W&F 2021/2

Antidiskriminierung umfassend denken

Eine globale Bewegung für Diversität, Inklusion und Gleichberechtigung

von Claude Cahn

Eine wachsende Zahl von Menschenrechtsorganen der Vereinten Nationen empfiehlt die Verabschiedung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes, um den Schutz der Menschenrechte auf nationaler Ebene zu verbessern. Viele Staaten haben in der Tat umfassende Antidiskriminierungsgesetze erlassen, andere befinden sich in verschiedenen Stadien der Vorbereitung solcher Gesetze. Es besteht jedoch Bedarf an einer globalen Bewegung für den umfassenden Schutz der Rechte von Minderheiten und anderen stigmatisierten oder marginalisierten Gruppen vor allen Formen der Diskriminierung. Der Artikel veranschaulicht die Entwicklungen der letzten Jahre und gibt einen Ausblick auf die Zukunft.

Um die Jahrtausendwende hatte nur eine handvoll Staaten auf der ganzen Welt umfassende Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet. Mittlerweile sind es einige mehr. Das hat mit der Arbeit einer Reihe von Menschenrechtsmechanismen der UN zu tun. Hier formiert sich seit einigen Jahren eine Bewegung zur Schaffung globaler Maßstäbe zum umfassenden Schutz vor Diskriminierung.

Das »Verbot der Diskriminierung« ist das einzige Recht, das sich in allen neun zentralen internationalen Menschenrechtsabkommen findet. Artikel 2 sowohl des »Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte« als auch des »Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« verpflichtet jeden Vertragsstaat, die dort anerkannten Rechte für alle Personen in seinem Hoheitsgebiet und unter seiner Gerichtsbarkeit zu achten und zu gewährleisten. Dies soll geschehen, ohne einen Unterschied, etwa nach rassistischen Kriterien1, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Weltanschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Status zu ziehen. Das Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen hat zudem spezifische Verträge in Bezug auf rassistische Diskriminierung, der Diskriminierung von Frauen und von Menschen mit Behinderungen geschaffen. Zudem hat es die oben erwähnte Bedeutung des »sonstigen Status« noch detaillierter ausgearbeitet, um einen umfassenden Schutz vor Diskriminierung basierend auf Gründen wie beispielsweise sexueller Orientierung und der Geschlechtsidentität zu gewährleisten.

Hierauf berufen sich die Akteure der Bewegung für ein umfassendes Antidiskriminierungsrecht2, die derzeit eine zügige und dynamische Verbreitung findet. Dabei hilft: Grundsätzlich haben alle Staaten der Welt international gültige, rechtliche Voraussetzungen akzeptiert, die sie auf die Notwendigkeit der Schaffung umfassender Antidiskriminierungsgesetze zur Unterstützung eines wirksamen Rechtsschutzes von Betroffenen hinweisen. Alle relevanten UN-Vertragsorgane3 haben zudem die Verabschiedung eines umfassenden Antidiskriminierungsrechts empfohlen. Staaten aus allen Regionen der Welt empfehlen mittlerweile regelmäßig und systematisch die Verabschiedung und Umsetzung umfassender Antidiskriminierungsgesetze an weitere Staaten, sowohl an Staaten aus ihrer eigenen Region als auch an Staaten aus anderen Regionen.

In den abschließenden Beobachtungen ihrer Überprüfungen von Staaten haben die UN-Vertragsorgane mehrfach anerkannt und betont, dass die Einhaltung der Nichtdiskriminierungsverpflichtungen der Staaten unter anderem die Etablierung spezifischer, umfassender Antidiskriminierungsgesetze erfordert.4

Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung zu empfehlen hat und hatte zudem eine hohe Priorität im »Universal Periodic Review« (UPR, »Allgemeiner regelmäßiger Überprüfungsprozess«), einem Prozess des UN-Menschenrechtsrats, bei dem Staaten anderen Staaten Menschenrechtsempfehlungen geben. Länder aus allen Regionen der Welt haben Empfehlungen erhalten, Antidiskriminierungsgesetze zu erlassen. Einige Beispiele seien an dieser Stelle zu nennen: Bei der Überprüfung der Republik Moldau im Jahr 2011 forderten Algerien, Brasilien, Kanada, Estland, Frankreich, Israel, Nepal, Norwegen, die Russische Föderation, die Slowakei, Spanien, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung und/oder zur Stärkung der Toleranz, während Argentinien, Mexiko, Polen, Rumänien und Schweden ausdrücklich ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz forderten. Bei der jüngsten UPR-Überprüfung von Burkina Faso empfahlen Chile, Honduras und Serbien, dass Burkina Faso ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz verabschieden solle. Im Rahmen der 35. Sitzung der allgemeinen regelmäßigen Überprüfung des UPR erhielt Kirgisistan Empfehlungen von sieben Staaten, während Armenien Empfehlungen von zehn Staaten erhielt, umfassende Gleichstellungsgesetze zu verabschieden. Im Ergebnisdokument der jüngsten UPR-Überprüfung Japans taucht der Begriff »Diskriminierung« nicht weniger als 75 Mal auf. In ähnlicher Weise enthält die jüngste UPR-Überprüfung der Republik Korea 80 Verweise auf den Begriff »Diskriminierung«.5 Es scheint also eine gewisse »Kultur« der Anerkennung umfassender Antidiskriminierung zu geben.

Nationale Entwicklungen 2000-2021

In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es jedoch in Bezug auf die Entwicklung nationaler Antidiskriminierungsgesetze erhebliche Fortschritte. Im Jahr 2009 war Tschechien der letzte EU-Mitgliedstaat, der ein spezifisches Antidiskriminierungsgesetz verabschiedete (vgl. ERT 2009). Deutschland hat ein solches natio­nales Gesetz (vgl. Antidiskriminierungsstelle o.J.), auch wenn es bei einer Reihe von Diskriminierungsgründen, wie etwa der Bildung, nur begrenzt anwendbar ist. Zudem ist Deutschland eine von zwei EU-Regierungen, gemeinsam mit Polen, die im letzten Jahrzehnt weitere Entwicklungen in diesem Bereich auf europäischer Ebene blockiert haben.

Zusätzlich zu allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben zwischen 2009 und 2013 acht Staaten auf dem europäischen Kontinent (zuerst Kroatien, danach Bosnien und Herzegowina, Serbien, Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, die Ukraine und Moldau) umfassende (oder nahezu umfassende) Antidiskriminierungsgesetze erlassen. In Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Kanada, Neuseeland und Australien wurde ein umfassender Rahmen von Antidiskriminierungsgesetzen geschaffen, der eine Reihe spezifischer oder umfassender Rechtsvorschriften beinhaltet.6

In der Zwischenzeit hat sich das Tempo der Veränderungen außerhalb Europas stetig erhöht, angetrieben durch die Zivilgesellschaft sowie durch besser aufeinander abgestimmte Maßnahmen der Vereinten Nationen. Das hat zum Entwurf und der Verabschiedung von entsprechenden Gesetzen auf jedem Kontinent geführt, die – obwohl noch unvollkommen – vordergründig darauf abzielen, ein umfassendes Schutzniveau zu schaffen. Beispielsweise wurde im Jahr 2010 in Kenia eine neue Verfassung verabschiedet, die direkte und indirekte Diskriminierung aus einer offenen Liste von Gründen verbietet, die Chancengleichheit von Männern und Frauen vorsieht und schädliche Ausnahmen vom Recht auf Nichtdiskriminierung beseitigte, die in der vorherigen Verfassung enthalten waren. Letztere hatten unter anderem dazu geführt, dass Ungleichheiten gegenüber Frauen in Bezug auf ihre Rechte auf Heirat, Scheidung und Erbschaft verfestigt wurden.7

In Lateinamerika haben Argentinien, Mexiko, Chile, Bolivien und Guyana kürzlich solche Gesetze verabschiedet. Am 2. Mai 2014 hat Georgien das Gesetz zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung verabschiedet.

In einigen Ländern befinden sich umfassende Gleichstellungsgesetze in der Entwicklung. Auf den Philippinen, in Armenien, Kirgisistan und Tadschikistan gibt es laufende Diskussionen über die Entwicklung umfassender Antidiskriminierungsgesetze.

In einigen Staaten wurde eine Reihe spezifischer Rechtsvorschriften erlassen, die in der Gesamtschau einen nahezu umfassenden Schutz für Überlebende von Diskriminierung bieten. In Hongkong beispielsweise wurde eine Reihe von Antidiskriminierungsverordnungen verabschiedet, darunter die Verordnung gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (SDO) und die Verordnung gegen die Diskriminierung von Behinderten (DDO) im Jahr 1995, die Verordnung gegen die Diskriminierung aufgrund des Familienstands (FSDO) im Jahr 1997 und die Verordnung gegen rassistische Diskriminierung (RDO) im Jahr 2008.

Erfahrungen und Erfolge

Die Erfahrungen der Länder, die bereits umfassende Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet haben, bestätigen den Ansatz: Gesellschaften erleben eine bereicherte Diskussion über die Komplexität und Diversität der Menschheit und damit neue Grundlagen für Toleranz und gegenseitiges Verständnis; Regierungsbeamt*innen fällt es leichter, bisher »schwierige« oder »sensible« Themen anzugehen. Antidiskriminierungsgesetze unterstützen also den gesellschaftlichen Fortschritt und den positiven sozialen Wandel.

Der zentrale Grund für ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz ist jedoch, den Opfern einen wirksamen Schutz zu bieten. Die Staaten sind demnach verpflichtet, echten Schutz vor Diskriminierung zu bieten und praktikable, zugängliche und sichere Rechtsmittel zu schaffen, wenn Menschen diskriminiert wurden. In allen Gesellschaften der Welt wird es jährlich viele solcher Menschen geben. Ohne wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung lassen Regierungen die Menschen im Stich, denen sie dienen.

Menschen aus extrem ausgegrenzten Gruppen – oft unzufrieden und entfremdet von der breiteren Gesellschaft – können so plötzlich erfahren, dass auch sie Rechte haben. Um ein Beispiel zu nennen: Der erste Fall, der Anfang der 2000er Jahre unter dem umfassenden bulgarischen Antidiskriminierungsgesetz verhandelt wurde, betraf eine Roma-Frau, der in einem Kurzwarenladen die Bedienung verweigert worden war. Die bulgarische Antidiskriminierungsbehörde erkannte an, dass die Handlung diskriminierend war und ordnete an, dass sich das Geschäft entschuldigen und Schadenersatz zahlen muss. Die Summe des Schadenersatzes war nicht groß, aber die Auswirkungen der Entscheidung waren in sozialer Hinsicht weltverändernd. „Die Menschenrechte werden in den unbedeutenden Orten [»small places«] ausgehandelt“, wie Eleanor Roosevelt es ausdrückte (1958).

Wie weiter?

In den Jahren 2020 und 2021 entwickelten die Abteilung für Indigene Menschen und Minderheiten des Menschenrechtsbüros der Vereinten Nationen (IPMS, OHCHR) und der im Vereinigten Königreich ansässige Equal Rights Trust (ERT) ein Handbuch mit dem Titel »Die Rechte der Minderheiten schützen: Ein Handbuch für die Schaffung umfassender Antidiskriminierungsgesetze«. Die Publikation füllt eine Lücke, da es Bedarf für ein solches Handbuch für OHCHR-Mitarbeitende, Regierungen, Parlamente, nationale Menschenrechtsinstitutionen (NHRIs), Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsaktivist*innen gab. In diesem Handbuch werden die wichtigsten konzeptionellen und inhaltlichen Elemente des Antidiskriminierungsrechts dargestellt, so wie sie in den internationalen Menschenrechtsverträgen und in der Rechtsprechung festgelegt sind. Zusätzlich zur Zusammenfassung der normativen Inhalte wird die Publikation konkrete länderbezogene Praktiken und praktische Anleitungen bieten.8

Die Covid-19-Pandemie und insbesondere die drastischen Ungleichheiten hinsichtlich der Auswirkungen auf Minderheiten, über die weltweit berichtet wird, haben die Dringlichkeit zur Erstellung eines solchen Leitfadens nochmal verdeutlicht. Denn es ist wahrscheinlich, dass es in der Zeit nach der Pandemie zu einer dramatischen Verschärfung der Ausgrenzung sowie zu langfristigen sozio­ökonomischen Auswirkungen kommt, da vielen Menschen der Verlust der Lebensgrundlage, der Krankenversicherung und anderer Dimensionen sozialer Schutzsysteme droht. Es bleibt zu hoffen, dass der Beitrag der Antidiskriminierungsgesetzgebungen dazu führt, dass Gesellschaften auf einer starken Menschenrechtsbasis zukünftig noch stärker ihre Resilienz entwickeln.

Anmerkungen

1) Anm. d. Übersetzung: Im englischen Original »race«. Forscher*innen fordern, diese Kategorie im deutschen Fachgebrauch durch die alternative Formulierung »rassistische Diskriminierung« oder »rassistische Kriterien« zu ersetzen.

2) Englisches Äquivalent: »Comprehensive Anti-Diskrimination Law«. Anmerkung d. Übersetzung: Ein wissenschaftlicher Diskurs zu einem umfassenden Antidiskriminierungsrecht hat sich in Deutschland bis dato nicht etabliert. Im Rahmen der Übersetzung steht der Begriff »umfassendes Antidiskriminierungsrecht« als Pendant zum englischen Begriff, der einen holistischen Ansatz verfolgt.

3) Anmerkung d. Übersetzung: Spezifisch in diesem Sinne gemeint, die »UN Treaty Bodies« des Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR).

4) Beispielsweise: Human Rights Committee, ­Concluding Observations: Korea, UN Doc. CCPR/C/KOR/CO/4, 3 December 2015, Paras 12-13. Anmerkung d. Übersetzung: Das aufgeführte Dokument ist über die OHCHR Datenbank Online abrufbar und frei zugänglich.

5) vgl. unter anderem A/HRC/WG.6/12/L.16, A/HRC/39/4 sowie /HRC/37/11.

6) vgl. hierzu Equality Act (2010), Canadian Human Rights Act (1985) und New Zealand Human Rights Act (1993).

7) vgl. Constitution of Kenya (2010, Article 27 (3) und (4)), sowie Fitzgerald (2010, S. 60).

8) Der Leitfaden erscheint im Jahr 2022, pünktlich zum 30. Jahrestag der »Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören« (1992).

Literatur

Antidiskriminierungsstelle (o.J.): Homepage. antidiskriminierungsstelle.de

Equal Rights Trust (ERT) (2009): Czech Republic becomes last EU state to adopt anti-discrimi­nation law. 25 June 2009.

Fitzgerald, J. (2010): The road to equality? The right to equality. Equal Rights Review, Vol. 5, S. 55-69.

Roosevelt, E. (1958): “The Great Question,” remarks delivered at the United Nations in New York. 27.03.1958.

Claude Cahn ist Human Rights Officer beim Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen (OHCHR) in der Abteilung für Indigenen- und Minderheitenrechte.

Aus dem Englischen übersetzt von Franziska Benz und David Scheuing.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/2 Völkerrecht in Bewegung – Von Kritik, Krisen und Erneuerung, Seite 17–19