W&F 1999/3

An der Schwelle zu einem »neuen Völkerrecht«?

von Manfred Mohr

Noch während des NATO-Luftkrieges gegen Jugoslawien wurde die Frage aufgeworfen, ob sich das internationale rechtliche System nicht nunmehr radikal geändert hätte. Würde es mit und nach diesem Krieg nicht zu einem »neuen Völkerrecht« kommen, das bestehende UN-System der Friedenssicherung nicht durch eine neuartige NATO-Doktrin ersetzt werden?
Auf diese und ähnliche Fragen sind unterschiedliche Antworten gegeben worden. Dies geschah überwiegend in Form von (Tages-)Medienkommentaren; zunehmend aber auch in juristischen und politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften.1 Eine Welle von Buchpublikationen ist im Anrollen. Der vorliegende Aufsatz zieht eine knapp gehaltene Zwischenbilanz.

Die Völkerrechtsordnung der Gegenwart hat sich seit 1945 auf der Grundlage der UN-Charta ausgeprägt. Ihre Prinzipien sind in der »Friendly Relations« -Deklaration von 1970 formuliert und authentisch interpretiert worden. Davor und danach ist dieses Rechtssystem in unzähligen Instrumenten – vom Vertrags- bis zum »soft law«-Charakter – näher ausgestaltet worden. Für Europa hat eine Regionalisierung auf der Basis dieser universellen Grundlagen stattgefunden.

Das Völkerrecht der Gegenwart existiert als Rechtsordnung, mit gewissen »konstitutionellen« und hierarchischen Strukturen, von denen nicht so ohne weiteres abgewichen werden kann. Es gibt zwingendes Recht (ius cogens), mit der Konsequenz, dass entgegenstehendes »einfaches« Recht nichtig ist. Hierzu rechnen vor allem jene in der 1970er Deklaration fixierten Völkerrechtsprinzipien – vom Gewaltverbot über die souveräne Gleichheit bis zum Prinzip der Vertragstreue. Dabei gilt der Grundsatz, dass diese Prinzipien als »Kette« wirken und nicht gegeneinander »ausgespielt« werden dürfen.

Neben reziproken haben sich Verpflichtungsstrukturen erga omnes (bezogen auf die Gemeinschaft der Normpartner) und entsprechender möglicher (Allgemein-)Betroffenheit herausgebildet. Beispielbereiche sind die Menschenrechte oder das Abrüstungsrecht, in gewisser Weise auch das Recht der Friedenssicherung oder das humanitäre Völkerrecht.

Entscheidend ist nicht – wie man in der aktuellen Kosovo-/Jugoslawien-Diskussion manchmal den Eindruck hat –, dass derartige besondere Strukturen und Konstruktionen existieren, sondern welchen normativen Gehalt man ihnen unterlegt. Und der muss zwischen den Staaten, bei ius cogens sogar von der internationalen Staatengemeinschaft als Ganzes, vereinbart werden.

Völkerrecht ist und bleibt Vereinbarungs- oder Konsensrecht; Formen (Quellen) sind das Vertrags- und das Gewohnheitsrecht. Über ihre generelle Akzeptanz haben auch »allgemeine Rechtsprinzipien« Eingang in die geltende Völkerrechtsordnung gefunden. Zu nennen sind hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie die Grundsätze der Erforderlichkeit und der Geeignetheit.

Alle drei können und sind zur Beurteilung des NATO-Luftkrieges gegen Jugoslawien herangezogen worden – überwiegend mit negativem Ergebnis. Dies geschah in Verbindung mit oder unabhängig von anderen rechtlichen Maßstäben. Für das offiziell von der NATO und der Bundesregierung erklärte Ziel der Abwendung bzw. Verhinderung einer humanitären Katastrophe waren die Luftoperationen von Anfang an ungeeignet. Sie waren in Anbetracht möglicher anderer (politischer, ökonomischer, ggf. auch militärischer) Sanktionierungs- und Druckmöglichkeiten auch nicht erforderlich.

Die »humanitäre Katastrophe« ist mit Beginn des NATO-Luftkrieges erst richtig ausgelöst worden – das Szenario war für alle »professionellen« politisch-militärischen PlanerInnen absolut vorhersehbar. In einem »Integrated Appeal« der – wohl über jede ideologische Einseitigkeit erhabenen – internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (v. 7.4.1999) heißt es: „Since 24 March, the impact in humanitarian terms has been devastating.“ Die deutsche IALANA hat mit einer Zusammenstellung von Lageberichten des Auswärtigen Amtes dokumentiert, für wie wenig bedrohlich die Lage im Kosovo noch bis ins Frühjahr 1999 hinein angesehen wurde.2 Im Kern wurde der Luftkrieg zum Erhalt der Glaubwürdigkeit der NATO begonnen und geführt. Das wird etwa in einem vom US-amerikanischen Außenministerium herausgegebenen »Fact sheet« (U.S. and NATO Objectives and Interests in Kosovo, v. 26.3.1999) eindeutig herausgestellt. Hieraus lässt sich aber keinerlei Legitimierung ableiten – im Gegenteil.

Und in jedem Fall waren Krieg und Kriegsführung unverhältnismäßig. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt beispielsweise – nach konkreter Aufzählung der angerichteten umfangreichen Schäden – auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Sie appelliert an die NATO, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu respektieren.3

Der Bezug auf allgemeine, in die internationale Rechtsordnung »transportierte« (Rechts-) Prinzipien muss aber auch begründet sein. Es muss sich tatsächlich um solche Grundsätze handeln, nicht aber um irgendwelche verschwommenen, dogmatischen Konstrukte wie den »Gemeinwohlzweck«, gekoppelt mit einem angeblichen Vorrang des Zwecks vor dem (versagt habenden) Mittel (hier: UN-System und Sicherheitsrat). Überzeugen kann auch nicht der Verweis auf allgemeine (letztlich naturrechtliche) Höherrangigkeit (Radbruch).4 Das alles hat mit der Realität der Völkerrechtsordnung der Gegenwart wenig zu tun.

Das UN-System der Friedenssicherung

Es ist grundlegender Bestandteil jener Ordnung. Eckpunkte sind das umfassende Gewaltverbot und das Prinzip der friedlichen Streitbeilegung. Im Rahmen des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen bedürfen militärische Zwangsmaßnahmen der Anordnung oder zumindest der Autorisierung des UN-Sicherheitsrates. Kommt dies nicht zustande, fällt man zurück auf die Nothilfe-Ebene des Rechts auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff. Will und kann man die bestehende Völkerrechtsordnung nicht verlassen, muss man sich genau in diesem Rahmen bewegen.

Das System, in Gestalt des Agierens des UN-Sicherheitsrates, ist auch im Kosovo-Kontext operativ geworden. Es wurden Resolutionen – bis hin zur Verhängung eines Waffenembargos – gefasst (1160, 1199, 1203, 1239). Der Sicherheitsrat machte den Kosovo-Fall zu seiner eigenen Angelegenheit, womit ein Ausschluss der Kompetenz anderer (Regional-) Organisationen signalisiert wird; ab Res. 1239 erscheint sogar die Formel: „… remain actively seized…“.

Der Rat hat damit Handlungsfähigkeit bewiesen und ist durchaus seiner »primären Verantwortung« für die Wahrung des Weltfriedens gerecht geworden. Im engeren, eigentlichen Sinne (des Art. 24 UN-Charta) bedeutet diese Formel, dass dem Sicherheitsrat innerhalb des UN-Systems, gegenüber anderen UN-Organen, eine solche Hauptverantwortung (und entsprechende Primärkompetenz) zukommt, unbeschadet etwa des Uniting for Peace-Verfahrens, demzufolge sich ausnahmsweise auch die UN-Generalversammlung mit Maßnahmen der Friedenswahrung befassen kann. Hieran anknüpfend kann man ein Bekenntnis zu dieser Formel wie sie (bereits ab Nr. 1203) in den Kosovo-Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, aber auch in dem Neuen Strategischen Konzept der NATO (para. 15) enthalten ist als ein Bekenntnis zum UN-Friedenssicherungssystem insgesamt lesen (und nicht – nur – als Hintertürchen für die Annahme irgendwelcher Sekundär-Kompetenzen).

Durchbrochen und verlassen wurde dieses System durch den NATO-Luftkrieg. Der Krieg wurde vom Sicherheitsrat auch nicht – was z.T. noch als äußerste Möglichkeit angesehen wird5 – implizit bzw. nachträglich (post facto) autorisiert. In Res. 1239 v. 14.5.1999 deutet sich sogar eine Kritik des NATO-Vorgehens an ( 5: „… the humanitarian situation will continue to deteriorate in the absence of a political solution…“).

Immerhin gab es einen Resolutionsentwurf der – gestützt auf Kapitel VII und VIII (zu den Regionalorganisationen) der UN-Charta – die NATO-Aktionen verurteilt und deren Beendigung fordert. Aus seinem Scheitern (mit 3 zu 12 Stimmen) kann wohl nicht auf eine Akzeptanz dieser Aktionen durch die internationale Gemeinschaft geschlossen werden. Immerhin haben, wie Indien in der Debatte betonte, mit China, Russland und Indien 50% jener Gemeinschaft der NATO die Unterstützung versagt.

Eine Rückführung in das UN-System erfolgte mit Res. 1244 v. 10.6.1999, die aber keinerlei auch nur indirekten Hinweis auf die NATO-Luftoperation enthält. Es wird lediglich die Nichteinhaltung der früheren Sicherheitsratsresolutionen zum Kosovo bedauert. Eine Autorisierung (für die UN-Mitgliedsstaaten und die relevanten internationalen Organisationen) wurde im Hinblick auf die im Kosovo zu stationierenden internationalen Sicherheitskräfte gegeben. Im Unterschied zur Autorisierungsentscheidung im (zweiten) Golfkrieg, mit der die Vereinten Nationen alles aus der Hand gegeben hatten, erfolgt hier eine gewisse organisatorische Einbindung (vorläufige Zeitbeschränkung; Berichterstattung). Insoweit ist es unzutreffend, wenn US-Verteidigungsminister Cohen behauptet, es gäbe keinerlei UN-Kontrolle.6

Unter dem Strich hat das UN-System der Friedenssicherung, der UN-Sicherheitsrat, seine Unverzichtbarkeit demonstriert, und zwar in der Gestalt wie es gegenwärtig existiert, d.h. einschließlich des Veto-Prinzips, mit seiner (immer noch relevanten) Konsenswahrungsfunktion. Das hat – nach einer „holprigen (bumpy) Periode“ (Kofi Annan) – schließlich auch die NATO erkannt. Der UN-Generalsekretär war es auch, der noch während des NATO-Krieges einen eindringlichen offiziellen Friedensappell sowohl an die NATO als auch an die jugoslawische Seite richtete.7

Frieden und Menschenrechte

Auch diese Relation ist völkerrechtlich klar fixiert und bedarf aufgrund des Kosovo-Geschehens keiner grundlegenden Korrektur oder Veränderung. Der Einführung des Menschenrechtsthemas in das UN- und Völkerrechtssystem liegt die Erkenntnis eines elementaren Zusammenhangs zugrunde – der möglichen Friedensgefährdung durch schwere, systematische Menschenrechtsverletzungen. Es bedarf gar keiner Auslegung der UN-Charta, nach der neben den Frieden gleich-(oder gar höher-)rangig die Menschenrechte gesetzt werden. Vielmehr besteht von Anfang an zwischen beiden Zielen oder Rechtsgütern eine Verbindung, die sich im Zuge der Entwicklung des Völkerrechtssystems immer weiter ausgeprägt hat und in dem Satz gipfelt: Menschenrechte sind keine innere Angelegenheit mehr.

Die Möglichkeit der gewaltsamen Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzungssituation setzt (allerdings) voraus, dass eine unmittelbar friedensbedrohende Dimension erreicht wurde. Dann aber kommt die Entscheidungs- und Handlungskompetenz des UN-Sicherheitsrates ins Spiel. Sie ist gerade hier unerlässlich, um eine klare, autoritative Position der internationalen Gemeinschaft zu markieren und Missbrauch auszuschließen.

Vor diesem Hintergrund hat sich – zumindest begrifflich – eine gewisse Entwicklung in der Praxis des UN-Sicherheitsrates und damit der Staaten- und Völkerrechtspraxis vollzogen: Als friedensgefährdend und (folglich) kompetenzbegründend führt der Sicherheitsrat zunehmend auch Fälle menschlicher Tragödien, menschlichen Leids oder humanitärerer Not- und Katastrophenlagen an. Dahinter verbergen sich letztlich komplexe Zustände schwerer Menschenrechtsverletzungen, häufig gekoppelt mit Verletzungen des humanitären Völkerrechts, mit Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen.

Begonnen hat dieser Prozess mit der berühmten Resolution 688 (1991) zur »Kurdenfrage«. Hier wird die Friedensgefährdung noch über die Gefahr massiver Flüchtlingsströme sowie die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung entwickelt. Die Somalia-Resolution 794 (1992) nimmt als Einstieg dagegen nur noch die »menschliche Tragödie«. Auch die Kosovo-Resolutionen (1199, 1203, 1244) stellen für die Kompetenzbegründung des Sicherheitsrates (nach Kap. VII der UN-Charta) auf die drohende humanitäre Katastrophe, die ernste humanitäre Situation ab, da und soweit hierdurch eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gegeben ist. Gerade diese Verbindung oder Feststellung ist in NATO-Äußerungen nicht regelmäßig vorhanden. Was herausgestellt wird, sind häufig nur Leid und Not sowie das Erfordernis, dass man (irgend-)etwas dagegen tun müsse. Eine durchgängige Betonung der Friedensgefährdung hätte vielleicht auch mit größerem Nachdruck die Kompetenzfrage aufgeworfen und zu entsprechenden Schlussfolgerungen bzw. Begründungsversuchen führen müssen.

Oft ist nur generell von „Notstandsmaßnahmen“, dem „Schutz von Leib und Leben“, als entsprechenden „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ die Rede. Soweit es sich hier um Rechtfertigungsversuche für Militäraktionen wie die NATO-»Luftschläge« handelt, greifen diese aber im modernen Völkerrecht mit seinem umfassenden, gerade auch gegen Missbrauch gerichteten Gewaltverbot nicht mehr.

Etwas anderes galt im klassischen Vor-UN-Völkerrecht: Hier hatte die Doktrin der humanitären Intervention – der Befugnis für (zivilisierte) Staaten zu Militäraktionen zum Schutz eigener StaatsbürgerInnen im Ausland, bis hin zur Entsendung von Kriegsschiffen und militärischer Besetzung – ihren festen Platz. Heute kann, sollte und müsste dieses schon terminologisch fragwürdige Konzept ebensowenig wiederbelebt werden wie die spätscholastisch begründete »Bellum-Iustum-Lehre«.8 Weder allgemeine Werte-Konzepte (zur Abgrenzung von einem bloßen Interessenimpetus) sind angebracht oder erforderlich, noch das Betonen eines Extremfalls der alles außer Kraft setzt.9

Selbstbestimmungsrecht, Souveränität, Staatenverantwortlichkeit

Beim Selbstbestimmungsrecht handelt es sich ebenfalls um ein grundlegendes Prinzip oder Recht der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung. Verankert in der UN-Charta war es die Basis für den Dekolonialisierungsprozess und ist, auch darüber hinaus, das rechtliche Fundament jedweder Staatlichkeit wie der einzelnen Menschenrechte. Selbstbestimmungsrecht und souveräne Gleichheit bildeten ebenso den Ausgangspunkt für in der Tat neuartige Konzepte wie das von der »Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung« oder von der »Neuen Internationalen Informationsordnung«, die dann aber mangels universellen Konsenses (rechtlich) nicht zum Tragen kamen.10

Das Selbstbestimmungsrecht ist als so grundlegend angesehen worden, dass man hieraus – im Wege der Analogie – ein Selbstverteidigungsrecht des gewaltsam (von einer fremden oder der eigenen Regierung) unterdrückten Volkes abgeleitet hat. Dieses dogmatische Konzept (mit der Vorstellung einer »Dauer-Aggression«) ist besonders nachdrücklich von der »östlichen« Völkerrechtslehre vertreten worden.11 Es fanden und finden sich hierzu aber auch VertreterInnen der »westlichen Schule«.12

Im humanitären Völkerrecht gibt es einen Reflex in Gestalt der Behandlung des Befreiungskampfes der Völker als internationalen Konflikt (Art. 1 Abs. 4, I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen).

Das alles hat aber auf den Kosovo-Fall keine Anwendung gefunden. Man ging – zuletzt in Res. 1244 – stets von der Souveränität und territorialen Integrität Jugoslawiens aus. Den KosovarInnen (Kosovo-AlbanerInnen) wird weder eine Volks-Qualität noch das Recht auf (gewaltsame) Abtrennung zugestanden. Man bewegt sich letztlich im Bereich des Minderheitenschutzes oder bestenfalls einer gewissen föderalen Selbstbestimmung. Die Sicherheitsratsresolutionen (1160, 1199, 1244) sprechen von „substantial autonomy“ und „meaningful self-administration“. Die Konstruktion des Selbstverteidigungsrechts eines Volkes deutet allerdings (weiterhin) eine Potenz des modernen Völkerrechts an, wie man – einschließlich kollektiver Selbstverteidigung – gegen Regime vorgehen könnte die Völkermord begehen oder unterstützen.13

Zur Steuerung des Friedens-, Autonomie- und Verwaltungsprozesses ist eine UN-Missions-Struktur (UNMIK) mit weitreichenden Kompetenzen und Aufgaben eingesetzt worden. Unter Vermeidung der in Rambouillet angelegten militärischen Okkupation (durch die NATO) läuft das Ganze (dennoch) auf ein de-facto-Protektorat der UNO hinaus.

Die Etablierung eines sochen Regimes war sicherlich nur durch und über die UNO möglich. Unbeschadet der seitens Jugoslawien vorliegenden Zustimmung trägt das Vorgehen der UNO Züge der Sanktionierung, der Staatenverantwortlichkeit. Es hat aber – im Unterschied zum NATO-Luftkrieg – nicht den Charakter von Bestrafung oder etwa einer militärischen Repressalie. Beides ist nach gegenwärtigem Völkerrecht und seinem Friedens- und Souveränitätsverständnis ausgeschlossen.

Hiermit schwer zu vereinbaren ist auch der verkündete Politikgrundsatz, demzufolge Aufbauhilfe für Jugoslawien von einem Sturz Milosevics abhängig gemacht wird.14 Auch für das Institut der Staatenverantwortlichkeit, selbst im Hinblick auf schwerwiegende Rechtsfolgen für internationale Verbrechen, gilt, dass nach gegenwärtigem Völkerrecht nicht alles zulässig ist, eine gewisse Verfahrenseinbindung existiert. So bedürfen eben militärische Zwangsmaßnahmen gegen systematische Menschenrechtsverletzungen der Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat (der seinerseits an das Völkerrecht gebunden ist) und ist beispielsweise präventive Gewaltanwendung verboten.

Das humanitäre Völkerrecht

Gerade wenn es sich (angeblich) um Militäraktionen zur Menschenrechtsdurchsetzung handelt, sind die Regeln dieses in den Haager und Genfer Abkommen fixierten Rechts peinlich genau zu beachten.15 Es gilt uneingeschränkt, ohne jede Unterscheidung hinsichtlich Art und Ursprung des bewaffneten Konflikts. Selbst wenn man die Fragwürdigkeit des NATO-Luftkrieges nach geltendem UN-Friedensrecht außer Acht lässt, liegt hier ein entscheidender juristischer (und damit politisch neutraler) Kritikansatz.

Obwohl vorgeblich kein Krieg gegen Jugoslawien und dessen Volk, ist er dennoch bewusst gegen das Land geführt worden.16 Die Schäden und Opferzahlen im zivilen Bereich sind enorm. Bei der mit Stolz verkündeten Fehlerquote von 0,7%17 sind die betreffenden zivilen Ziele systematisch festgelegt und angegriffen worden. Das ist im 100. bzw. 50. Jahr der Annahme der ersten Haager bzw. der Genfer Abkommen von 1949 ungeheuerlich.

Man hat(te) den Eindruck, als wären die Grundregeln der Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen, des Verbots von Angriffen die Terror verbreiten sollen, der Nichtbeschädigung von medizinischen und kulturellen Einrichtungen, der Nichtbehinderung von Hilfsaktionen u.a.m. außer Kraft gesetzt worden. Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zur Golfkriegführung. Damals sind immerhin, nach dem verheerenden Angriff auf den Zivilbunker in Bagdad, alle vergleichbaren Einrichtungen von den Ziellisten der US Air Force gestrichen worden.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)18 wie auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte haben sehr kritisch auf die großen zivilen Verluste hingewiesen und an die diesbezüglichen völkerrechtlichen Verpflichtungen der NATO-Staaten erinnert. Die Hochkommissarin hat z.B. die Angriffe auf Radio- und TV-Stationen ebenfalls als ernste Beeinträchtigungen des Rechts auf Informationsfreiheit gekennzeichnet.19

Schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts stellen Kriegsverbrechen dar. Sie können, neben Menschlichkeitsverbrechen, vor dem Haager Jugoslawien-Tribunal (ICTY) zur Anklage gebracht werden. Gleiches gilt in noch umfassenderer Weise nach dem Statut des zu schaffenden Internationalen Strafgerichtshofes, der auch für Aggressionsverbrechen zuständig werden soll. Anklage gegen Milosevic ist bereits vor dem ICTY – noch während des Luftkrieges – erhoben worden. Gemäß den Nürnberger Prinzipien und den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit könnte er sich nicht auf Immunität als Staatsoberhaupt berufen.

Informationen über humanitäre Völkerrechtsverletzungen auf Seiten der NATO sind dem ICTY zugeleitet worden. Diese Frage wird auch bei den gerade anlaufenden »privaten« Tribunalaktivitäten (in USA und Europa) und in dem anhängenden (Hauptsache-)Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) eine große Rolle spielen, der auf Klage Jugoslawiens gegen etliche NATO-Staaten tätig geworden ist. Schon jetzt hat der IGH seine große Betroffenheit über die Gewaltanwendung in Jugoslawien erklärt, die sehr ernste Völkerrechtsfragen aufwirft und an die Verpflichtungen nach UN-Charta und Völkerrecht, einschließlich humanitärem Völkerrecht, erinnert.

Fazit

Kosovo-Konflikt und NATO-Krieg haben nicht zu einem neuen Völkerrecht geführt. Das bestehende Völkerrecht behält seine Gültigkeit und dient weiter als Maßstab für die Bewertung staatlichen, in Sonderheit militärischen Handelns. Besonders augenfällig wird dies anhand des tief verwurzelten humanitären Völkerrechts.

Der NATO-Luftkrieg war ein Übertretungs- und kein Präzedenzfall.20 Aus gutem Grund enthält das moderne Völkerrecht Regeln über Zulässigkeit und Verfahren militärischer Gewaltanwendung. Sie sind Ausdruck des erreichten zivilisatorischen Entwicklungsstandes und binden auch die NATO. Diese bekennt sich, in ihrem Gründungsvertrag und auch im Neuen Strategischen Konzept, zu solchen Grundsätzen wie dem der friedlichen Streitbeilegung. Ihre praktische Politik – »Friedensverhandlungen« unter permanenter Bombardierungsdrohung und der Luftkrieg selbst – läuft dem jedoch zuwider. Sie hat zu einer Verschärfung des Konflikts, weiteren unschuldigen Opfern, unermesslichen Schäden und der Verzögerung einer Konfliktlösung geführt.

Das alles ist jedoch kein Grund, die NATO oder ihren Gegenspieler Milosevic aus dem Völkerrecht zu entlassen. Es enthält ausreichende normative und prozeduale Rahmenbedingungen für die Bewältigung von Extremsituationen. Hierzu muss weder auf eigene Faust Krieg geführt, noch ein Katalog von Regeln für die »humanitäre Intervention« aufgestellt werden. Die Völkerrechtsordnung hat sich trotz Kalten Krieges und verkündeter »neuer Weltordnungen«, trotz krasser Interventions- und Verletzungsfälle (Grenada, Libyen usw.) gefestigt. Auch jetzt besteht kein Anlass, sie in Frage zu stellen, sondern die Notwendigkeit, sie zu stärken und weiterzuentwickeln.

Anmerkungen

1) Vgl. z.B. Simma, B., NATO, the UN and the Use of Force: Legal Aspects, in : European Journal of International Law, 10(1999)1, S. 1-23; Cassese, A., Ex iniura ius oritur: Are We Moving towards International Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community?, in: ebenda, S. 23-31; Ronzitti, N., Raids aerei contro la Repubblica federale di Iugoslavia e Carta delle Nazioni Unite, in: Rivista Di Diritto Internazionale, 82(1999)2, S. 476-482; Köck, H.F., Legalität der Anwendung militärischer Gewalt. Betrachtungen zum Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und seinen Grenzen, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, 54(1999)2, S. 133-160; Rodman, P.W., The Fallout from Kosovo, in: Foreign Affairs, 78(1999)4, S. 45-51; Hintersteiniger, M., Der Kosovo-Konflikt und die Rennaissance der Bellum Iustum-Doktrin, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung, 1999/2, S. 24-42.

2) Vgl. (z.B.) IALANA-Presseinformation v. 22.4.1999: »Bundesregierung täuschte Parlament und Öffentlichkeit«.

3) Vgl. Report by the High Commissioner for Human Rights on the Situation of Human Rights in Kosovo, 31.5.1999, S. 12.

4) Vgl. (so) Köck, Anm. 1, S. 141, 154 bzw. 157f.

5) So zumindest die US-amerikanische Auffassung, vgl. Frowein, J.A., Der Schutz des Menschen ist zentral. Der Krieg im Kosovo und die völkerrechtliche Regelung der Gewaltanwendung, in: Neue Zürcher Zeitung, 17./18.7.1999; vgl. (so) auch Simma, Anm. 1, S. 10f.

6) (Vgl.) Defense Secretary Cohen Testifies on Lessons of Kosovo, 20.7.1999, S. 6.

7) Vgl. Schreiben v. 9.4.1999, S/1999/402.

8) Vgl. (einen solchen Versuch bei) Hintersteiniger, Anm. 1.

9) Vgl. (s.o.) nach einer ansonsten klaren und ausgewogenen Darstellung (»plötzlich«) Frowein, Anm. 5.

10) In Anbetracht vielfach beschworener Globalisierungsgefahren wäre es zumindest theoretisch einmal reizvoll, diese Konzepte und die betreffenden Prinzipien und Dokumente (erneut) zu analysieren und auf »Aktualität« zu überprüfen.

11) Vgl. Völkerrecht, Berlin 1988, S. 87.

12) Vgl. (auch schon in Anwendung auf die Kosovo-Situation) Fastenrath, U., Es wird ein Präzedenzfall geschaffen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.1998; (bejahend) Köck, Anm. 1, S. 153.

13) Ein Beispielfall aus der jüngeren Geschichte ist das militärische Eingreifen Vietnams zum Sturz des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha.

14) Vgl. z.B. die Rede Clintons (»Wir haben im Kosovo das Richtige getan“), 11.6.1999, S. 4.

15) Vgl. ähnlich (überzeugend) auch Frowein, Anm. 5.

16) Vgl. etwa Cohen, Anm. 6, S. 3: „… to generate sufficient concerns about future damage to… his (Milosevic's) country…“.

17) Vgl. die Angaben von US-Luftwaffengeneral Ch. Wald (99,3% Treffergenauigkeit der eingesetzten Bomben und Raketen), Kosova-Info-Line, 10.5.1999, S.2.

18) Vgl. z.B. das IKRK- Statement v. 23.4.1999 (»The Balkan conflict and respect for International Humanitarian Law«), unter der Überschrift »Civilian victims of airstrikes«; Statement des IKRK-Präsidenten C. Sommaruga v. 6.4.1999 (»Humanitarian Issues Working Group of the Peace Implementation Council«).

19) Vgl. Anm. 3, S.7.

20) Als Einzel-(und kein Präzedenz-)Fall – des Handelns außerhalb des Rechts (aufgrund einer „Notlage“) sieht ihn auch Simma, Anm. 1, S. 22; Cassese, Anm. 1, S. 27ff., erkennt hier jedoch „nascend trends“ einer künftigen Völkerrechtsentwicklung und stellt einen entsprechenden Katalog von „Bedingungen“ auf.

Prof. Dr. Manfred Mohr, Berlin, ist Völkerrechtler und Mitglied des deutschen Vorstandes und des Academic Council der IALANA.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/3 Tödliche Bilanz, Seite