W&F 1995/4

Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof

von Xanthe Hall

Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hörte Anfang November die Erklärungen diverser Staaten zu der Frage, ob der Einsatz von Atomwaffen oder seine Androhung völkerrechtswidrig seien. Diese Frage ist durch die Anregung einer Koalition von Friedensorganisationen mit dem Namen »Projekt Weltgerichtshof« vor den Gerichtshof gebracht worden. Das Projekt läuft seit drei Jahren und gewann die Unterstützung der blockfreien Länder sowie aller Staaten des Pazifik.

Nach der Charta der Vereinten Nationen sind die Generalversammlung, der Sicherheitsrat und unter bestimmten Bedingungen (Ermächtigung der Generalversammlung) auch alle anderen Organe der UN berechtigt, ein beratendes Rechtsgutachten vom IGH zu erbeten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Vereinten Nationen (UN) haben dem Gerichtshof zwei Fragen zur Klärung angetragen. Die WHO fragt, ob der Einsatz von Atomwaffen „im Hinblick der Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit“ völkerrechtswidrig sei. Dieses wird durch die UN-Frage ergänzt, die nicht nur den Einsatz, sondern auch die Androhung des Atomwaffeneinsatzes rechtlich geprüft haben möchte.

Das Projekt Weltgerichthof – World Court Project

Das Projekt wurde in Mai 1992 öffentlich gestartet von den Internationen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), der Internationalen Vereinigung von Juristen gegen Kernwaffen (IALANA) und dem Internationalen Friedensbüro (IPB).1 Die Idee, den Einsatz von Atomwaffen von dem Internationalen Gerichtshof völkerrechtlich prüfen zu lassen, ist aber viel älter. Sie wurde 1987 erstmals in Neuseeland vorgestellt, von dem pensionierten Richter Harold Evans, dem »Vater des Projekts«. Er schrieb einen offenen Brief an die Premierminister Neuseelands und Australiens, in dem er sie bat, eine Aktion zu initiieren, die zu einem Gutachten des Gerichtshofes bezüglich des Rechtsstatus von Atomwaffen führen sollte. Nicht weniger wichtig waren Kate Dewes (The New Zealand/Aotearoa Foundation for Peace Studies) und Richard Falk (internationale Völkerrechtler), die mit Harold Evans 1986 die erste Diskussion über diese Idee führten.

Nach langer Lobby-Arbeit der IPPNW verabschiedete am 14. Mai 1993 die 46. Weltgesundheitsversammlung (das höchste Organ der WHO) in Genf eine historische Resolution, die sich wahrscheinlich als Meilenstein in der Geschichte der Abrüstung erweisen wird. Sie enthält die Anweisung an die Weltgesundheitsorganisation, beim Internationalen Gerichtshof ein Gutachten darüber anzufordern, welcher rechtliche Status dem Einsatz nuklearer Waffen zukommt. Die Resolution wurde von 22 Staaten eingebracht und in einer Geheimabstimmung mit 73 Stimmen, bei 40 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen verabschiedet.

Mit einem Schreiben vom 27. August 1993 ersuchte der Generalsekretär der WHO, Dr. Hiroshi Nakajima, den Internationalen Gerichtshof in offizieller Form um ein Rechtsgutachten in folgender Frage: „Wäre der Einsatz von Atomwaffen durch einen Staat in einem Krieg oder einem anderen bewaffneten Konflikt im Hinblick auf die Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt ein Verstoß gegen die Verpflichtungen dieses Staates gemäß Völkerrecht und der Satzung der WHO?“ 2

Die IALANA konzentrierte ihre Bemühungen auf die Generalversammlung der UN. Im Herbst 1994 wurde eine von den Ländern der blockfreien Staaten befürwortete Resolution ebenfalls mit 78 zu 43, bei 38 Enthaltungen, verabschiedet, in der um ein Gutachten vom Gerichtshof ersucht wird. Die Frage der UN unterscheidet sich von der WHO-Frage insofern, als sie auch die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen in Frage stellt: „Kann die Androhung des Einsatzes oder der Einsatz von Atomwaffen unter bestimmten Umständen völkerrecht legal sein?“ 3

Die Koalition der drei Organisationen IPPNW, IALANA und IPB suchte andere unterstützende Organisationen aus allen Ländern der Welt für das Projekt. Das Projekt hat heute über 500 unterstützende Organisationen. In Großbritannien, Kanada und Neuseeland wurden Bürgerinitiativen mit dem Namen World Court Project gegründet. Aus Großbritannien kam die Idee (von der Organisation International Law and Peace), eine „Erklärung des öffentlichen Gewissens“ abzugeben. Diese Idee beruht auf der Haager Konvention von 1899 und 1907. In der Präambel der Konvention ist die sogenannte de Martens-Klausel enthalten, die festlegt, daß in Fällen, die in der Konvention nicht geregelt sind, „nach den Gesetzen der Menschlichkeit und dem Diktat des öffentlichen Gewissens“ entschieden wird.4 Hauptsächlich durch die Arbeit von George Farebrother (World Court UK) wurden zusammen mit den anderen unterstützenden Organisationen über drei Millionen „Erklärungen des öffentlichen Gewissens“ unterschrieben. Die gesammelten Erklärungen wurden zusammen mit über 100 Millionen Unterschriften des Hiroshima-Appelles gegen Atomwaffen dem Internationalen Gerichtshof überreicht.

Die Stellungnahmen der Staaten

Der Internationale Gerichtshof entschied, die zwei Fragen zusammen zu behandeln. Daß 44 Staaten schriftliche Stellungnahmen beim Gerichtshof einreichten, zeigt, wie stark Friedensaktivisten sich engagierten. Die japanische Regierung mußte unter dem Druck des 18 Millionen starken Vereins der Konsumenten seine Stellungnahme in letzter Minute ändern. Japan wollte den Einsatz von Atomwaffen unter unvorhersehbaren Bedingungen für legal erklären. Durch Druck von unten wurde aber eine Korrektur erzwungen; Japan sprach sich für die Illegalität von Atomwaffen aus. In Deutschland wurden eine kleine Anfrage und zwei Anträge im Bundestag gestellt. In vielen anderen Ländern der Welt wurden die schriftlichen Stellungnahmen öffentlich debattiert. In Schweden verwarf das Parlament sogar die Entscheidung des Außenministeriums.

Bis September 1994 wurden dem IGH 35 Stellungnahmen zu der WHO-Frage eingereicht. 23 davon sprachen sich mehr oder weniger für die Ächtung der Atomwaffen aus, 9 für Nichtbefassung oder sogar für die Legalität von Atomwaffen. Bis Juni 1995 reichten 27 Staaten Stellungnahmen zur UN-Frage ein, 18 davon für Illegalität, 1 Staat war unentschieden, und 8 sprachen sich für Nichtbefassung oder Legalität von Atomwaffen aus. Deutschland gehörte zu dem Nichtbefassungslager.

Die mündlichen Verhandlungen liefen vom 30. Oktober bis zum 15. November 1995. 25 Staaten wollten ursprünglich aussagen. In letzter Minute aber sprangen drei der blockfreien Staaten ab: Kolumbien, Guyana und Nauru. Die drei Staaten gehörten zuvor zu den stärksten Unterstützern des Projekts. Bislang wurde keine Erklärung für diesen überraschenden Rückzieher abgegeben. Es ist zu vermuten, daß ähnlicher Druck wie bei der Konferenz über den Atomwaffensperrvertrag im Mai dieses Jahres ausgeübt worden ist.

Die Verhandlung begann mit der Aussage der WHO. Im Vordergrund der Stellungnahme stand die Begründung, warum die WHO meint, überhaupt berechtigt zu sein, eine solche Frage beim Gerichtshof klären zu lassen. Die Kompetenz der WHO in dieser Frage wurde u.a. von allen Atomwaffenstaaten verneint. Die WHO begründete ihre Berechtigung zur Fragestellung, indem sie die Arbeit der WHO im Bereich der Prävention eines Atomkriegs schilderte. Diese Kompetenz bestritt u.a. Deutschland sowohl in seiner schriftlichen Stellungnahme als auch in der mündlichen Verhandlung. Dr. Hartmut Hillgenberg, Direktor der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, erklärte, die Fragen nach der Legalität des Einsatzes von Atomwaffen seien deshalb unzulässig, weil sie politisch und nicht juristisch zu beantworten seien. Eine Ächtung der Atomwaffen, so argumentierte er, würde ihre Abrüstung ver- und die Atomteststopp-Verhandlungen im kommenden Jahr behindern. Er erklärte dem IGH zudem, daß Atomwaffen erfolgreich Freiheit und Frieden erhielten.5

Interessant ist die neue »Friedenskonkurrenz« zwischen Australien und Neuseeland. Bis zur Wiederaufnahme der französischen Atomtests verhielten sich beide Staaten reserviert gegenüber dem Projekt Weltgerichtshof. Australien plädierte in seiner schriftlichen Stellungnahme auf Nichtbefassung, weil eine »negative« (d.h. Atomwaffen sind legal) Aussage des Gerichtshofes die Entwicklung des Völkerrechtes zu Atomwaffen verhindern würde. Überraschenderweise plädierte der australische Außenminister aber vor dem Gerichtshof nicht nur für die Illegalität des Einsatzes und seiner Androhung, sondern auch für die Illegalität des Erwerbs, der Entwicklung, des Besitzes und der Tests von Atomwaffen. Er berichtete, daß die australische Regierung eine internationale Gruppe von namhaften Fachleuten mit Visionen und Ideen zusammenbringen wird, um Vorschläge für Wege in eine atomwaffenfreie Welt zusammenzutragen. Trotzdem blieb Australien bei seinem Appell auf Nichtbefassung.

Neuseeland spielte seinen Trumpf eine Woche später aus; es war eine Aussage ohne wenn und aber: Atomwaffen sind völkerrechtswidrig und müssen vom Gerichtshof geächtet werden. Der Justizminister schloß mit den Worten: „Ein Urteil der Illegalität würde ein beeindruckender Schritt in Richtung Abschaffung der Atomwaffen sein.“

Die japanische Regierung präsentierte als Zeugen die Bürgermeister von Hiroshima und Nagasaki. Dies war u.a. dem enormen Druck japanischer Bürgerinitiativen geschuldet. In einem parallel zur Verhandlung stattfindenden NGO-Seminar zum Projekt Weltgerichtshof wurde berichtet, daß die zwei Bürgermeister von der Regierung klare Anweisungen erhalten hatten, zwar im Endeffekt für die Illegalität zu plädieren, das Wort Illegalität aber nicht zu erwähnen. Diese Anweisung wurde von den Bürgermeistern nicht befolgt; daraufhin distanzierte sich die japanische Regierung von den Ausführungen. Die Richter waren sichtbar bewegt von japanischen Schilderungen, die die Auswirkungen der Atombombenabwürfe auf die Bevölkerung der zwei Städte beschrieben.

Die Marshall-Inseln entsandten ein Atomwaffenopfer. Lijon Eknilang berichtete über die Auswirkung der amerikanischen Atomtests auf dem Bikini-Atoll: „Ich hatte sieben Fehl- und Stillgeburten. Insgesamt gibt es auf der Insel acht Frauen, die Säuglinge geboren haben, die wie Geleeklümpchen aussahen. Manchmal tragen wir so etwas acht, neun Monate aus. Sie haben keine Beine, keine Arme, keinen Kopf, nichts. Andere Kinder wurden geboren, die diese Welt und ihre Eltern niemals erkennen werden. Sie liegen nur mit krummen Armen und Beinen da und werden nie sprechen.“

Von 23 Staaten sprachen sich vor dem Gerichtshof 14 für die Illegalität von Atomwaffen aus. Frankreich, USA, Großbritannien und Rußland lehnten jegliche Einmischung in dieser Frage ab. Die UN solle die Finger von Abrüstungsfragen lassen, so Frankreichs Juristen; dies sei Aufgabe des Sicherheitsrates. Deutschland und Italien spielten die Lakaien der Atomwaffenmächte, und China hielt sich ganz aus dem Prozeß heraus.

Schlußfolgerungen

Die Wiederaufnahme der französischen Atomtests hat das öffentliche Interesse an Atomwaffenfragen aufgefrischt; trotzdem liest man in der Presse kaum über die Verhandlungen des Gerichtshofes. Ist die Mehrheit der Deutschen gegen Atomtests, aber nicht gegen Atomwaffen? Für die Deutschen ist m.E. längst klar, daß alle Atomwaffen zu ächten und abzuschaffen sind. Sie sind deswegen empört über Chiracs Atomtests, weil sie belegen, daß die Atomwaffenmächte die atomare Abrüstung nicht ernst nehmen. Sie nutzen sogar die unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags aus, um ihren Besitz (und daher den Einsatz) von Atomwaffen vor dem Gericht zu legimitieren.

Die wichtigste Stütze der Atommächte ist die deutsche Regierung. Wie bereits oben erwähnt, erklärte der deutsche Vertreter, daß die Ächtung der Atomwaffen Abrüstung verhindern würde und betonte die positive Rolle der Atomwaffen, die erfolgreich Frieden und Freiheit erhielten. Was sogar der IGH-Richter Schwebel in Frage stellte, entspricht der Verdrehung der Tatsachen, denn der deutsche Vertreter verschwieg damit, daß die Atomwaffen in den letzten 50 Jahren weder die Kriege in Bosnien, Ruanda, Somalia, Tschechenien, Afghanistan, Vietnam noch all die anderen Kriege auf der Welt verhindert haben. Aus diesem Grund ist die Haltung der deutschen Bundesregierung äußerst unbefriedigend. Viele glauben, daß Deutschland wegen seines Verzichts auf Atomwaffen diese prinzipiell ablehnen würde. Doch die deutsche Regierung spricht sich nicht prinzipiell gegen Atomwaffen aus, sondern ist lediglich politisch und völkerrechtlich durch ihre Geschichte in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Präsident Chirac bietet bereits die Mitverfügung an. Spätestens wenn Europa ein Bundesstaat wird, ist Deutschlands Verzicht fraglich, weil Europa ein Atomwaffenstaat werden wird. Für diese Mitverfügung hält die Bundesregierung sich alle Türen offen.

Mehrfach wurde vor Gericht gewürdigt, daß es dem Engagement vieler Friedensorganisationen zu verdanken sei, daß der IGH die Legalität von Atomwaffen überprüfe. Wie der Justizminister von Neuseeland bekräftigte, wäre eine Verurteilung ein wichtiger Schritt in Richtung Abschaffung der Atomwaffen. Es bleibt aber offen, wie der Gerichtshof entscheiden wird. Ein Urteil ist erst Anfang 1996 zu erwarten. Selbst wenn entschieden würde, daß Atomwaffen nicht »inhuman« seien und nicht völkerrechtswidrig mehr Zivilisten als Soldaten treffen, werden viele Menschen weiterhin die Frage stellen: Warum sind chemische und biologische Waffen völkerrechtswidrig, atomare Waffen aber nicht?

Anmerkungen

1) Grief, Nicholas, Völkerrecht gegen Kernwaffen, IALANA, IPPNW und IPB, Marburg 1993. Zurück

2) WHA 46.40, Health and Environment Effects of Nuclear Weapons, Genf, 14. Mai 1993. Zurück

3) UN Resolution 49/75 K, Request for an Advisory Opinion from the International Court of Justice on the Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, New York, 15. Dezember 1994. Zurück

4) Eine dem Wortlaut ähnliche Klausel enthalten die Genfer Konventionen von 1949 und das Erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen aus dem Jahr 1977. Die Klausel ist auch vom IGH in seiner Entscheidung zum Nicaragua-Fall anerkannt worden. (ICJ Reports 1986, Nicaragua vs. Unites States, Abs. 218; Urteil betreffend militärische und paramilitärische Aktivitäten gegen Nicaragua.) Zurück

5) Oral Statement of the Federal Republic of Germany at the Public Sitting of the International Court of Justice, November 2 1995. Zurück

Xanthe Hall ist Leiterin der Anti-Atom-Kampagne der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/4 Menschenrechte und Militär, Seite