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W&F 1997/2

Alternative zur NATO-Erweiterung: Sicherheitsgürtel auf Gegenseitigkeit

von Nikolai Izvekov

In den Diskussionen über die NATO-Erweiterung wurde bisher scheinbar darauf verzichtet, eine vernünftige Alternative zur Ausdehnung der Allianz nach Osten zu erörtern. Zumindest auf der offiziellen Ebene herrscht im Westen die beharrlich vertretene Ansicht, es gebe keine reale Alternative zur Erweiterung. Der in Rußland wiederholt vorgetragene Vorschlag eines gesamteuropäischen Systems kollektiver Sicherheit blieb sehr allgemein und wurde bisher nicht ausreichend ausgearbeitet. Doch in verschiedenen russischen Zeitungen, insbesondere in der »Nezavissimaya gazeta«, erschienen Artikel mit wichtigen Elementen und Anregungen für ein alternatives Konzept zur NATO-Osterweiterung.

Als eine mögliche Variante für einen Kompromiß über die bisherigen Erweiterungspläne der NATO wurde Rußlands Beitritt zur politischen Organisation der NATO genannt. Das würde sicher Wesen und Struktur der Allianz stark verändern. Ein weiterer Vorschlag – an dem vor allem eine Gruppe kompetenter russischer Politikwissenschaftler arbeitet – betrifft die Formulierung gegenseitiger Sicherheitsgarantien für die Staaten Zentral- und Osteuropas seitens der NATO und Rußlands sowie die Schaffung einer Zwischenzone in dieser Region des europäischen Kontinents.

Allerdigs fehlt bisher eine – der Komplexität des Themas entsprechende Zusammenfassung der Vorschläge in einem einheitlichen Konzept; ein Entwurf, dessen Umsetzung zur Errichtung eines neuen Systems kollektiver Sicherheit in Europa führen könnte. Schlüsselelement für die Realisierung eines solchen Entwurfs wäre ohne Zweifel der Abschluß eines weitreichenden »Sicherheitsvertrages« zwischen Rußland (GUS) und der nordatlantischen Allianz. Dieser Vertrag sollte nicht nur Verpflichtungen bezüglich des Gewaltverzichts (Nichtangriffspakt) enthalten, sondern auch umfassende Vorkehrungen vorsehen. Er sollte die gleichberechtigten Kooperationenen zwischen den Beteiligten auch im militär-politischen Bereich umfassen und sowohl der Wahrung einer gesamteuropäischen Sicherheit als auch der Neutralisierung neuartiger Bedrohungen der internationalen Stabilität (internationaler Terrorismus etc.) dienen. Die Umsetzung eines solchen Vertrages könnte zur Schaffung bilateraler Konsultationsmechanismen in Sicherheitsfragen führen.

»Sicherheitsvertrag« NATO-Rußland

Die Idee, einen besonderen Vertrag zwischen NATO und Rußland auszuarbeiten, ist nicht neu. In einigen Staaten wurde sie bei verschiedenen Gelegenheiten angesprochen, jedoch nie im Detail ausformuliert.

Der Abschluß eines »Sicherheitsvertrages« hätte den Beitritt Rußlands zur Allianz nicht zwangsläufig zur Folge. (Die direkte Mitarbeit Rußlands in der NATO wird weder in den europäischen Staaten noch in unserem Land als die vielversprechendste Lösung angesehen.) Sie bedeutete vielmehr die vertragsmäßige Institutionalisierung der strategischen Partnerschaft zwischen der atlantischen Gemeinschaft und der Gemeinschaft der nordeurasischen Staaten. So ließe sich eine der wichtigsten Säulen des zukünftigen gesamteuropäischen Systems kollektiver Sicherheit aufstellen, die noch langfristiger gedacht zu einem grundlegenden Element für die Bildung einer globalen Sicherheitsstruktur im Rahmen der UNO werden könnte. Die Vorbereitung eines solchen Vertrages erfordert fraglos einige Zeit, wichtiger noch wären die notwendigen Überlegungen über die neuen geopolitischen und geostrategischen Gegebenheiten auf dem europäischen Kontinent und in den umliegenden Gebieten.

Die Verwirklichung einer vertraglich gesicherten Partnerschaft mit Rußland würde zweifellos eine Transformation der NATO von einer geschlossenen militär-politischen Formation hin zu einer offeneren Organisation erleichtern, die nicht nur Probleme gemeinschaftlicher Verteidigung, sondern auch die Fragen allgemeiner Sicherheit in der nördlichen Hemisphäre lösen könnte.

Nichtmitglieder der Allianz einschließlich Rußlands – sind an einer Transformation der NATO interessiert, die dem Aufbau eines wirklichen Sicherheitssystems für ganz Europa dienlich wäre.

Mehr Sicherheit für »Zwischenstaaten«

Wie bereits gesagt, könnte ein Sicherheitsvertrag zwischen der NATO und Rußland zu einer der tragenden Säulen für das vorgeschlagene gesamteuropäische System werden. Für eine große Gruppe von Staaten in Zentral-, Nord- und Südosteuropa (dem Balkan), ist der militär-politische Status z. Zt. unsicher. Einige dieser Staaten streben den Beitritt in die NATO an, während andere wie Österreich, Finnland und Schweden danach trachten, ihren gegenwärtigen Nichtalliierten-Status zu erhalten, und wieder andere Staaten zwischen dem Beitritt zur NATO und der Schaffung eines neuen, zwischen den Parteien stehenden Blocks hin- und herschwanken.

Viele Staaten haben inzwischen verstanden, daß eine einfache Erweiterung der NATO nach Osten keine Lösung ihrer Sicherheitsprobleme bringen wird. Im Gegenteil, eine solche Erweiterung könnte vielmehr zu einer neuen Zuspitzung, zu neuen Teilungslinien auf dem europäischen Kontinent führen. Es muß damit gerechnet werden, daß durch die Abgrenzung neue Spannungen entstehen, die nicht nur die Beziehungen zu Rußland belasten, sondern auch das Verhältnis der »neuen« NATO-Mitgliedsstaaten in Zentraleuropa zu jenen Nationen, die außerhalb der Allianz verbleiben. Schließlich können wir mit Sicherheit sagen, daß die Aufnahme einiger neuer Mitglieder in die NATO auch die Probleme innerhalb der Allianz, z.B. zwischen alten und neuen Mitgliedern, nicht aus der Welt schaffen wird.

Die Schaffung eines die genannten Staaten einschließenden »Sicherheitsgürtels auf Gegenseitigkeit« (SGG) wäre die sinnvollste Antwort auf die sicherheitspolitischen Probleme dieser Länder, die im geographischen Sinne zwischen Ost- und Westeuropa liegen. Mit einem solchen »Gürtel« soll kein neuer militär-politischer Block oder Zusammenschluß von Nationen in Zentral- und Osteuropa geschaffen werden.

Sinnigerweise sollte ein Vertrag über einen SSG beinhalten, daß die Territorien der »Gürtel«-Staaten in keiner Weise für aggressive und feindliche Aktionen gegen den Westen oder gegen Osteuropa genutzt werden dürfen. Als Gegenleistung erhalten die Staaten des SGG klar definierte Garantien sowohl von der NATO als auch von Rußland. Das Prinzip doppelter Garantien könnte bei Bedarf durch einige bilaterale oder multilaterale Gewaltverzichtsabkommen zwischen einzelnen »Gürtel«-Staaten gestärkt werden. Die SGG-Staaten sollten sich ihrerseits verpflichten, auf ihrem jeweiligen Territorium weder Atomwaffen noch fremde Truppen und Stützpunkte zu stationieren. Von größter Bedeutung ist auch, daß diejenigen Staaten des »Gürtels«, die dem Vertrag über konventionelle bewaffnete Streitkräfte in Europa nicht angehören, diesem nach seiner Neuformulierung beitreten. Damit würde der KSE-Vertrag zu einem wirkungsvollen Instrument für die Konsolidierung der Sicherheit nicht nur in diesem »Gürtel«, sondern in Gesamteuropa.

Ökonomische und politische Integration bei militärischer Neutralität

Diese Staaten müssen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum SGG nicht darauf verzichten, sich an dem natürlichen Prozeß wirtschaftlicher und politischer Integration z.B. in der EU zu beteiligen. Einige der »Gürtel«-Staaten gehören bereits der EU an. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß einige der »Gürtel«-Staaten schlußendlich der NATO beitreten werden (vorausgesetzt, sie bleiben bei ihrem »Nein« zu fremden Truppen und Stützpunkten auf ihrem Boden), während andere wahrscheinlich eine engere militärische Kooperation mit der GUS vorziehen. Diese Fragen könnten in der Formierungsphase des SGG gelöst werden, die im Rahmen und unter aktiver Mitwirkung der OSZE-Strukturen ablaufen könnte. Im Rahmen ihrer Verteidigungsmöglichkeiten könnten die SGG auch an friedenserhaltenden OSZE- oder UNO-Maßnahmen mitwirken.

Die Idee, im Zentrum Europas eine besondere, von Atomwaffen freie und nicht weiter mit der extremen Konzentration konventioneller Truppen belastete Zone einzurichten, ist zumindest einige Jahrzehnte alt. Es sei an den einst bekannten »Rapazki-Plan« (Rapazki war in den fünfziger Jahren polnischer Außenminister) erinnert sowie an die polnischen Vorschläge, die einige Jahre später unterbreitet wurden. Der Kalte Krieg verhinderte damals ihre Umsetzung. Doch das SGG-Konzept ist nicht einfach eine Rückkehr zu der »guten alten Idee« der fünfziger Jahre. Heute geht es darum, Schlußfolgerungen aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu ziehen und Vorschläge entsprechend den neuen Bedingungen auf dem europäischen Kontinent nach dem Kalten Krieg zu entwickeln.

Eine tatsächliche Realisierung des SGG-Konzepts könnte:

  • die gegenwärtigen, aus der Unsicherheit ihres militär-politischen Statuses entstehenden Sorgen vieler Staaten in einer strategisch wichtigen Region Europas zerstreuen;
  • die Gefahr einer neuen Blockkonfrontation in Europa bannen, die aufgrund der vorliegenden Pläne, die NATO-Strukturen auf einige neue Gebiete auszudehnen, bereits im Werden begriffen ist;
  • es ermöglichen, die gegenwärtige militär-politische Struktur zu erhalten und gleichzeitig die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, sie im Rahmen eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems unter Berücksichtigung der neuen Gegebenheiten in Europa auf optimale Weise zu transformieren;
  • günstigere Möglichkeiten für die SGG-Staaten schaffen, so daß diese in der Zukunft ihre natürliche Rolle erfolgreich ausfüllen können – eine »Brücke« zwischen West und Ost zu sein;
  • die ungeheure Verschwendung von Geld und Ressourcen neuer und alter NATO-Staaten verhindern, die diese für die Umrüstung aufwenden müßten und deren Folge zumindest eine neue Welle des Rüstungswettlaufs auf dem europäischen Kontinent wäre.

Schließlich sollte erwähnt werden, daß – neben dem Vertrag zwischen der NATO und Rußland – die Realisierung des SGG-Konzepts, wenn sie unter aktiver Teilnahme der OSZE geschieht, eine der bedeutenderen Grundlagen für das vorgeschlagene gesamteuropäische kollektive Sicherheitssystem werden könnte.

Nikolai Izvekov, Foreign Policy Association, Mitglied der International Information Academy. Übersetzung aus dem Englischen: Marianne Kolter.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1997/2 Quo vadis Europa, Seite