W&F 1994/3

Anything goes

Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12.7.1994.

von Caroline Thomas und Randolph Nikutta

Ein Kommentar

Es steht fest, daß „militärische Einsätze der Bw außerhalb des NATO-Bereiches grundsätzlich nicht in Frage kommen, es sei denn, es läge ein Konflikt zugrunde, der sich gleichzeitig als ein völkerrechtswidriger Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland darstellt.“ Bundessicherheitsratsbeschluß von 1981, der von der CDU-Regierung 1982 bekräftigt wurde.

Jetzt sind »wir Deutschen« der Geschichte wieder ein weiteres Stück entrückt, ein weiteres Kapitel Nachkriegsgeschichte wurde beendet: »Im Namen des Volkes« darf deutsches Militär Frieden schaffen bzw. Krieg führen. Das BVG stellte die militärpolitische Souveränität her, auf die die herrschende Politik seit Ende der 80er Jahre konsequent hingearbeitet hat.

40 Jahre amtliche Verfassungsauslegung und politische Praxis und 250 Jahre völkerrechtliche Entwicklung wurden mit einem Strich (bzw. auf 142 Seiten) schlicht und ergreifend vom Tisch gewischt.

Das Gericht legte fest:

  1. Die Beteiligung der Bundeswehr an den Einsätzen in Somalia und im ehemaligen Jugoslawien verstoßen nicht gegen das deutsche Grundgesetz.
  2. Diese Einsätze hätten aber einer konstitutiven Zustimmung des Bundestages bedurft; die Regierung hat diese nicht eingeholt und somit gegen das Grundgesetz verstoßen.

Das alles hat niemanden verwundert, das war zu erwarten. Die Begründung überraschte jedoch.

Deutschland darf sich mit bewaffneten Streitkräften sowohl an sog. Blauhelmeinsätzen als auch an Kampfeinsätzen der UN, der NATO und der WEU außerhalb des NATO-Bündnisgebietes beteiligen. Art. 24 GG erlaubt „die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System (System kollektiver Sicherheit) typischerweise verbundenen Aufgaben.“ 1 Nicht nur die UNO und die KSZE, sondern auch die NATO und die WEU sind Systeme kollektiver Sicherheit im Sinne Art. 24.2 GG.

So eindeutig das Urteil auf den ersten Blick schien, ist die Auslegung trotzdem wieder Auslöser für einen Parteienstreit geworden. Die SPD interpretiert das Urteil etwas restriktiver als die Regierungskoalition. Ihrer Auffassung nach darf die Bundeswehr sich zwar an NATO- und WEU-Einsätzen beteiligen, aber nur, wenn diese einen Sicherheitsratsbeschluß der UN umsetzen oder ausführen2.

Da die NATO aber als System kollektiver Sicherheit (um)definiert wurde, ist diese Interpretation des Urteils u.E. nicht zutreffend und die Unterscheidung in der Praxis weitestgehend unerheblich, da jeder Militäreinsatz von Staaten, also auch der NATO- und WEU-Staaten, der sich nicht auf das individuelle oder kollektive Selbstverteidigungsrecht beruft, völkerrechtlich vorher von der UN legitimiert werden muß.

Warum die Aufregung?

Fünf Aspekte sind an dem Urteil aus Karlsruhe besonders bemerkenswert:

1.) Das Bundesverfassungsgericht stellt amtlich fest, daß es zwischen kollektiver Sicherheit und kollektiver Verteidigung keine prinzipiellen Differenzen gebe. Völkerrechtliches Allgemeingut ist bislang, daß sich diese sehr wohl von ihrer Konzeption her (Wirkung nach innen und außen) unterscheiden. Ob das deutsche Bundesverfassungsgericht wohl auch die Warschauer Vertragsorganisation als System kollektiver Sicherheit definiert hätte?

Die über den innenpolitischen Kontext hinausgehenden bündnispolitischen und völkerrechtlichen Folgen dieser Einebnung sind bedenklich. Zum einen unterstützt das Bundesverfassungsgericht damit indirekt die Bundesregierung und andere NATO-Regierungen, die die NATO und die WEU durch eine informelle Funktionserweiterung zu weltweit agierenden Bündnissen umgestalten möchten.

Zum anderen fällt das Verfassungsgericht mit seiner Zuweisung des Attributs kollektive Sicherheit an NATO und WEU in das Völkerrecht der Feudalzeit zurück, wie der Politologe Czempiel zutreffend anmerkt. Krieg und Frieden stellten zu dieser Zeit zwei legale Handlungsweisen dar. Militärallianzen waren und sind noch ein klassisches Instrument von Gewalt- und Machtpolitik im internationalen System. Der Völkerbund und danach die UN mit ihrem umfassenden Gewaltverbot und Gewaltmonopol sind angesichts der Erfahrungen von zwei verheerenden Weltkriegen in Abgrenzung zu herkömmlichen Militärallianzen geschaffen worden, um diese Gewaltinstrumente letztlich abzuschaffen. Das Verfassungsgericht negiert somit mit seinem Urteil einen bedeutsamen historischen Fortschritt in den internationalen Beziehungen, für den immerhin gut 250 Jahre gebraucht wurden.3

Warum nimmt das BVG diese historisch rückschrittliche Eigenschaftszuschreibung vor und verweist z.B. für Europa nicht auf die KSZE als ein adäquates System kollektiver Sicherheit? Das Verfassungsgericht stützt seine Ermächtigung für Bundeswehreinsätze, auf Artikel 24 Abs. 2. GG, der es der Bundesrepublik erlaubt, sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen. Außer zur Verteidigung ist das die einzige Ausnahme, die das Grundgesetz für den Einsatz deutscher Streitkräfte zuläßt.

Soll es der Bundeswehr nun also verfassungsrechtlich möglich sein, sich neben Aktionen unter unmittelbarer Leitung der UN auch an »peace-keeping«- und »peace-enforcing«-Aktionen im Kontext der NATO oder WEU zu beteiligen, dann blieb nur der völkerrechtlich bedenkliche Kunstgriff, den die Karlsruher Verfassungsrichter gewählt haben. Es blieb nur die Möglichkeit, NATO und WEU entsprechend Artikel 24.2 zu etikettieren. Sowohl aus historischen Gründen als auch für die Zukunft sind die NATO und die WEU die wichtigsten internationalen Handlungszusammenhänge für die Bundesrepublik, um ihre militärpolitische Gestaltungsmacht zum Tragen kommen zu lassen. Dem Verfassungsrichter war offenbar daran gelegen, der Exekutive keine signifikanten militärpolitischen Handlungsbeschränkungen aufzuerlegen.

2.) Hervorhebenswert ist an dem Urteil auch die Verwischung der Grenzen zwischen friedensichernden und -schaffenden Operationen. Die Verfassungsrichter sehen hier fließende Übergänge. Mit dieser Auffassung fördern sie eine Militarisierung der Institution der UN-Blauhelme, deren Einsatz an sehr streng gefaßte Kriterien gebunden ist. Das Verfassungsgericht eignet sich die Sichtweise der Exekutive, insbesondere die der militärischen Führung, an und ermuntert die Regierung geradezu, diese höchst fragwürdige Verwischung durch eigenes militärisches Handeln als völkerrechtliche Praxis zu etablieren.

Die Verwischung zwischen den beiden Einsatzformen in der Praxis soll hier nicht geleugnet werden, im Gegenteil. Diese politisch bewußt herbeigeführte fehlende Trennung aber völkerrechtlich festzuschreiben würde den Erfolg der »traditionellen Blauhelm-Einsätze« endgültig zunichte machen und eine friedenspolitisch wünschenswerte Stärkung gerade der zivilen Komponenten der Blauhelmeinsätze nicht mehr ermöglichen.

3.) Höchst bemerkenswert ist das Minderheitenvotum von vier Verfassungsrichtern bezüglich der schleichenden Aufgabenerweiterung von NATO und WEU. Sie gelangten zu der Auffassung, daß der seit 1990 beobachtbare Umgestaltungsprozeß und die damit einhergehende Aneignung grundsätzlich neuer Aufgaben im militärischen Bereich in beiden Bündnissen eine faktische Vertragsänderung darstelle, die dem Parlament zur Abstimmung hätte vorgelegt werden müssen. Es ist zu hoffen, daß sich die Bundesregierung durch diese Pattentscheidung in Zukunft davon abhalten läßt, in noch dreisterer Art und Weise den NATO-Vertrag umzuinterpretieren.

4.) Fördernd auf die Demokratisierung von Außenpolitik wirkt das Urteil dahingehend, daß die Entscheidungsbefugnis des Parlamentes über Auslandseinsätze der Bundeswehr festgeschrieben wird. Die traditionelle Ansicht der Exekutive, sie allein entscheide über den Einsatz der Streitkräfte, wird hier relativiert. Zur Konkretisierung fordert das Verfassungsgericht Exekutive und Legislative explizit dazu auf, sich auf konkrete Verfahren zur Mitentscheidung des Parlaments zu verständigen. Durch das Erfordernis der Zustimmung des Bundestages wird eine öffentliche Debatte bezüglich der jeweiligen Einsätze dann unumstößlich.

Diesen positiven Aspekt des Urteils sollte man allerdings nicht überbewerten, da das Gericht der Regierung große Schlupflöcher gelassen hat. Sowohl wenn die sog. Bündnisfähigkeit berührt ist als auch wenn „Gefahr im Verzuge“ ist, könne die Bundesregierung „vorläufig“ den Einsatz von Streitkräften ohne parlamentarische Zustimmung beschließen.

5.) Abschließend ist an dem Urteil noch hervorzuheben, daß es ein elementares und prägendes Segment der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kommentarlos entsorgt. Bis 1990 lief die herrschende Verfassungsinterpretation und -praxis sämtlicher Bundesregierungen darauf hinaus, daß ein »out-of-area«-Einsatz der Bundeswehr mit dem Grundgesetz unvereinbar sei (siehe Eingangszitat des Bundessicherheitsratsbeschlußes). Das Verfassungsgericht stellt fest, daß die geübte militärische Restriktion und die dafür angeführte verfassungsrechtliche Begründung nie bestanden hätten. War die bisherige Praxis von Exekutive und Legislative lediglich ein Irrtum4?

Reaktionen

Neben diesen genannten bemerkenswerten Aspekten des Urteils selber gaben auch die Reaktion der Öffentlichkeit und der Parteien zu Irritation Anlaß. Während die deutsche Öffentlichkeit im großen und ganzen fast überhaupt nicht reagierte – der große Aufschrei aber auch der Jubelschrei blieb aus – begrüßten die CDU, FDP und die SPD einhellig das Urteil. Während die internationale Presse von einem „turning point in the country`s history“ 5 sprach, wird in der Bundesrepublik drei Monate nach dem Urteil längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Das Kalkül der Regierung ging auf. „Der Bundesregierung ist das Kunststück gelungen, via Karlsruhe eine Verfassungsänderung ohne verfassungsändernde Mehrheit durchzusetzen.“ 6

Nach der einhelligen Begrüßung des Urteils, sowohl seitens der Kläger als auch der Beklagten, folgte die Erleichterung darüber, daß nun endlich die Debatte um Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr beendet sei. Müßte nicht jetzt endlich die politische Debatte erst wirklich beginnen? Ersetzt die BVG-Entscheidung eben doch die politische Entscheidung?

Was folgt?

„Jetzt sind wir grundsätzlich frei,“ war der Kommentar von Klaus Kinkel7. Drei Tage nach der Verkündung des Urteils beschloß die Bundesregierung bereits, ihre neuen Freiheiten zu nutzen. Sie legten einen Antrag für den Bundestag vor, der auf der 150.000,- DM teuren Sondersitzung den ersten (auch von den Regierungsparteien so definierten) Kampfeinsatz bundesdeutscher Soldaten nach dem zweiten Weltkrieg beschließen sollte. CDU, FDP und SPD beschlossen einige Tage nach der Verkündung des Urteils die »Rules of Engagement«, also die Einsatzgrundlagen für die beteiligten Bundeswehrsoldaten bei dem Einsatz im ehemaligen Jugoslawien zu erweitern. Ab sofort sollten die Bundeswehrsoldaten genau wie die anderen Beteiligten auch, Blockadebrecher in der Adria mit militärischer Gewalt aufhalten dürfen, und die in den AWACS-Maschinen fliegenden deutschen Soldaten sollen in Zukunft bei der Durchsetzung des Flugverbotes in ihrer Handlungsfreiheit nicht mehr eingeschränkt sein und auch außerhalb des NATO-Vertragsgebietes ihre Flüge durchführen. Ein Kampfeinsatz unter Beteiligung der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien.

Den Programmaussagen der SPD wiederspricht dieser wenige Tage nach dem Urteilsspruch in großer Eintracht zwischen den drei Alt-Parteien verabschiedete Antrag. Kampfeinsätze sollen nach Meinung der SPD-Mehrheit von der Partei nicht mitgetragen werden. In Gegensatz hierzu stellt sich allerdings auch der Bundesgeschäftsführer Verheugen8: „Ich glaube, daß praktische Auswirkungen dieses Urteils in völliger Übereinstimmung stehen mit dem, was die SPD politisch will.“

Aber in Zukunft wird es sicherlich nicht mehr nur um Kampfeinsätze a la »Jugoslawien« gehen. Wem die Aussagen bezüglich des Schutzes des freien Welthandels, der auch von deutschem Militär aufrechtzuerhalten sei, in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom November 1992 noch nicht deutlich genug waren, wird durch die Reaktion auf das BVG-Urteil eines besseren belehrt. So vermerkte nicht ein Hardliner wie Stoltenberg oder Rühe, sondern der Liberale Kinkel in einem SZ-Gespräch: „Vor der Entsendung von Truppen werde in jedem Einzelfall »sauber zu prüfen« sein, »ob besondere deutsche Interessen vorliegen«. Auch wirtschaftliche Interessen könnten dabei »eine Rolle spielen"“ 9. Einsatzkriterium werden also deutsche (auch wirtschaftliche) Interessen sein und nicht – wie der deutschen Öffentlichkeit immer vermittelt wird – der Grad der Menschenrechtsverletzungen bzw. die Not der Menschen.

Die Bundesrepublik wird sich allerdings allein aus finanziellen Überlegungen heraus – hier sind deutsche Interessen berührt – auch in Zukunft nicht so ausgiebig militärisch engagieren, wie manchem vielleicht vorschwebt. Für 1995 bspw. sind ganze 90 Mio. DM im Verteidigungshaushalt für »out-of-Area«-Einsätze veranschlagt.10 Der Somaliaeinsatz hat ca. 350-500 Mio. DM gekostet. Allerdings sind auch diese Ausgaben erst im Nachtragshaushalt bewilligt worden.

Ein Trost bleibt: Der Bundeswehreinsatz nach innen ist auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes immer noch verboten. Ob diese Interpretation allerdings auch morgen und übermorgen noch gilt, bleibt natürlich in Frage gestellt. Schäuble, der im Zusammenhang mit den Streiks in Bischofferode darüber spekulierte, ob nicht auch ein innenpolitischer Einsatz der Bundeswehr möglich sei, wird wahrscheinlich den Verfassungsrichtern von morgen einen neuen Kunstgriff abtrotzen.

Caroline Thomas und Randolph Nikuta

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1994/3 Von Freunden umzingelt, Seite