W&F 2012/4

Arabellion – Neubeginn oder Status Quo?

Johannes M. Becker, Rachid Ouaissa und Werner Ruf

Im Rahmen der International Summer University (ISU) 2012 an der Philipps-Universität Marburg beleuchtete eine Podiumsdiskussion die aktuelle Situation in der arabischen Welt. W&F dokumentiert eine Kurzfassung des Gesprächs.

Becker: Was war der Katalysator für den Arabischen Frühling? Warum begannen die Aufstände gerade in Tunesien und Ägypten?

Ruf: Auslöser war die soziale Situation. Soziale Unruhen und Proteste gegen die Arbeitsbedingungen und gegen die Perspektivlosigkeit gab es schon seit Jahren. Denken Sie nur an die Tausende von Menschen, die sich auf den Weg über das Mittelmeer machten, obwohl sie das Risiko genau kannten.

Ouaissa: Seit Mitte der 1980er Jahre sind zwei Grundpfeiler des Systems in eine Krise geraten: zum einen das rentenbasierte Verteilungssystem, zum anderen die großen Ideologien, wie der arabische Sozialismus und der Pan-Arabismus. Der Reichtum dieser Länder konzentriert sich zunehmend in den Händen einer Minorität. Die soziale Ungleichheit ist größer denn je.

Außerdem bewirkte der neoliberale Kurs seit den frühen 1990er Jahren enorme strukturelle und demographische Veränderungen. Die arabischen Familien werden immer kleiner, und die sozialen Hierarchien verlieren an Bedeutung. Die jungen Menschen wollen aber am politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Leben partizipieren.

Becker: Welche Rolle spielten beim Arabischen Frühling die Religion einerseits und der soziale Kontext andererseits?

Ouaissa: Ich glaube, dass die sozialen Umstände die Hauptrolle spielten. In der arabischen Gesellschaft gibt es aber eine Hauptkonstante: der Glaube an die Gleichheit der Menschen. Da gibt es übrigens viele Parallelen zu den USA, und es erklärt die starke Religiosität in beiden Gesellschaften. Wächst die Ungleichheit, wächst auch die Religiosität, sozusagen als Ersatz für den »failed state«. Allerdings war die Selbstverbrennung des tunesischen Straßenhändlers Mohamed Bouazizi kein religiöser Akt, sondern eher ein Protest gegen die religiösen Autoritäten.

Ruf: Zu Beginn der Aufstände waren die islamistischen Parteien nicht präsent. Dann gewannen sie aber immer mehr an Einfluss, weil ihre Mitglieder auch Opfer der Repression durch das alte Regime gewesen waren. Sie standen für mehr soziale Gerechtigkeit, für das genaue Gegenteil zu den alten, korrupten und pro-westlichen Diktaturen.

Becker: Und der Krieg in Libyen, war der Teil des Arabischen Frühlings?

Ruf: Ja und nein. In Libyen gab es keine sozialen Probleme. Auf die relativ kleine Bevölkerung entfiel ein erheblicher Teil der Ölrente.

Ouaissa: Es waren zwei Aspekte relevant: zum einen die ungleiche Machtverteilung zwischen den Stämmen [im Osten und Westen des Landes] und zum anderen die Versuche des Westens, die reichen Bodenschätze zu kontrollieren. Die Intervention in Libyen ist ein hervorragendes Beispiel für eine neue Ausprägung des Imperialismus, die ich Turbo-Imperialismus nennen würde. Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass die europäischen Mächte bereit sind, zum Schutz ihrer eigenen Interessen eine Militärintervention durchzuführen.

Becker: Welche Rolle spielt das Ausland bei den Unruhen in Syrien?

Ruf: Saudi-Arabien und Katar belieferten die Opposition von Anfang an mit Waffen. Der Fernsehsender von Katar organisierte Anti-Assad-Propaganda. Syrien, eine grausame Diktatur, ist neben Algerien und dem Libanon der letzte wichtige säkulare Staat in der Region. Schon seine bloße Existenz ist für die despotischen Regime auf der arabischen Halbinsel seine Provokation. Mit einem Regimewechsel in Syrien würde auch der Iran erheblich geschwächt, er würde seinen wichtigsten Verbündeten verlieren.

Ouaissa: Der Fall Syrien beweist, dass die Ereignisse in der arabischen Welt Teil eines Konflikts über die Neuaufteilung des Nahen und Mittleren Ostens sind.

Becker: Wohin geht die Entwicklung beim Arabischen Frühling? Werden die sich entwickelnden Staaten inspiriert, so dass es zu einem »Globalen Frühling« kommt?

Ruf: Einerseits ja. Es geht hier um das Aufbegehren der jungen Generation, die keinerlei soziale Perspektiven hat. Auf der anderen Seite wird immer klarer, dass die Islamisierung unter der Führung der Wahabiten darauf zielt, reaktionäre Regime zu etablieren, die dem Westen freundlich gesinnt sind. Die Islamisten sind die einzige politische Kraft, die im Wesentlichen die Prinzipien der liberalen Marktwirtschaft unterstützt und den freien Fluss des Öls in den Westen garantiert.

Ouaissa: Die Entwicklung in der arabischen Welt hängt von zwei wichtigen Faktoren ab: Erstens, welche Allianzen (auf der gesellschaftlichen wie der staatlichen Ebene) die islamistischen Parteien schmieden können. Und zweitens, ob der Westen diese neuen Führer in der arabischen Welt als ebenbürtige Partner akzeptiert.

PD Dr. Johannes M. Becker, Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg, und Prof. Dr. Rachid Ouaissa, Centrum für Nah- und Mittelost-Studien, waren die akademischen Leiter der ISU 2012. Prof. em. Dr. Werner Ruf ist Politologe und Friedensforscher.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2012/4 Rüstung – Forschung und Industrie, Seite 44