Alternativen denken, Handlungsräume eröffnen
Um mich herum erlebe ich den Militarisierungsschub alltäglich: den der Köpfe und Herzen in den Gesprächen mit Nachbar*innen, der rüstungs- und exportpolitischen Entscheidungen, wenn ich die Zeitung öffne, der Popkultur, wenn Kampfpanzer zu niedlichen Tierchen werden (»free the leo«), aber auch der Rhetorik, der Diplomatie und der internationalen Foren. Ich meine: Was in der Vergangenheit ein vermeintlicher Konsens über militärisch eher zurückhaltendes außenpolitisches Handeln und die notwendige Ergänzung militärischer Mittel durch Diplomatie, Zivile Konfliktbearbeitung und Mediationsexpertise war, wird immer weiter in eine sicherheitspolitische Engführung gedrängt.
In diesen Zeiten fällt es schwer, Alternativen zu denken und zu diskutieren oder mit diesen durchzudringen. Allzu leicht werfen sich Diskussionspartner*innen Vorwürfe von Kriegsrechtfertigung, Mitschuld durch Untätigkeit oder anderes an den Kopf – und auch nicht immer ist die kühle Argumentation für alle überzeugend, gar nachvollziehbar. Das geht mir ganz persönlich so und auch in der Friedenswissenschaft ist die fachinterne Diskussion voll entbrannt.
Als W&F verstehen wir unseren Auftrag so, dass wir die Ergebnisse der Friedens- und Konfliktforschung nutzen sollten für die Suche nach gewaltaversen Interventionsformen für Prävention, Deeskalation und Konflikttransformation. Wir sind überzeugt, dass Friedenswissenschaft hierzu empirisch belastbare Daten und Konzepte zur Verfügung stellt, die noch Jahre später wieder aktualisierbar sind: So beispielsweise die Kritik an der Dynamik, die Dieter Senghaas vor 50 Jahren als „organisierte Friedlosigkeit“ »autistischer« Systeme (heute müsste ein anderer Begriff gewählt werden) bezeichnet hatte. Letztere kam in 2022 wieder voll en vogue unter dem Deckmantel »realistischer« Politik, die Kritik daran hält auch jetzt noch stand. Oder als ein anderes Beispiel die Anwendung der »Neun Stufen der Konflikteskalation« von Friedrich Glasl für die Analyse der Eskalationsgeschichte zwischen Russland und der Ukraine.
Daher nähern wir uns mit diesem Heft der Frage, welche Handlungsräume eröffnet werden könnten für Deeskalation, Kooperation, alternative Sicherheitserzählungen und welche Gefahren in einer dauerhaften Bedrohungserzählung liegen. Es ist die Suche nach gangbaren Alternativen. Diese Perspektive verbindet diesmal alle Beiträge des Schwerpunktes mit den weiteren Beiträgen in der hinteren Hälfte des Heftes und dem Dossier, das die Frage nach dem Auftrag und Wesensgehalt der Friedensforschung stellt (»Quo vadis Friedensforschung?«).
Heinz Gärtner eröffnet diesen Schwerpunkt mit einem Blick auf »engagierte Neutralität«, also einer außenpolitischen Form der Positionierung, die sich nicht auf die Logiken eskalierender Militärbündnisse einlässt ohne dabei inhaltlich einen normativen Kompass vermissen zu lassen. Lukas Mengelkamp ergänzt die historisch informierte Perspektive um einen Blick in die Geschichte der »alternativen Verteidigungskonzepte«. Er diskutiert darin die deeskalierenden Möglichkeiten defensiver Verteidigungskonzeptionen – die immer noch militärische Verteidigung wären –, die ein Gegenkonzept zu massiven Battle Group Aufstellungen im Baltikum bieten könnten.
Tobias Rothmund führt uns die gesellschaftlichen Folgen andauernder Bedrohungskommunikation vor Augen und weist Auswege. Simon Weiß verweist uns auf die Notwendigkeit, schon heute über die Eskalation hinauszudenken, und fordert uns auf, die Rolle und Aufgabe der OSZE auch in hoch eskalierten Situationen immer neu zu denken und zu sichern.
Alternativen denkbar zu machen, Handlungsräume zu eröffnen – das ist auch der Kern eines Anliegens in eigener Sache: Seit 40 Jahren erscheint W&F. Im Oktober 1983 hielten die Leser*innen die erste gedruckte Ausgabe in Händen. In vierzig Jahren hat sich vieles verändert, aber Sinn und Zweck einer friedenspolitischen Vierteljahreszeitschrift sind immer noch gegeben – heute vielleicht stärker, als wir in den letzten Jahren gehofft hatten. Gerade in diesen Zeiten und der schieren Masse an zur Verfügung stehenden Wissensangeboten zur Frieden und Konflikten, Krieg und Gewalt muss W&F helfen, das fast unüberblickbare »Zuviel« zu sichten, zu lichten, zu bewerten und zu »übersetzen«.
Nun also dieses 40. Jubiläum in einer Zeit in der Friedenswissenschaft, Friedensbewegung und allgemeine politische Öffentlichkeit vor riesigen Herausforderungen stehen – immer noch und wieder neu. Daher bieten wir zum Jubiläum eine große Plattform, um gemeinsam friedenswissenschaftliche Erkenntnisse, Theorien, Konzepte und auch Alternativen zu einem militarisierten »Normal« zu diskutieren, die uns helfen können, zu einer friedlicheren Welt zu gelangen. Wir laden dazu herzlich zum Symposium »Wissenschaft für den Frieden« am 6. und 7. Oktober 2023 nach Bonn ein (siehe Aufruf für Beiträge, S. 52).
Passend zu diesem Jubiläumsjahr erscheint W&F nun auch als vierfarbig gedruckte Zeitschrift, wir hoffen, es gefällt Ihnen und euch. Das farbige Register soll eine leichtere Übersicht über die Themen im Heft bieten, die im Heft abgedruckte Kunst erhält endlich ihren angemessenen Stellenwert. So wollen wir das Lesevergnügen auf die nächste Stufe heben,
Ihr David Scheuing