W&F 2016/4

Am Rande des Imperiums

Chinas Staatskapitalismus zwischen
Rivalität und Interdependenz

von Jenny Simon

China hat so stark an internationaler Bedeutung zugenommen, dass heute eine Herausforderung der US-geführten Weltordnung durch ein chinesisches Gegenprojekt diskutiert wird. Chinesische Eliten scheinen derzeit aber weder willens noch in der Lage, ein sino-kapitalistisches Ordnungsmodell international zu verankern. Wahrscheinlicher ist die Etablierung eines internationalisierten Staatskapitalismus als alternatives Ordnungsmuster zur liberalen Wirtschaftsordnung.
Ob es in Folge zur Integration der aufstrebenden Schwellenländer in den US-geführten, expansiv-liberal ausgerichteten Wirtschaftsraum oder zur Konsolidierung eines staatskapitalistischen Ordnungsmodells kommt, ist noch offen.

China gewann in der vergangenen Dekade derart an ökonomischer Bedeutung, dass heute die Frage nach einer Herausforderung der US-geführten Weltordnung durch einen chinesischen Gegenentwurf im Raum steht. Als Anzeichen werden etwa die Entwicklung Chinas zur zweitgrößten Ökonomie und größten Handelsnation bewertet. Auch in den globalen Finanzbeziehungen wird China seit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise eine zunehmend wichtige Rolle beigemessen. Insbesondere die Höhe der chinesischen Devisenreserven, der Gläubigerstatus gegenüber den USA sowie Chinas neue Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit werden als Faktoren genannt. Schließlich verweist auch die führende Rolle in der zunehmenden politischen Kooperation aufstrebender Schwellenländer auf Chinas wachsende geopolitische Bedeutung.

Allerdings besteht Uneinigkeit in der Bewertung dieser Entwicklung. Die Einschätzungen reichen von einer Integration Chinas in die liberale Weltwirtschaft über die Entstehung einer multipolaren Weltordnung bis hin zur Ablösung der liberalen Ordnung durch einen globalen Sino-Kapitalismus (Boris 2016; McNally 2012; Arrighi 2008; Panitch and Gindin 2008). Die Frage, ob es zur Entwicklung eines alternativen Ordnungsmodells chinesischer Prägung kommt und welche Konflikte damit einher gehen könnten, ist nicht nur ausschlaggebend für die weitere Dynamik des globalen Kapitalismus, sondern wird auch Einfluss auf die Frage künftiger militärischer Konfrontationen nicht nur im asiatischen Raum haben.

Hand in Hand

Betrachten wir die Entstehung eines Ordnungsmodells chinesischer Prägung in einer längerfristigen Perspektive, so fällt zunächst nicht die Konkurrenz, sondern der wechselseitige Zusammenhang zwischen liberaler Weltmarktordnung und der chinesischen Entwicklungsweise auf. Dieser entstand vor allem über zwei Kanäle: Zum einen begegnete man im Kontext der weltwirtschaftlichen Reorganisation seit den 1970er Jahren der Profitabilitätskrise in den Zentrumsökonomien mit einer Verlagerung von Wertschöpfung nach China und in andere (semi-) periphere Ökonomien. Während dies in den Zentren zur Deindustrialisierung und gleichzeitig zum Import günstiger Konsumgüter aus den neuen Produktionsstandorten führte, trugen der Zufluss von Kapital und die Ansiedlung von Produktionskapazitäten in Kombination mit den marktwirtschaftlichen Reformprozessen in China maßgeblich zur Entstehung einer auf Export ausgerichteten Industrialisierungs- und Wachstumsstrategie bei. Die zunehmend internationalisierten Finanzbeziehungen bilden das zweite Bindeglied: Deren Liberalisierung ermöglichte die Investition der in der Exportproduktion erwirtschafteten Devisenreserven in amerikanische Staatsanleihen. Dieser Kapitalexport in die USA trug wesentlich zur Ausweitung der Finanzwirtschaft in den USA bei und finanziert indirekt den Import chinesischer Produkte (Ivanova 2013, S. 65; Ho 2008).

Die chinesische Entwicklungsweise entstand zunächst auf Basis der sich unter US-Führung etablierenden liberalen Weltmarktordnung. Andersherum trug die Entwicklungsweise Chinas und anderer semiperipherer Ökonomien zur Transformation der wirtschaftlichen Entwicklung der USA bei. Die Ordnungsstrukturen standen, bei ungleichen Machtverhältnissen, zunächst nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ermöglichten sich in gewisser Weise gegenseitig.

Von Chinas Entwicklungsweise …

Chinas ökonomische Strategie entwickelte sich im Rahmen dieses Wechselverhältnisses schrittweise zum Erfolgsmodell mit eigenständiger Entwicklungsweise. Diese ist durch eine neue, wettbewerbs­orientierte Form des „Staatskapitalismus 3.0“ (ten Brink und Nölke 2013) gekennzeichnet. Wertschöpfung erfolgt auf Basis eines Niedriglohnmodells im Rahmen von heterogenen Unternehmensformen, die überwiegend durch nationales Kapital dominiert werden, um eine Kontrolle ökonomischer Schlüsselbereiche durch ausländisches Kapital zu vermeiden (Nölke et al. 2015, S. 546ff.; ten Brink 2014, S. 38). Die Akkumulationsstrategie ist auf die Exportproduktion sowie massive staatlich geförderte Investitionen in Industrie- und Infra­strukturprojekte gerichtet. Gleichzeitig wird der Binnenmarkt immer wichtiger. Die chinesische Ökonomie ist dabei zwar abhängig von globalen Märkten und ausländischen Investitionen, zugleich führt die starke Regulierung und Abschirmung von Schlüsselsektoren, des Binnenmarkts und des Finanzsystems aber zu einer asymmetrischen Integration in den Weltmarkt.

Ökonomische Stabilität und makro­ökonomische Erfolge stellen zusammen mit der Kontrolle zentraler Wirtschaftsbereiche ein wesentliches Moment des Machterhalts der politischen Eliten in den Partei- und Staatsapparaten dar.

Mit der »Go-out-Strategie«, dem gezielten Engagement und Investment chinesischer Unternehmen im Ausland, und verstärkt seit der Krise 2008/2009 ist eine Internationalisierung des chinesischen Ordnungsmodells zu beobachten (Schmalz 2015, S. 552ff.). Dies ist eng verbunden mit der zunehmenden politischen Zusammenarbeit der Regierungen semiperipherer Staaten. Im Rahmen dieses semiperipheren Multilateralismus wird zum einen um die Akzeptanz staatskapitalistischer Ordnungsprinzipien in den bestehenden internationalen Organisationen (Welthandelsorganisation/WTO, Internationaler Währungsfonds/IWF usw.) gerungen. Zum anderen wird eine Strategie der Institutionalisierung der Kooperation zwischen den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und allgemein die Etablierung neuer internationaler Institutionen, etwa der New Development Bank oder der Asian Infrastructure Investment Bank, verfolgt. Diese werden parallel zu den bestehenden Institutionen aufgebaut und genutzt um Prinzipien einer staatskapitalistischen Entwicklungsweise auf internationaler Ebene zu verankern.

… zum internationalisierten Staatskapitalismus

China ist derzeit jedoch weder willens noch in der Lage, im Alleingang ein alternatives Ordnungsmodell durchzusetzen. Angesichts der Kooperation staatskapitalistisch orientierter Schwellenländer zeichnet sich eher die Entwicklung eines breiteren staatskapitalistischen Ordnungsmodells ab, in dem Entwicklungsweisen verschiedener semiperipherer Ökonomien verallgemeinert werden (Nölke et al. 2015, S. 561).

Dabei handelt es sich um eine klar kapitalistische Grundordnung auf der Basis privaten Eigentums, in der global ausgerichteten Akkumulationsstrategien große Bedeutung zukommt. Sie unterscheidet sich allerdings deutlich von der liberalen Wirtschaftsordnung. Zentral ist zunächst eine sichtbar koordinierende Rolle (halb-) staatlicher Akteure, etwa bei transnationalen Infrastruktur- und Ressourcenprojekten oder bei grenzüberschreitenden Direktinvestitionen. Wichtige Regulierungsmechanismen basieren auf Allianzen zwischen (halb-) staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren, informellen Beziehungen, Hierarchien und marktförmiger Regulierung. Dies wird abgesichert, indem die Unternehmensfinanzierung in zentralen Bereichen durch nationales Kapital erfolgt (Nölke et al 2015; Schmalz 2015).

Deutlich zeichnet sich in den Strategien zur Etablierung einer alternativen Finanzordnung der Kontrast zur liberalen Wirtschaftsordnung ab. Dabei wird der zentralen Rolle des US-Dollar das Konzept eines multipolaren Währungssystems gegenübergestellt. Die explizite Kritik der BRICS-Staaten am dollarbasierten Finanzsystem, Maßnahmen zur Internationalisierung des chinesischen Renminbi oder der Handel zwischen Schwellenländern in Eigenwährung sind Ausdruck dieser Strategie. Zudem wird eine von einzelnen Nationalstaaten unabhängige internationale Reservewährung angestrebt. Den marktliberalen Regeln des international freien Kapitalverkehrs und den deregulierten Finanzbeziehungen wird eine starke staatliche Regulierung der nationalen Finanzsysteme sowie des internationalen Kapitalverkehrs gegenübergestellt. Die Liberalisierung des Marktzugangs erfolgt nicht durch universelle Liberalisierung und Deregulierung im Sinne des Freihandels, sondern eher kontrolliert durch bi- und multilaterale Verträge.

Damit liegt zwar bislang kein voll entwickeltes, kohärentes Ordnungsmodell vor, allerdings zeichnet sich eine nicht-liberale staatskapitalistische Alternative zur liberalen Wirtschaftsordnung ab.

Rivalitäten

Die Formierung eines alternativen Ordnungsmodells führt zu einer widersprüchlichen Konstellation aus Interdependenz und Konkurrenz. Die kapitalistische Eigentumsordnung und die ökonomische Globalisierung werden dabei aber keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt. Es handelt sich klar um innersystemische Widersprüche und Konflikte. Zudem reproduziert und stabilisiert die zunehmende weltwirtschaftliche Integration der großen Schwellenländer kurz- und mittelfristig die bestehende Ordnung, indem etwa Investitionen in die aufstrebenden Ökonomien profitsuchendes Kapital der Zentren absorbiert oder chinesische Investitionen in amerikanische Staatsanleihen während der Krise das globale Finanzsystem stabilisierten.

Allerdings stehen einige Elemente eines staatskapitalistischen Ordnungsmodells in deutlichem Widerspruch zu den Prinzipien einer liberalen Marktwirtschaft. So führten Themen wie die Gestaltung der globalen Finanzbeziehungen, Standards der Corporate Governance oder die Regulierung des Zugangs insbesondere zu Produktmärkten zu Auseinandersetzungen in internationalen Organisationen (Nölke et al. 2015, S. 558ff.). Auch Chinas zunehmend wichtige Rolle als internationaler Kreditgeber und die entstehende Konkurrenz zum IWF führen zu Spannungen. Die internationale Kreditvergabe durch (halb-) staatliche chinesische Institutionen in der (Semi-) Peripherie übertrifft mittlerweile das Niveau von IWF- und Weltbank-Krediten. China bietet einen alternativen Zugang zu Liquidität für in Zahlungsschwierigkeiten geratene Regierungen, was potentiell den Einfluss des IWF und dessen Politik der Strukturanpassung zur internationalen Durchsetzung marktliberaler Prinzipien deutlich einschränkt. Auch der noch am Anfang stehende Konflikt um die internationale Führungsrolle des US-Dollar ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen.

In den USA werden China und ein mit ihm verbundenes staatskapitalistisches Ordnungsmodell klar als Herausforderung wahrgenommen. Um dieser zu begegnen, setzt die US-Außenpolitik auf eine umfassende Strategie, angefangen bei ihrer Blockadehaltung in internationalen Organisationen über den Abschluss weitreichender Investitions- und Freihandelsabkommen bis hin zur Erweiterung militärischer Kapazitäten in Ostasien (Schmalz 2015, S. 558ff.). Auch wenn die Rivalitäten derzeit überwiegend in internationalen Organisationen ausgetragen werden, handelt es sich doch nicht um einfache, auf institutioneller Ebene zu behebende Inkompatibilitäten zwischen den konkurrierenden Wirtschaftsmodellen. Freier Kapitalverkehr und Marktzugang, Privatisierung und die Möglichkeit des ungehinderten Engagements im Ausland sind zentrale Bestandteile der Strategien transnationaler Unternehmen und Investoren aus den Zentren des Globalen Nordens (Nölke et al. 2015, S. 561).

Die Verallgemeinerung der Prinzipien liberaler Marktwirtschaft sichert die Einbindung der (Semi-) Peripherie in den politischen Macht- und den ökonomischen Verwertungsbereich des US-geführten »Heartland«, des Kerngebiets des US-geführten expansiv-liberal ausgerichteten Wirtschaftsraums (van der Pijl 2006, S. 6ff.). Die Regulierung des Kapitalverkehrs, der nationalen Finanzbeziehungen und des Zugangs zum Binnenmarkt, der Einfluss auf Staatsbanken und -unternehmen und die selektive Internationalisierung sind auf der anderen Seite zentrale Voraussetzungen für die in China verfolgte Entwicklungsweise und den Machterhalt der politischen Eliten des Landes. Die widersprüchlichen Ordnungsstrukturen sind damit fundamentaler Ausdruck unterschiedlicher Formen der Integration in den Weltmarkt, verschiedener Strategien der Akkumulation und der Machtsicherung einflussreicher Akteure in den jeweiligen Ökonomien.

Fragmentierung globaler Kräfteverhältnisse

Der geoökonomische Aufstieg Chinas schlägt sich nur langsam auch in geopolitischen Strukturen nieder. Dies ist unter anderem in einer starken Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung unterschiedlicher Machtressourcen begründet: Die strukturelle Macht über die Funktionsprinzipien der globalen Ökonomie sowie das militärische Übergewicht liegen nach wie vor in den alten Zentren (Schmalz 2015, S. 559; Schmalz und Ebenau 2011, S. 172).

Allerdings ist eine Phase der Fragmentierung globaler Kräfteverhältnisse zu erkennen, in der die US-geführte liberale Weltordnung nicht mehr den alternativ­losen Pol bildet. Kurz- und mittelfristig wird die marktliberale Ordnung zwar durch die Internationalisierung aufstrebender Schwellenländer stabilisiert, die hier verfolgte Entwicklungsweise und das sich etablierende staatskapitalistische Ordnungsmuster führen jedoch trotz Integration und Interdependenz zu erheblicher Rivalität.

Ob es zur spannungsreichen Integration der aufstrebenden Schwellenländer in das »Heartland« oder zur Konsolidierung eines staatskapitalistischen Ordnungsmodells als Alternative zur liberalen Wirtschaftsordnung kommt, ist noch nicht entschieden. Dies wird ebenso von der Entwicklung der Kräfteverhältnisse innerhalb Chinas und anderer Schwellenländer, ihrer ökonomischen Entwicklung sowie von den Strategien des liberalen Machtbocks abhängen. Zentral ist zudem, ob es den Protagonisten des staatskapitalistischen Ordnungsmodells gelingt, die Anforderungen ihrer jeweiligen Akkumulationsstrategien sowie die eingegangenen Kompromisse und Bündnisse zu verallgemeinern, auf internationaler Ebene zu verankern und dabei die Interessen anderer Akteure zu berücksichtigen.

Deutlich ist bereits jetzt, dass der Einfluss des liberalen Ordnungsmodells am Rand des »Heartland« zurückgedrängt wird und unter den Vorzeichen eines semiperpipheren Multilateralismus die Konflikte um die Gestaltung der Weltwirtschaft nicht mehr exklusiv unter den kapitalistischen Zentren ausgetragen werden. Wir befinden uns in einer Phase der Reorganisation globaler Konkurrenz- und Machtverhältnisse, einer Transformation des globalisierten Kapitalismus, die allerdings dessen grundlegende Funktionsprinzipien unberührt lässt.

Literatur

Arrighi, G. (2008): Adam Smith in Beijing – Die Genealogie des 21. Jahrhunderts, Hamburg: VSA.

Boris, D. (2016): BRICS und die neue Weltordnung. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 106, S. 67-77

Ho, H. (2008): Rise of China and the Global Overaccumulation Crisis. Review of Interna­tional Political Economy 15, S. 149-179.

Ivanova, M. (2013): Marx, Minsky, and the Great Recession. Review of Radical Political Economics 45(1), S. 59-75.

McNally, C. (2012): Sino-Capitalism – China’s Reemergence and the International Political Economy. World Politics 64(4), S. 741-776.

Nölke, A. et al. (2015): Domestic Structures, ­Foreign Economic Policies and Global Economic Order. European Journal of International Relations 21(3), S. 538-567.

Panitch L.; Gindin, S. (2008): Finance and American Empire. In: Panitch, L.; Konings, M. (eds.): American Empire and the Political Economy of Global Finance. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 17-47.

Schmalz, S. (2015): An den Grenzen des American Empire – Geopolitische Folgen des chinesischen Aufstiegs. Prokla 45(4), S. 545-562.

Schmalz, S.; Ebenau, M. (2011): Auf dem Sprung – Brasilien, Indien und China, Berlin: Dietz.

Ten Brink, T. (2014): The Challenge of China’s Non-Liberal Capitalism for the Liberal Global Economic Order. Harvard Asia Quaterly 16(2), S. 36-44.

ten Brink, T.; Nölke, A. (2013): Staatskapitalismus 3.0. Der moderne Staat, 6(1), S. 21-3.

van der Pijl, K. (2006): Global Rivalries- From the Cold War to Iraq. London: Pluto Press.

Jenny Simon promoviert zur Rolle Chinas in der internationalen politischen Ökonomie der globalisierten Finanzbeziehungen an der Universität Kassel.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/4 Weltordnungskonzepte, Seite 23–25