W&F 1989/2

Atomtest – Kein Stopp in Sicht!

von Michael Kalman

Am 16. Dezember 1988 sind die sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über Kernwaffentests (Nuclear Testing Talks, NTT) in Genf ergebnislos unterbrochen worden. Noch steht der Termin für die Fortsetzung der Gespräche nicht fest. Die neue US-Administration unter Präsident Bush bastelt immer noch an ihrem außen- und sicherheitspolitischen »Gesamtkonzept«. Trotzdem wird uns auch ein Erfolg der NTT dem entscheidenden »Endziel« eines Umfassenden Teststopps (Comprehensive Test Ban, CTB) nicht nennenswert näherbringen.
Konkretes Ziel der bilateralen Test-Gespräche in Genf ist nämlich lediglich die Ratifizierung von zwei „rüstungskontrollpolitischen Ladenhütern“ aus den siebziger Jahren, den sogenannten Schwellenverträgen. Diese Abkommen über die „Begrenzung der unterirdischen Atomwaffentests“ (Threshold Test Ban Treaty, TTBT) und „Unterirdische Atomexplosionen für friedliche Zwecke (Peaceful Nuclear Explosions Treaty, PNET)“, paraphiert in den Jahren 1974 und 1976 sind formell noch nicht in Kraft.

Washington behauptet seit Jahren, eine hinreichend genaue Kontrolle der Einhaltung dieser Verträge sei noch nicht gewährleistet. Daher brachte die US-Administration eine neue hydrodynamische Meßmethode ins Spiel, CORRTEX1. Mit diesem Schachzug gelang es Washington im Laufe des Jahres 1987 von den sowjetischen Forderungen nach direkten Verhandlungen zu einem Umfassenden Teststopp abzulenken. Moskau ging schließlich nach langem Zögern auf die amerikanische Position, wonach zunächst die Schwellenverträge - möglicherweise unter Verwendung von CORRTEX – zu ratifizieren seien, ein. Das hatte Folgen. Denn nun mußte erst ein Konsens über die beste Meßmethode zur Ladungsstärke-Bestimmung erzielt werden, da auch die Sowjetunion ein hydrodynamisches Verfahren mit der Bezeichnung MIS (Method of Impulse Sensing) entwickelt hatte. Unabhängig davon erachtet die Sowjetunion ihr teleseismisches System als ausreichend zur Verifikation.

Alle offenen Fragen sollte das sogenannte »Gemeinsame Verifizierungsexperiment« (Joint Verification Experiment, JVE) klären. Es wurde auf den Testgeländen der beiden Supermächte in Nevada und Semipalatinsk im August und September 1988 durchgeführt. Je ein speziell präparierter Nuklearsprengsatz wurde zur Überprüfung der on-site-installierten hydrodynamischen (CORRTEX, MIS) und seismischen Meßmethoden gezündet.

In der Presse war sogleich von „gemeinsamen Atomtests“ die Rede, was zu implizieren scheint, daß nunmehr nur noch miteinander getestet wird. Tatsächlich aber testen beide Seiten weiterhin gegeneinander, unvermindert werden Massenvernichtungswaffen perfektioniert.

Der Ansatz des JVE greift im Hinblick auf einen Umfassenden Teststopp entschieden zu kurz. Die hydrodynamischen Meßverfahren sind für sich genommen nämlich in keiner Weise für niedrige Ladungsstärken geeignet, sie sind also für niedrigere Schwellenverträge oder gar einen CTB sinnlos.

Dennoch beurteilt der Bochumer Geophysiker Harjes das JVE auch im Hinblick auf einen CTB positiv. Das gemeinsame Experiment hätte mit der Versachlichung der Diskussion über Verifizierungsmethoden „einen Fortschritt, wenn nicht sogar (einen) Durchbruch auf dem Weg zu einem Atomteststopp“2 erzielt. Mit Hilfe der CORRTEX-Methode könne zudem die Meßgenauigkeit des seismischen Verfahrens steigen, was später auch einmal der Kontrolle eines Umfassenden Teststopps zugute komme3. In der Tat ist mit dem JVE auch eine Eichung der seismischen Methode vorgesehen. Die seismische Überwachung eines CTB erfordert jedoch weniger die Bestimmung der konkreten Ladungsstärke, sondern die zuverlässige Kontrolle, ob überhaupt getestet wird – unabhängig davon wie stark.

Gerade Harjes hat schon vor einigen Jahren ein zuverlässiges Verfikationssystem für einen Umfassenden Versuchsstopp entwickelt. Danach soll ein weltumspannendes Netz von 50 bis 100 sogenannten »Arrays« die Einhaltung eines CTB kontrollieren. Arrays sind zentral zusammengeschaltete Erdbebenmeßgeräte in Abständen von jeweils einigen Kilometern; sie sollen auf dem modernsten Stand gehalten werden. Die Unschärfen der seismischen Meßmethode würden durch diese (quantitative) Massierung von Meßstationen ausgeglichen. Zusammen mit dem Recht auf Kontrollinspektionen vor Ort zu jeder Zeit und weltraumgestützte Photo-Aufklärungssatelliten, die heimliche Vorbereitungen und Bohrungen für einen Atomtest beobachten können, ist eine ausreichende Verifikation möglich. Zudem würde sich nach Ratifikation eines CTB angesichts dieser Kontrollmaßnahmen keine Vertragspartei dem Risiko aussetzen wollen, durch heimliche Atomtests des Vertragsbruchs überführt zu werden.

Vor allem die politischen Implikationen der Harjes'schen Beurteilung des JVE müssen mit Skepsis betrachtet werden. Denn die USA hat den Gebrauch von CORRTEX speziell für eine verbesserte Verifizierung der Schwellenverträge angeregt und die Sowjetunion damit von ihrer Maximalforderung eines direkten – und technisch seit Jahren möglichen! – Zusteuerns auf einen CTB abgebracht. Bezeichnenderweise antwortete Troy E. Wade, am Ende der Reagan-Ära Unterstaatssekretär für Verteidigungsprogramme im Energieministerium, auf die Frage, ob CORRTEX für Atomtests mit niedrigen Ladungsstärken geeignet sei:„Die Präzision von CORRTEX für die Verifikation von niedrigeren Ladungsstärken ist nicht bestimmt worden, aber dies ist (auch) ein völlig anderes Problem. Wir befassen uns in diesem Fall (dem JVE, der Verf.) mit der 150 Kilotonnen-Schwelle und CORRTEX erreicht eine außerordentlich hohe Meßgenauigkeit bei diesen Ladungsstärke-Bereichen.“4 Nach neuesten Vermutungen muß allerdings sogar bezweifelt werden, ob diese von den Amerikanern so hochgelobte Methode eine geringere prozentuale Meßfehlerquote hat als seismische Meßverfahren.5 Auch der Wert des JVE als vertrauens- und konsensbildende Maßnahme wäre also gering, wenn es als Vehikel benutzt würde, echte Rüstungskontrolle, die diesen Namen verdient, zu verschleppen.

Dies umso mehr, als sich die Supermächte an die zu ratifizierenden Schwellenverträge, die unterirdische Atomtests mit einer Ladungsstärke von über 150kt verbieten, im Prinzip ohnehin gehalten haben. Zwar gab es einen Streit zwischen Sowjets und Amerikanern wegen angeblicher Überschreitung dieser Schwelle. Dies war jedoch, wie sich aufmerksamen Beobachtern schnell offenbarte, ein kleinliches, vom Pentagon inszeniertes Ablenkungsmanöver, welches ausgerechnet ein führender amerikanischer Geophysiker in Diensten des Energieministeriums aufdeckte. Charles Archambeau konnte nämlich nachweisen, daß die amerikanischen Schätzungen der Ladungsstärken sowjetischer Tests unrealistisch hoch lagen, weil einfach die Gesteinsbeschaffenheit der Nevada Test Site (NTS) unkritisch auf die Gegebenheiten von Semipalatinsk übertragen wurden. Dort liegt ein ganz anderer, viel härterer Untergrund vor, der unverhältnismäßig stärkere Wellen in der Erdkruste nach einer nuklearen Detonation aussendet. Archambeau führte daraufhin realistischere Korrekturterme ein, die längst auch vom US-Verteidigungsministerium übernommen wurden. 6 1986/87 glaubte die US-Administration aber, sich solcher Scheinargumente bedienen zu müssen, denn sie war durch Gorbatschows Moratorium in die diplomatische Defensive geraten.

Die rüstungskontrollpolitische Sinnlosigkeit der bilateralen Bemühungen um eine Ratifikation läßt sich auch daran zeigen, daß die Schwellenverträge nur einen stürmischen Prozeß der quantitativen und qualitativen Weiterentwicklung der Sprengköpfe nachträglich sanktionieren, der sich schon lange auf niedrigere Kilotonnenbereiche verlagert hatte. Auch ohne TTBT wären die sogenannten Superbomben im Megatonnenbereich also überflüssig geworden. Die Tendenz, Sprengköpfe im Zusammenhang mit der Erhöhung der Zielgenauigkeit von Raketen zu miniaturisieren, beschreibt zudem qualitative Sprünge, die bis heute unvermindert anhalten. In bemerkenswerter Offenheit sagte denn auch der damalige US-Sicherheitsberater Henry Kissinger nach Paraphierung des TTBT am 3. Juli 1974 in Moskau, der Schwellen-Testbann werde „dahin wirken, den Wettlauf auf den Bereich der Waffen mit geringerer Sprengkraft zu konzentrieren“7. Kissinger schien dies als Erfolg zu werten. Die Weiterentwicklung von Präzisionssprengköpfen und Raketen, u.a. dazu auserkoren, gehärtete gegnerische Silos und Kommandozentralen zu durchschlagen, signalisieren dem jeweiligen Gegner jedoch - ob zu Recht oder zu Unrecht -, daß in destabilisierender Weise eine ganz konkrete nukleare Kriegsführungsfähigkeit angestrebt wird.

Von allen Argumenten der Testbefürworter verdient dennoch das abschreckungspolitische Begründungsmuster eine genauere Analyse.

Nukleare Abschreckung ist nach wie vor ein schwer zu hinterfragendes Konzept, weil es unter der Prämisse, daß Staaten dann einen Krieg vom Zaume brechen, wenn es sich lohnt, durchaus vernünftig ist. Im Rahmen der folgenden Überlegungen möchte ich diese Prämisse akzeptieren, um mich in der gebotenen Kürze in die Lage zu versetzen, die herrschende Form des westlichen Abschreckungssystems, immanent zu kritisieren. Eine solche Kritik bleibt weiterhin notwendig, weil dieses System zusammen mit anderen Faktoren eine gefährliche Rüstungsdynamik schürt und jede Initiative für einen vollständigen Teststopp bisher zum Scheitern verurteilt hat.

Die nukleare Rüstungsdynamik, die 1945 ihren Ausgang nahm, führte zu einem Atomwaffenarsenal, deren potentielle Zerstörungswirkung sich ebenso menschlichem Vorstellungsvermögen entzieht wie beispielsweise der planmäßige Völkermord an den Juden im Dritten Reich. Gleichwohl firmierte dieser zutiefst irrationale Prozeß unter wechselnden Etiketten des Abschreckungskalküls, was kühle militärische Absicht und Planung suggeriert. In den fünfziger Jahren fand man das Stichwort »massive retaliation« und entwarf »countercity«-Szenarien. In den sechziger Jahren, als sich in einem beispiellosen Aufrüstungsprozeß die sogenannte nuklearstrategische »Parität« anbahnte, glaubte man einen Zustand der »mutual assured destruction« (MAD) konstatieren zu können. Inzwischen hatte sich das weltweite Nuklearpotential dermaßen ausgedehnt, das die böse Vokabel der »overkill-capacity« nicht nur längst Realität geworden, sondern auch schon abgegriffen war.

Ende der sechziger Jahre setzte sich in der NATO dann die bis heute gültige »flexible response«-Doktrin durch. Sie hatte in der USA schon zur Kennedy-Zeit das massive-retaliation-Paradigma - nicht zuletzt wegen des ungelösten Selbstabschreckungsdilemmas – abgelöst. Nunmehr sollte auf einen Angriff des Warschauer Paktes nicht mehr mit massiven, extrem zerstörerischen Nuklearschlägen „geantwortet“, sondern mit einer breiten Auswahl von militärischen Optionen reagiert werden, die sich von der Verteidigung mit konventionellen über begrenzte nukleare Warnschläge auf gegnerisches Territorium bis hin zur allgemeinen nuklearen Reaktion erstrecken. Ein solch „anspruchsvolles“ Konzept gab der Rüstungsdynamik neue und zusätzliche „Impulse“.

Greifen wir zur näheren Untersuchung die mittlere Option heraus.8 Die NATO sieht einen oder wenige gezielte nukleare Schläge gegen feindliches Territorium mit relativ geringer Zerstörungskraft und Schadensbegrenzung dann vor, wenn die konventionellen Mittel für eine erfolgreiche Verteidigung nicht ausreichen. Dem offiziellen NATO-Jargon gemäß (Nuklearwaffen seien „politische Waffen“) soll mit diesen Schlägen dem Gegner signalisiert werden, daß nun die Kampfhandlungen unverzüglich zu beenden seien, sonst drohe die allgemeine nukleare Reaktion. Den politischen Gehalt der Waffensysteme mit dieser Einsatzoption sieht man in den qualitativen militärischen Merkmalen »Zielgenauigkeit«, »Begrenzung des Kollateralschadens«, schließlich »Zuverlässigkeit«, verwirklicht. Es ist unschwer zu erraten, daß die Erfüllung solcher Eigenschaften höchste Anforderungen an die nuklearen Sprengkopfprofile stellt. Dies umso mehr, wenn man die dauernd expandierenden technologischen Möglichkeiten als einen entscheidenden Maßstab für die Realisierung solcher Anforderungen nicht nur akzeptiert, sondern vielfach sogar heftig begrüßt.

Aus diesen Zusammenhängen heraus ergibt sich ein nicht enden wollender Testbedarf.

Aber schon die Prämissen der hier erörterten first-use-Option, welche neben anderen die Aufrechterhaltung der Tests rationalisieren soll, sind fragwürdig. Wenn die westlichen Militärplaner glauben, daß im Kriegsfall solche »nuklearen Signale« im Rahmen einer »vorbedachten Eskalation« vom Gegner auch tatsächlich entsprechend der NATO-Intention verstanden werden, so gehen sie davon aus, daß sie die Regeln für eine »nukleare Kommunikation« auf dem Schlachtfeld (dieser Euphemismus bleibt uns nicht erspart!) auch für die Gegenseite verbindlich formulieren können. In diesem Fall würden - so das Kalkül - die WP-Staaten die Kriegshandlungen sofort abbrechen, weil ihnen das nukleare Grauen sozusagen „symbolisch“ vorgeführt würde. Dies kann so funktionieren, dies kann aber auch eine komplette Illusion sein. Warum sollte die Sowjetunion in der extrem angespannten Kriegssituation gemäß dieser Rationalität handeln? Was ist, wenn Moskau das nukleare Signal nicht versteht und selbst nuklear antwortet? Auf solche Ungewißheiten einen gravierenden Teil der westlichen nuklearen Infrastruktur aufzubauen, offenbart eine erschreckende Naivität.

Auch die ausgetüftelte flexible response-Doktrin hat also das Selbstabschreckungsdilemma nicht zu lösen vermocht. Sie ist auch nicht durch illusionäre Metaphern wie »Eskalationskontrolle« gelöst worden. Vielmehr ist durch die Differenzierung und Vermehrung nuklearer Einsatzmöglichkeiten der östlichen Gegenseite wahrscheinlich etwas ganz anderes signalisiert worden: daß atomare Einsätze auf dem »theatre« in Europa normal in das konventionelle Kampfgeschehen integriert werden sollen. Die amerikanischen Nukleartests tragen also erheblich dazu bei, daß auch regionale nukleare Kriegsführungsoptionen denkbarer werden. Wenn es überhaupt jemals gestimmt hat, daß man Westeuropa mit taktischen Nuklearwaffen stärker an den amerikanischen »atomaren Schutzschirm« koppeln kann, so ist etwa mit nuklearen Gefechtsfeldwaffen der Tendenz nach jedenfalls das Gegenteil erreicht worden.

Von ähnlich zweifelhafter Natur sind die Bemühungen, mit Hilfe der Tests die dritte Generation der Nuklearwaffen zu realisieren. SDI - ein Traum wie ihn heute wahrscheinlich nur noch Amerikaner träumen können - beruht auf der Spekulation, die Abschreckung mit technischen Mitteln obsolet zu machen. In Zusammenhang mit dieser Vision - und nur hier - entdeckte die amerikanische Administration plötzlich ethische Vorbehalte gegen die Abschreckung. Auch in diesem Zusammenhang wird ein immenser Testbedarf eingefordert für ein Ziel, das wenig sinnvoll ist:

1.) Man stelle sich eine Welt vor, in der die USA kurz vor der Realisierung von SDI steht, also ausreichenden Schutz vor den sowjetischen Interkontinentalraketen hat, während die UdSSR dem kein adäquates Defensivsystem entgegenzusetzen hätte. Dies würde einer Wiederherstellung der amerikanischen Erstschlagfähigkeit gleichkommen. Diese Aussicht würde Moskau in erhebliche Präemptionszwänge stürzen, die Welt also erheblich unsicherer machen.

2.) Technisch und vom finanziellen Aufwand her ist SDI überhaupt nicht zu realisieren - so ist jedenfalls die Meinung der überwiegenden Mehrheit der Fachleute. Allein das Streben der USA nach dieser Form einseitiger Sicherheit heizt jedoch die Bedrohungsängste der Gegenseite immer wieder an, die dann mit hektischen Aufrüstungsschritten reagiert.

Diese Kritik an SDI und an der NATO-Doktrin ist natürlich nicht neu. Sie muß aber auf der Tagesordnung bleiben, um zu zeigen, durch welche Fiktionen die Atomtests bis zum Sanktnimmerleinstag aufrechterhalten werden.

Perspektiven einer Reform des Abschreckungssystems

Zur Freiheit und politischen Entscheidungsfähigkeit der Menschheit am Ausgang des 20. Jahrhunderts gehört auch die Fähigkeit, die gewaltigen und beängstigenden technologischen Möglichkeiten im Rüstungssektor in gemeinsamer Absprache gerade nicht zu nutzen. Die Rüstungsdynamik als quasi naturgegebene Konstante hinzunehmen, bedeutet in der Tat, einem extensiv ausgelegten Abschreckungsbegriff zu folgen, der unerbittlich verlangt, das technologisch Machbare auch tatsächlich zu machen. Schließlich – so wird hinzugefügt – schlafe ja auch die Gegenseite nicht. So wird eine gigantische Ressourcenverschwendung in die Wege geleitet, die nicht nur die vorgeblich zu schützenden Güter in Ost und West tendenziell entwertet, sondern auch den Status Quo in der internationalen Politik mit Mitteln zu sichern versucht, die immer wieder die Tendenz haben, diesen gerade zu überwinden.

Das bestehende Kräfteverhältnis in Ost und West läßt sich jedoch erheblich besser schützen, wenn man durch gemeinsame Abkommen wichtige Elemente der Rüstungsdynamik paritätisch eliminiert. Ein solches Element ist der Atomtest. Ein CTB würde den kriegsverhütenden Kern der Abschreckung stärken, weil ein dynamisches Element der Rüstungsentwicklung herausgenommen würde. Eine Drosselung der Rüstungsdynamik führt aber zu mehr gegenseitiger Berechenbarkeit, weil dann nicht mehr so stark technologische Möglichkeiten (mit ungewissem Ausgang) die Form des Abschreckungssystems diktieren, sondern politische Abkommen. Ein CTB würde also nicht nur ein Schlaglicht auf eine friedfertige Welt richten, auch Abschreckungsbefürworter müssen ihn wollen. Denn Abschreckung im Nuklearzeitalter ist und bleibt eine psychologische Qualität. Sie besteht – unbeschadet der Unwahrscheinlichkeit der tatsächlichen Anwendung von Nuklearwaffen durch das Faktum der Selbstabschreckung – im Kern nur aus drei bis vier Elementen:

  1. Vorhandensein von Nuklearwaffen: mindestens zwei gegnerische Staaten besitzen solche Waffen und können das jeweils andere Territorium damit erreichen.
  2. Zweitschlagfähigkeit
  3. Ungewißheit: die Waffen könnten eingesetzt werden.
  4. Glaubwürdigkeit: Dieses Kriterium ist dann erfüllt, wenn 3. erfüllt ist.

Auch das Kriterium der Glaubwürdigkeit wurde in den entscheidenden NATO-Etagen bislang unrealistisch extensiv ausgelegt. Bislang sieht man die Glaubwürdigkeit von Abschreckung nur dann realisiert, wenn ein riesiges Overkill-Potential nach dem neuesten Stand der Technik jederzeit zuverlässig einsatzbereit ist. Eine solche Sicht der Dinge läßt sowohl den psychologischen als auch den kriegsverhütenden Kern der Abschreckung außer acht.

Wenn durch einen CTB keine neuen, noch raffinierteren Sprengköpfe entwickelt werden könnten, so würde sich die Glaubwürdigkeit fortan auf das bestehende Potential stützen. Dieses ist bereits ausreichend getestet worden und zuverlässig. Und selbst wenn dieses Potential nach Jahrzehnten drohte, unzuverlässiger zu werden, so würde es paritätisch unglaubwürdiger. Punkt 2.) (Ungewißheit), der Kern der Abschreckung, würde damit nicht angetastet. Im übrigen heißt ein CTB (leider) ja noch nicht Produktionsstopp von Sprengköpfen; die ausreichend getesteten Profile der bestehenden Arsenale können jederzeit nachgebaut werden.

Auch das Argument, ein Umfassender Teststopp stärke die Sowjetunion, da diese wegen ihrer konventionellen Überlegenheit nicht auf verfeinerte nukleare first-use-Optionen angewiesen sei, verfängt nicht. Ersteinsatzplanungen können – wie oben gezeigt – nicht überzeugen, da niemand weiß, ob das NATO-Kalkül aufgeht. Eine Option, die einen Weltenbrand in der Konsequenz nicht ausschließen kann, muß also als extremes Sicherheitsrisiko angesehen werden. Hierfür einen fortgesetzten Testbedarf einzufordern, bleibt kontraproduktiv und gefährlich.

Die Argumente der Testbefürworter lassen also zwei Strukturmuster erkennen. Zum einen argumentieren sie mit dem bestehenden Abschreckungssystem und seinen Rahmenbedingungen, ohne seine Prämissen zu reflektieren. Zu der Einsicht, daß es nicht die Abschrekkung gibt, sondern verschiedene, nämlich sicherere und unsicherere Abschreckungsmodelle, kommen sie nicht. Politisch ist es aber unerläßlich, mittelfristig zu einer Reform des Abschreckungssystems zu gelangen – wenn man zugesteht, daß eine abschreckungsfreie Weltfriedensordnung erst langfristig erreichbar ist. Eine nicht hinterfragte Monopolisierung eines bestimmten Abschreckungsbegriffes bei der NATO macht die Verantwortlichen unfähig zur Antizipation neuer und sicherer Strukturen. Hinzu kommt ein pauschaler technologischer Progressismus, der aus konzeptioneller Hilflosigkeit die Dissonanzen des Fortschritts verdrängt.

Zum zweiten erlauben sich die NATO-Chefdenker nach wie vor das überlebte Modell einseitiger Sicherheit. Jeder Aufrüstungsschritt bedeutet nur vordergründig ein Mehr an eigener Sicherheit, sie erzeugt aber gegnerische Unsicherheit, die Gegenreaktionen provoziert, welche wiederum die eigene Sicherheit bedroht. Dieser sattsam bekannte Zyklus hat in den internationalen Beziehungen bisher niemandem Vorteile gebracht – im Gegenteil. Daher muß eine Sicherung des Status quo andere Wege gehen – billigere und ungefährlichere. Gemeinsame Sicherheit erkennt die nuklearen Realitäten endlich in der angemessenen Form auch politisch an und überführt sie in friedlichere Strukturen, wobei die weltweite Denuklearisierung in weiterer Zukunft nicht ausgeschlossen werden darf!

Eine Argumentation, die für die Aufrechterhaltung der Tests anführt, auf anderen Feldern könnte der Rüstungswettlauf ungehindert weitergehen (z.B. auf defensivem Sektor wie Silohärtung oder Perfektionierung der Luftabwehr), daher müßten auch die nuklearen (Angriffs-) Optionen verbessert werden, um eine angemessene Abschreckungsverwundbarkeit des Gegners aufrechtzuerhalten, bleibt einer Denkfigur verhaftet, welche die gegenwärtige Hochrüstung mit ihren destabilisierenden Implikationen zementiert.9 Diese Denkfigur folgt dem absurden Schema: Wenn ich im Falschen das Richtige tue, mache ich das Falsche noch falscher. Dem muß neues Denken entgegengesetzt werden, welches betont: Das Richtige mutig gegen das Falsche gerichtet, läßt langfristig das Falsche zum Richtigen konvertieren.

Die Aussichten für einen Umfassenden Teststopp bleiben dennoch vorerst düster. Denn es gibt neben den Supermächten noch drei andere Atommächte, die sicherheitspolitisch allesamt auf ein ständig zu modernisierendes Nukleararsenal setzen. Auch die sechs atomaren Schwellenländer (Pakistan, Indien, Brasilien, Israel, Argentinien und Südafrika) könnten nach der Bombe greifen.

Es regen sich aber nach wie vor politische und soziale Kräfte, die von einer Verantwortung für die globalen Menschheitsprobleme umgetrieben werden. Die internationale Friedensbewegung macht zunehmend Front gegen die Versuche. Am 15. April 1989 versuchten über 5000 Menschen (!) in das Atomtestgelände von Nevada zu einzudringen, um endlich nachdrücklich ein Ende der riesigen Testserie seit 1945 (weltweit auf allen Seiten bisher 1799 Tests!) einzufordern.10

Das gleiche Ziel, nur mit anderen Mitteln, strebt auch eine einflußreiche internationale Parlamentariergruppe an, Parliamentarians for Global Action (PGA). Sie unterstützt zusammen mit der Six-Nations-Initiative von Staats- und Regierungschefs aus sechs Staaten und vier Erdteilen den sogenannten Amendment-Prozeß innerhalb der UNO.11 Dieser Prozeß zielt auf eine Erweiterungs-Konferenz des 1963 geschlossenen PTBT. Einen großen Erfolg konnten PGA und Six-Nations-Initiative unlängst feiern. Das für die Einberufung einer Amendment-Konferenz notwendige Votum von einem Drittel der PTBT-Unterzeichnerstaaten (39) kam unlängst (Ende März 1989) zustande. Nun sind die Atommächte verpflichtet, diesem Votum stattzugeben. Auch wenn die Konferenz durch ein wahrscheinliches Veto der Nuklearstaaten nicht zu einem Erfolg wird, so würde sie doch ein vielbeachtetes Forum schaffen, in dem die Testbefürworter in neue Begründungszwänge gerieten. Das umso mehr, als für 1990 die nächste Überprüfungskonferenz des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NPT) anberaumt ist, dessen Regime durch die Aufrechterhaltung der Tests weiter unterhöhlt wird.

Anmerkungen

1 CORRTEX ist die Abkürzung für Continous Reflectometry for Radius versus Time Experiment. Zur Erläuterung dieses Meßverfahrens siehe den Beitrag von Uwe Reichert in Informationsdienst Wissenschaft und Frieden Nr. 4/1988! Zurück

2 H.P.Harjes, Das amerikanisch-sowjetische Verifikationsexperiment – Fortschritt auf dem Weg zu einem kontrollierten Atomteststopp?, in: Deutsche Physikalische Gesellschaft e.V. (Hrsg.), Mitteilungen Nr. 4/1988, S. 3. Zurück

3 So sinngemäß Harjes auf einer wissenschaftlichen Konferenz über das Gradualismus-Konzept, siehe: H.P. Harjes, Korreferat über das einseitige sowjetische Teststoppmoratorium 1985/87 (protokolliert) in: Oliver Thränert (Autor), Konferenzbericht: Das Konzept des Gradualismus. Eine vergleichende Analyse über Probleme, Bedeutung und Möglichkeiten einseitiger, begrenzter Vorleistungen, Bonn 1988 (=Studie Nr. 33 der Abteilung Außenpolitik und DDR-Forschung im Forschungsinstitut der FES), S. 54. Zurück

4 Interview mit Troy Wade in: Arms Control Today, June 1988, S. 24 (Übersetzung des Verfassers). Zurück

5 So wurde bekannt, daß es einen internen Streit zwischen Amerikanern und Sowjets gab, weil die UdSSR die Meßergebnisse des JVE publizieren wollten. Dies lehnte die USA brüskiert ab. Beobachter glauben, daß Washington das wahrscheinlich schlechte Abschneiden von CORRTEX beim Gemeinsamen Verifizierungs-Experiment verheimlichen will, siehe Michael Gordon, Soviets are willing to publicize test data, but US urges secrecy, in: International Herald Tribune, 24. März 1989. Zurück

6 Siehe den sehr informativen Beitrag von William J. Broad, Die Bombenpleite, in: Zeit-Magazin Nr. 49, 2. Dezember 1988, S. 42ff.! Zurück

7 Europa-Archiv 1974, D 564 Zurück

8 Holger Mey verdanke ich einige Anregungen zum Zusammenhang von »flexible response« bzw. den von ihr abgeleiteten Bedarf an Waffen und militärischen Fähigkeiten und Atomtests. Allerdings bleibt Mey in seiner Immanenz affirmativ dem NATO-Abschreckungskalkül verhaftet, was ihn zu einer notwendigen Kritik, die auf größere und relevantere Zusammenhänge verweisen würde, unfähig macht. Holger Mey, Die Bedeutung der Nukleartests für die Strategie der Abschreckung, in: Europa-Archiv, 6/1988, S. 151ff. Zurück

9 Siehe Holger Mey, a.a.O., S. 154. Zurück

10 Siehe die Tageszeitung vom 17. April 1989. Zurück

11 Über die Positionen und Aktivitäten der Six-Nations-Initiative informiert das Themenheft über Atomtests der Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS, Hrsg.), Frieden und Abrüstung, Nr. 21 (1/1987). Zurück

Michael Kalman ist Politologe und Mitarbeiter bei der IFIAS.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/2 Sind Gesellschaft und Militär noch vereinbar, Seite