W&F 2020/1

Atomwaffen – eine Übersicht

von Regina Hagen

Obgleich die Zahl der vorhandenen Atomwaffen sinkt (der nachfolgenden Aufstellung zufolge sind es 13.490), rüsten alle Atomwaffenstaaten auf. Vor allem Russland und die USA nehmen Sprengköpfe aus der Gefechtsbereitschaft, planen aber – wie alle Atomwaffenstaaten – die »Modernisierung« ihrer Arsenale. Je nach Land gehört zur qualitativen Aufrüstung die Indienststellung neuer Trägersysteme (Flugzeuge, ballistische Raketen, Marschflugkörper, Hyperschallraketen, U-Boote) sowie die Entwicklung und Einführung qualitativ verbesserter Sprengköpfe. Einige Staaten vergrößern außerdem ihre Vorräte an Spaltmaterial (hoch angereichertes Uran und/oder Plutonium).

Volksrepublik China

China verfügte 2019 über ca. 290 einsetzbare Atomsprengköpfe. Als Trägersysteme stehen knapp 190 landgestützte und 48 U-Boot-gestützte ballistische Raketen sowie 20 Bomber zur Verfügung. Gut ein Drittel der landgestützten Sprengköpfe sind inzwischen auf Interkontinentalraketen stationiert, die auch die USA erreichen können. Außerdem führt China zunehmend Mehrfachsprengköpfe ein, um die wachsende Zahl US-amerikanischer Raketenabwehrsysteme mit höherer Wahrscheinlichkeit durchdringen zu können.

China schließt in seiner Nukleardoktrin den Ersteinsatz von Atomwaffen aus (siehe dazu Gregory Kulacki auf S. 26) und verweist auf das Prinzip der »minimalen Abschreckung«. Entsprechend sind die chinesischen Atomwaffen – anders als die der USA und Russlands – nicht »auf Knopfdruck« einsatzbereit; vielmehr werden die Sprengköpfe getrennt gelagert und müssten im Krisenfall erst zu den Trägersystemen verbracht werden. Dies gilt offenbar selbst für die Atomsprengköpfe, die für den Einsatz in U-Booten vorgehalten werden.

Frankreich

Die französische »force de frappe« hat etwa 300 Atomsprengköpfe. Die meisten sind entweder sofort oder nach kurzer Vorbereitungszeit einsatzbereit, der Rest ist jeweils in Wartung.

Frankreich pflegt hinsichtlich seiner Atomwaffen eine hohe Transparenz. So erklärte z.B. der ehemalige Präsident Hollande 2015, Frankreich hätte 300 Atomsprengköpfe, davon seien 54 luftgestützte Marschflugkörper, der Rest sei auf drei U-Booten mit jeweils 16 ballistischen Raketen stationiert. Von den vier Atom-U-Booten Frankreichs ist jeweils eines auf etwa 70-tägiger Patrouillenfahrt, eines wird für die nächste Patrouille vorbereitet, eines befindet sich auf dem Rückweg und eines ist zur Wartung im Dock. Als Trägersysteme für die Marsch­flugkörper dienen Kampfbomber des Typs Rafale, die auch für nicht-nukleare Einsätze genutzt werden.

Frankreich sieht seine Atomwaffen als Mittel zur „legitimen Selbstverteidigung unter extremen Umständen“, wäre aber auch zu einem Ersteinsatz bereit, um einen Gegner vor einem konventionellen oder nuklearen Angriff abzuschrecken.

Indien

Indien verfügt wohl über 130-140 Atomsprengköpfe, hat Plutonium für einige Dutzend mehr und plant die Inbetriebnahme von Schnellen Brütern zur beschleunigten Plutoniumproduktion. Zwei Flugzeugtypen, sechs unterschiedliche landbasierte ballistische Raketen mit Reichweiten zwischen 350 und >5.200 km, seegestützte Raketen zum Abschuss von Schiffen und U-Booten sowie ein Marschflugkörper-Modell stehen bereits zur Verfügung oder werden entwickelt bzw. getestet.

Indien verfolgt offiziell eine Nicht-­Ersteinsatz-Doktrin, allerdings ist unklar, ob das so bleibt, wenn U-Boote für Atombewaffnung einsatzbereit sind (­siehe Jens Heinrich auf S. 22).

Israel

Am schwierigsten ist die Einschätzung des israelischen Arsenals. Israel verfolgt eine strikte Politik des »Weder bestätigen, noch dementieren«. Die Existenz eines Atomwaffenprogramms wurde der Weltöffentlichkeit spätestens 1986 durch ein Interview des ehemaligen Nukleartechnikers Mordechai Vanunu in der »Sunday Times« bekannt. (Nach dem Interview wurde Vanunu vom israelischen Geheimdienst aus Italien entführt und zwei Jahre später zu 18 Jahren Haft verurteilt, die er in voller Länge absaß, größtenteils in Isolationshaft).

Vermutlich hat Israel etwa 80 Atom­spreng­köpfe. Als Trägersysteme verfügt das Land über mobile landgestützte Mittelstreckenraketen, Kampfflugzeuge des Typs F15 und F16 und vermutlich auch eine Anzahl U-Boot-gestützter Marschflugkörper.

Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea)

Nordkorea ist das einzige Land, das jemals aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag austrat und sich anschließend mit sechs zwischen 2006 und 2017 durchgeführten Atomtests zum Mitglied des »nuklearen Clubs» erklärte. Der Status des Atomwaffenprogramms ist nicht im Detail bekannt. Der letzte Test wurde mit eine Wasserstoffbombe durchgeführt und hatte mindestens die zehnfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Auch wenn unklar ist, ob Nordkorea tatsächlich über zuverlässige, einsetzbare Atomsprengköpfe verfügt, wird davon ausgegangen, dass das Land 20-30 Atomwaffen vorhält.

Als Trägersysteme setzt Nordkorea auf landgestützte ballistische Raketen. An einem U-Boot und dafür geeigneten Raketen wird gearbeitet.

Pakistan

Wie Indien hat auch Pakistan 1998 eine Reihe Atomtests durchgeführt und baut seither sein Arsenal an Atomsprengköpfen und Trägersystemen kontinuierlich aus. 2018 verfügte das Land über etwa 140-150 Atomsprengköpfe mit einer Sprengkraft zwischen 10 und 40 Kilotonnen (also bis zum Dreifachen der Hiroshima-Bombe). Die Trägersysteme – Flugzeuge, landgestützte Raketen, land- und luftgestützte Marschflugkörper und in Zukunft auch Marschflugkörper zum Einsatz von U-Booten – haben Reichweiten bis 2.200 km.

Bislang war das Arsenal eher strategisch ausgerichtet und diente zur Abschreckung vor einem nuklearen Angriff auf Pakistan. In jüngerer Zeit werden vermehrt Kurzstreckenraketen stationiert, um auch auf einen konventionellen Angriff Indiens mit Atomwaffen antworten zu können (siehe Jens Heinrich auf S. 22).

Russland

Russland besitzt mit knapp 6.500 Atomsprengköpfen das größte Arsenal der Welt. Von diesen sind etwa 1.600 für strategische Zwecke auf ballistischen Raketen und Luftwaffenbasen einsatzbereit. Ungefähr 1.070 strategische und 1.820 taktische Sprengköpfe werden in zentralen Lagern aufbewahrt; 2.000 weitere sind ausgemustert und zur Demontage vorgesehen.

Für den Einsatz steht eine Vielzahl an Trägersystemen bereit: zwanzig verschiedene ballistische Raketen und Marschflugkörper, vier Typen Kampfflugzeuge, drei unterschiedliche Atom-U-Boote. Jüngst gab Präsident Putin den erfolgreichen Test einer neuen Hyperschallrakete bekannt. Die USA werfen Russland außerdem den Besitz von Raketen mittlerer Reichweite vor und nahmen dies Anfang Februar 2018 zum Anlass, den Mittelstreckenvertrag zu kündigen. Ein neues Wettrüsten ist hier im Gang.

Vereinigtes Königreich (UK)

Die britische Regierung postuliert: Wir sind sicherer mit Atomwaffen als ohne. Dafür hält sie vier Atom-U-Boote der Vanguard-Klasse vor, die mit ballistischen Interkontinentalraketen der USA ausgerüstet sind. Von den rund 200 Atomsprengköpfen sind 120 einsatzbereit. Allerdings ist jeweils nur ein U-Boot mit acht Raketen auf Patrouille. An Bord sind dann 40 Sprengköpfe, die nach Angaben der Regierung selbst im Ernstfall erst nach einigen Tagen Vorbereitung abgeschossen werden könnten.

Vereinigte Staaten

Die USA besitzen etwa 3.800 einsetzbare Atomsprengköpfe. Davon sind 1.750 stationiert; etwa 2.050 werden in Reserve gehalten. Rund 2.000 weitere Spreng­köpfe sind ausgemustert und zur Demontage vorgesehen; Letztere können allerdings auch wieder reaktiviert werden.

Von den rund 1.750 stationierten Sprengköpfen sind etwa 400 in Silos auf Interkontinentalraketen stationiert, etwa 900 auf U-Boot-gestützten ballistischen Raketen und 300, darunter auch von Flugzeugen zu startende Marschflugkörper, auf Luftwaffenstützpunkten in den USA. 150 taktische Atombomben der USA sind im Rahmen der »nukle­aren Teilhabe« auf Fliegerhorsten in Europa stationiert. Etwa 80 weitere taktische Bomben befinden sich in einem Lager in den USA und können mit US-Kampfflugzeugen zum Einsatz gebracht werden, z.B. in Nordostasien.

Für den Einsatz der Atomsprengköpfe verfügen die USA über rund 800 ballistische Raketen und Bomberflugzeuge. Die Sprengköpfe befinden sich auf 24 Standorten in elf US-Bundesstaaten und in fünf europäischen Ländern.

Nukleare Teilhabe

Von den etwa 230 taktischen Atomsprengköpfen des Typs B61 der USA sind vermutlich 150 im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« auf sechs Fliegerhorsten in fünf NATO-Ländern stationiert: Kleine Brogel in Belgien, Büchel in Deutschland, Aviano und Ghedi in Italien, Volkel in den Niederlanden und Incirlik in der Türkei. Vier der Länder halten für nukleare Missionen eigene Flugzeuge vor. Die B61-Bomben der Typen 3 und 4 fallen nach dem Ausklinken ungelenkt nach unten. Momentan wird an dem Nachfolgemodell B61-12 gearbeitet; dieses soll lenkbar sein und eine maximale Sprengkraft von 50 Kilotonnen aufweisen (das ist rund das Vierfache der Hiroshima-Bombe).

Woher die Daten kommen

Alle oben genannten Zahlen kommen aus dem »Nuclear Notebook« (thebulletin.org/nuclear-notebook). Dieses wird seit 1987 für das »Bulletin of the Atomic Scientists« (BAS) erstellt und analysiert alle zwei Monate das Arsenal eines anderen Landes. Gelegentlich widmet sich das Notebook einem speziellen Thema, z. B. dem globalen Rüstungsstand, taktischen Arsenalen oder bestimmten Zeiträumen. Bis August 2018 wurde das »Nuclear Notebook« von Hans M. Kristensen und Robert Norris recherchiert und geschrieben, seither von Hans M. Kristensen und Matt Korda. Die Autoren legen ihre Quellen in jeder Ausgabe offen und machen die Unsicherheiten ihrer Abschätzungen transparent.

Regina Hagen ist verantwortliche Redakteurin von W&F und Sprecherin der Kampagne »Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/1 Atomwaffen – Schrecken ohne Ende?, Seite 20–21