Atomwaffen bringen keine Sicherheit
von Regina Hagen
Atomwaffen haben wieder Konjunktur, und die Selbstverständlichkeit, mit der Entwicklung und Stationierung neuer Sprengköpfe und Trägersysteme verkündet, Reichweiten und Zielgenauigkeiten erhöht und »neue Fähigkeiten« stolz herausgestrichen werden, ist zutiefst irritierend. Denn:
„Kernwaffen [sind] der Feind der Menschheit […]. Ja, sie sind eigentlich gar keine Waffen. Sie sind eine Art biologischer Zeitbomben, deren Wirkungen Zeit und Raum überschreiten und die Erde wie auch ihre Bewohner auf Generationen hinaus vergiften.“ Dies sagte einer, der wusste, wovon er sprach: der ehemalige Oberbefehlshaber der US-Atomstreitkräfte, General Lee Butler (Frankfurter Rundschau, 1.9.1999). Er nannte das „die Wahrheit des Atomzeitalters“, zu der auch dies gehöre: „Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß die Anhäufung des Kernwaffenarsenals in einem geradezu grotesken Ausmaß […] ebensosehr das Ergebnis von Furcht, Ignoranz und Gier, von Egoismus und Machtstreben, von Glücksspiel und Profitsucht war, wie die Folge der scheinbar so eleganten Abschreckungstheorien.“
Und jetzt, 20 Jahre später, befinden wir uns mitten in einem neuen Wettrüsten. Der Vorlauf zum 2. Februar dieses Jahres war gewissermaßen eine Chronik des angekündigten Todes des INF-Vertrags – auch wenn Außenminister Maas Pendeldiplomatie betrieb, Friedensforscher vor einer Rüstungseskalation warnten und Medien und Friedensbewegung unisono die Erinnerung an die historischen Unterschriften von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow beschworen. Diese zwei Politiker besiegelten 1987 mit dem Verbot von Mittelstreckenraketen die Verschrottung einer kompletten Waffengattung der USA und der Sowjetunion. Binnen vier Jahren wurden fast 2.700 Atomraketen mittlerer Reichweite zerstört. Das Besondere daran waren die kooperative Zusammenarbeit und die zahlreichen gegenseitigen Inspektionen und Militär- sowie Expertenbesuche, die beide Vertragspartner Vertrauen in die jeweils andere Partei und in den Abrüstungsprozess aufbauen ließen.
Das ist Vergangenheit. US-Präsident Trump kündigte den Vertrag mit Sechs-Monats-Frist, die Vereinbarung läuft also Anfang August aus. Präsident Putin zog einen Tag später nach. Überdies setzten beide Parteien den Vertrag mit sofortiger Wirkung aus, was im Klartext heißt, dass sie den Vertrag verletzen und sofort mit der Entwicklung von Mittelstreckensystemen beginnen wollen.
Die treibenden Kräfte sind die großen Player, andere Akteure heizen die Situation aber kräftig an. Andere Staaten – gerne auch aus der NATO, die sich doch sonst immer als »Friedenstruppe« geriert –, einschließlich Deutschlands, hätten durchaus die Entsendung einer Untersuchungskommission zu den vermeintlich INF-widrigen Marschflugkörpern in Russland und den Raketenabwehrsystemen in Rumänien anbieten können, unter Einbindung internationaler und unabhängiger Expert*innen. Über moderne Kommunikationsmittel hätten sie die Inspektionen, die Protokolle und die Ergebnisse weltweit teilen und somit echte Fakten verbreiten können. Die Indiziensuche vor Ort ist Standardprozedur bei der Kriminalpolizei, warum eigentlich nicht bei einer Frage von solcher Tragweite?
Die Diskussion um die Schuldfrage führt allerdings nicht weiter, beide Seiten hatten schon länger das Interesse an dem Vertrag verloren. Ja, es ist wahr, dass auf dem asiatischen Kontinent eine Reihe Länder, die nicht an den INF-Vertrag gebunden sind, Mittelstreckensysteme haben, die russisches Territorium oder »Freunde und Partner« der USA erreichen könnten (wenngleich nicht das US-Festland). Hinter der INF-Kündigung steckt aber mehr, sie ist nur ein Stein im kollabierenden Rüstungskontroll- und Abrüstungsdomino. Ob gekündigter Raketenabwehr- oder INF-Vertrag, ob Auslaufenlassen des New-Start-Abkommen oder Nichtratifizierung des Umfassenden Atomtestverbots, ob Ablehnung eines Verbots von Weltraum- oder autonomen Waffen – erkennbar ist die Abneigung gegen jegliche Einschränkung, Waffen zu entwickeln, zu testen und zu stationieren, egal welcher Art, egal an welchem Ort. Als künftiges Schlachtfeld ist nichts tabu, ob Land, See, Luft, Welt-, Informations- oder Cyberraum.
Die NATO trägt zu dieser Entwicklung kräftig bei. Die Artikel in diesem Heft beschreiben an einigen Beispielen detailliert, wie ungeniert das Bündnis eskalierend wirkt und seinen Aktionsradius ausdehnt. Auch im Falle des INF-Vertrags bleibt über die Rolle der NATO nur Staunen: Generalsekretär Stoltenberg tat zwar ohne Beweise, aber dennoch ohne Wenn und Aber kund, Russland habe den INF-Vertrag verletzt, und Bundeskanzlerin Merkel nickte dazu bloß mit dem Kopf.
Das dürfen wir – Bürger*innen, Friedensbewegte, W&F-Leser*innen – nicht unwidersprochen stehen lassen. An vielen Stellen werden Proteste und Mitmachaktionen vorbereitet, um die Zeit bis Anfang August zu nutzen und auch darüber hinaus zu signalisieren: Eine Neustationierung von Atomraketen in Europa gibt es mit uns nicht! Deutschland muss endlich eindeutig Stellung beziehen, selbst atomwaffenfrei werden und dem »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« beitreten. Denn eines ist klar: Nicht Atomwaffen bieten Sicherheit für die Menschen, sondern nur deren Abschaffung.
Ihre Regina Hagen