 wird in der Diskussion auf eine Doppelstrategie orientiert, der zufolge die „USA und ihre afghanischen sowie ausländischen Partner eine umfassende Antiterrorismus-Strategie in Paschtu-Afghanistan und eine Nation-Building-Strategie im Rest des Landes starten, der sie sich mindestens für die nächsten sieben bis zehn Jahre verpflichten.“ 8 „Eine de-facto-Teilung (Afghanistans – A.S.) bietet der Obama-Administration die beste Alternative zu einer strategischen Niederlage.“ 9

Der »Plan B«

Der Präsident Obama empfohlene »Plan B« sieht Folgendes vor: „Die USA und ihre Verbündeten ziehen ihre Bodenkampftruppen über mehrere Monate hinweg vom größten Teil Paschtu-Afghanistans ab, einschließlich Kandahar. ISAF beendet die Kampfhandlungen in den Bergen, Schluchten und städtischen Gebieten Süd- und Ost-Afghanistans. […] Gleichzeitig konzentriert Washington seine Kräfte auf die Verteidigung der von Paschtunen nicht dominierten Bereiche im Norden und Westen Afghanistans, einschließlich Kabul. Den afghanischen Taliban wird ein modus vivendi angeboten, in dem beide Seiten übereinkommen, das von ihnen jeweils kontrollierte Gebiet nicht zu erweitern.[…] Washington bezieht in dieses Unternehmen Tadschiken, Usbeken, Hazaras und unterstützungsbereite Paschtunen ein, ebenso Afghanistans Nachbarn und den UN-Sicherheitsrat (!).“ 10

In dieser Diskussion wird auch das strategische Ziel formuliert: „Mit ihrer anhaltenden militärischen Präsenz in Afghanistan beabsichtigen die USA, für viele Jahre eine einflussreiche Macht in Süd- und Zentralasien zu bleiben.“ 11Es geht also um ein stabiles geopolitisches »Standbein« der USA in unmittelbarer Nachbarschaft zu Zentralasien, China, Pakistan, Iran, dem Arabischen Meer und Persischen Golf.

Bereits 2005 stellte eine Studie für die US-Luftstreitkräfte fest, dass „das US-Militär sich nicht einfach aus der Region verabschieden kann, wenn die »Operation Enduring Freedom« beendet oder verringert wird.“ 12 Vielmehr müssten die USA für eine ganze Reihe von Szenarien vorbereitet sein: „Intervention in einen indisch-pakistanischen Krieg, Unterstützungsmissionen von Ländern, die von Anti-Terror- oder Anti-Aufstandsoperationen betroffen sind; Erdöl- und Erdgasleitungssicherheit.“ 13 „Kein anderer Platz würde die USA dichter an die pakistanisch-indische Grenze führen, weder Oman oder Thailand noch Diego Garcia.“ 14

Es lässt sich nicht voraussagen, ob und welche dieser »Plan B«-Varianten sich durchsetzen. Dass sie eine Rolle spielen ist aber sicher, da sie den weltpolitischen Interessen der USA entsprechen. Ihre Reflexion finden sie in der Out-of-Area-Orientierung der NATO, die laut General Kujat das Gebiet „Kaukasus, Nah- und Mittelost, Mittelmeerraum, Afrika südlich der Sahara“ 15 einschließt.

Diese Verquickung erlaubt zu vermuten, dass hinter den Tönen, wie, man dürfe einen „Abzug nicht überstürzen“ und die „Afghanen nicht allein oder den Taliban überlassen“, auch hierzulande Überlegungen zu einem »>Plan B« bestehen. Noch wird das alles in leisen Tönen vorgetragen. Aber wer genau hinhörte, dem entging nicht, dass auf der Münchner Sicherheitskonferenz die EU-Außenbeauftragte Ashton davon sprach, die EU werde noch lange in Afghanistan bleiben.

Bei den Entscheidungen über die weitere Afghanistan-Politik der westlichen Allianz und damit auch der Bundesregierung geht es nicht nur um Krieg oder Frieden in Afghanistan, es geht um die strategische Grundorientierung: Wird die auf weltweite militärische Intervention gerichtete Politik beibehalten oder überwunden?

Das internationale Kräfteverhältnis verändert sich, aufsteigende Staaten machen der Transatlantischen Allianz ihr Machtmonopol streitig. Die Bewegungen und Gegenbewegungen großer Mächte drohen miteinander zu kollidieren. Die »Rückkehr zum Krieg als Mittel in der internationalen Politik« von Seiten der westlichen Allianz läuft unvermeidlich auf die Gefahr einer Internationalisierung des Kriegs selbst hinaus. Ein neuralgischer Punkt ist und bleibt hier Afghanistan mit seiner west-, süd- und zentralasiatischen Nachbarschaft. Wer aus der Transatlantischen Allianz hierher geht um zu bleiben, um Macht und Überlegenheit zu »projizieren«, schaut einigen seiner Konkurrenten – China, Indien, Russland, aber auch Iran – direkt in die Augen.

Militär-politische Rückkehr in die Weltpolitik

Am 12. September 1990 verpflichtete sich die Bundesrepublik im Vertrag »Über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland« dazu, „dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“.16 Elf Jahre später, nach dem 11. September 2001, erklärten Georg W. Bush und seine Berater17 dem »Terror« den Krieg. Den folgenden NATO-Beistandsbeschluss nutze die deutsche politischen Klasse zur militär-politischen Rückkehr Deutschlands in die Weltpolitik. Der Charakter, den jene Rückkehr in ihrem ersten großen »Probelauf« in Afghanistan bloß legte, unterscheidet sich von dem der USA im Irak lediglich durch seine völkerrechtliche Veredelung vermittels eines UN-Mandats.

Die neusten Meldungen signalisieren Zeitdruck: Das afghanische Präsidentenamt teilte anlässlich eines Besuches von US-Verteidigungsminister Gates am 6. März 2011 mit, dass zwischen beiden Seiten Verhandlungen über ein »Abkommen zur dauerhaften Stationierung amerikanischer Truppen und zu einer Sicherheitspartnerschaft« aufgenommen wurden. „Washington wünsche die Verhandlungen schnellstmöglich zum Abschluss zu bringen. Ein ähnliches Abkommen hat Amerika mit dem Irak geschlossen.“18 Bundesaußenminister Westerwelle erklärte auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die von der Nato geführte Schutztruppe (Isaf) sei gemeinsam nach Afghanistan gegangen und werde auch gemeinsam herausgehen.19

Wird sie das? Auch dann, wenn die USA dauerhaft in Afghanistan bleiben? Die Entscheidung über ein weiteres Verbleiben der Bundeswehr in Afghanistan bietet vielleicht eine letzte Chance für eine Neubesinnung über den Charakter deutscher Außen- und Sicherheitspolitik als Friedenspolitik. Militärisch an der Seite der USA in Afghanistan wird das nicht gelingen.

Anmerkungen

1) Nordatlantikvertrag vom 4.4.1949, Art.5. In: Völkerrechtliche Verträge, 8.Auflage 1999, Beck-Texte, S.43.

2) Paul D. Miller: How the War in Afghanistan Can Be Won. Foreign Affairs, Januar-Februar 2011, S.52.

3) Ebenda, S.61.

4) Ebenda, S.65.

5) Ebenda.

6) Robert D. Blackwill: Plan B in Afghanistan. Foreign Affairs, Januar-Februar 2011, S.44.

7) Ebenda.

8) Ebenda.

9) Ebenda.

10) Ebenda, S.45.

11 ) Ebenda, S.46.

12) Oliker, Olga und David A. Shlapak (2005): US Interests in Central Asia. Policy, Priorities and Military Roles. Prepared for the United States Airforce. Santa Monica: Rand Corporation, RAND Project Air Force, p 44.

13) Ebenda, S.46.

14) Ebenda, S.42.

15) General Harald Kujat, Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, Montagsgespräch der Rheinmetall DeTec AG, 7.5.2005; http://www.rheinmetall-detec.de/index.php?lang=2§fid=2987.

16) Zwei plus Vier Vertrag, Artikel 2. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Vertragsarchiv.

17) Es sei daran erinnert: Paul D. Miller war im Council für Afghanistan zuständig.

18) FAZ, Online-Ausgabe, 8.3.2011, S.1.

19) Ebenda.

Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a.D., ist Mitglied des Vorstands des Verbandes für internationale Politik und Völkerrecht, Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/2 Kriegsgeschäfte, Seite 41–42