Atomwaffenfreier Korridor
von Gregor Witt
Die letzten größeren Hindernisse gegen eine „doppelte Null-Lösung“ scheinen mit dem Außenministertreffen Shultz – Schewardnadse aus dem Wege geräumt. In der jetzt einsetzenden Debatte über die Bedeutung des Abrüstungsvertrages geht es für die Friedensbewegung im Kern um die Frage des „wie weiter?“. Die Palme-Kommission hat mit ihrem Bericht „Gemeinsame Sicherheit“ schon vor 5 Jahren Elemente eines sicherheitspolitischen Konzeptes erarbeitet, das durch Sicherheitspartnerschaft die atomare Abschreckung überwinden und sie ersetzen soll. Der von ihr vorgeschlagene atomwaffenfreie Korridor ist ein regionaler Ansatz, um zu politisch gewährleisteter Sicherheit auf unserem Kontinent zu gelangen.
Eine neue sicherheitspolitische Logik, die eine „abwärts gerichtete Rüstungsspirale“ erzeugen kann, hat die „Unabhängige Kommission für Abrüstung und Sicherheit“ erarbeitet. Bis zu seiner Ermordung im vergangenen Jahr stand sie unter Vorsitz des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme. Aus der schonungslosen Offenlegung der Gefahren einer weiterverfolgten atomaren Abschreckung für die gesamte Menschheit zog sie den Schluß: im Atomzeitalter gibt es keine Sicherheit vor- oder gegeneinander, sondern nur noch miteinander.
Die Palme-Kommission formulierte folgende Grundsätze gemeinsamer Sicherheit:
- alle Nationen haben ein legitimes Recht auf Sicherheit
- militärische Gewalt ist kein legitimes Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Kontroversen
- Zurückhaltung ist notwendig als Ausdruck nationaler Politik
- Sicherheit kann nicht durch militärische Überlegenheit erreicht werden
- Reduzierungen und qualitative Beschränkungen von Waffensystemen sind für die gemeinsame Sicherheit notwendig
- Verknüpfungen zwischen Abrüstungsverhandlungen und politischen Ereignissen sollten vermieden werden.
Wenn die Regierungen aller Länder sich diese Richtlinien als Grundlage ihrer Sicherheitspolitik zu eigen machen, ließen sich nach Meinung der Kommission rasche Abrüstungsfortschritte erzielen und ein System politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den Völkern könnte geschaffen werden.
Von den insgesamt 44 kurz- und mittelfristigen Maßnahmen im vorgeschlagenen Aktionsprogramm hat der Vorschlag für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa die größte öffentliche Resonanz gefunden. Empfohlen wird die Schaffung einer von nuklearen Gefechtsfeldwaffen freien Zone, die von Mitteleuropa bis in die äußersten nördlichen und südlichen Flanken der beiden Bündnisse reicht. Die Kommission hielt eine Regelung für die „doppelt verwendbaren“ Trägersysteme, die konventionelle oder Atomsprengköpfe aufnehmen können, fr erforderlich. Die Palme-Kommission sah in der Errichtung einer nach beiden Seiten zunächst 150 km breiten Zone vor allem „(…) eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme, welche die atomare Schwelle anheben und die Versuchung zum frühzeitigen Einsatz von Kernwaffen um einiges herabsetzen könnte“ (Palme-Bericht, S. 166).
Ein diplomatischer Vorstoß der schwedischen Regierung unter Ministerpräsident Olof Palme noch im Dezember 1982 für die Errichtung einer 300 km breiten atomwaffenfreien Zone stieß vor allem bei NATO-Staaten auf negative Reaktionen. Auch der darauf bezogene Vorschlag der DDR an die Bundesregierung, diese schwedische Initiative zu unterstützen, stieß auf Ablehnung. Bisher ohne Antwort der Bundesregierung blieb der Vorschlag der Regierungen der DDR und der CSSR, unverzüglich in Verhandlungen über die Bildung eines atomwaffenfreien Korridors in Mitteleuropa einzutreten. Auf Schweigen stieß auch Erich Honecker, Staatsratsvorsitzender der DDR, mit seinem erneuten Angebot bei seinem Besuch im September in Bonn.
Erfolgreicher entwickelte sich dagegen die Zusammenarbeit einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von SED und SPD. Im Oktober 1986 stellte sie ihre „Grundsätze für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa“ der Öffentlichkeit vor. Die kommunistische Partei der Tschechoslowakei schloß sich dieser Initiative an.
Mit den SPD-SED-Grundsätzen ist der Vorschlag der Palme-Kommission in wesentlichen Punkten konkret weiterentwickelt worden. Sie sehen vor, daß nicht nur die atomaren Gefechtsfeldwaffen, sondern alle Atomsprengköpfe aus dem Korridor abgezogen werden. Vorgeschlagen wird weiterhin, daß sowohl die atomaren als auch die doppelt verwendungsfähigen Trägermittel beseitigt werden. Die Grundsätze sehen darüber hinaus ein umfassendes System nationaler und internationaler Kontrollen sowie die Schaffung einer ständigen internationalen Kommission vor.
Militärisch gesehen hat das Auseinanderrücken der Atomwaffen an der Trennlinie der beiden Militärblöcke stabilisierende Wirkung. Unbefriedigend ist jedoch, daß nur der Abzug, nicht aber die Abrüstung und Verschrottung dieser Atomwaffen vorgesehen ist. Sicherheitspolitisch bedeutsam ist aber, daß mit dem geplanten Abzug der doppelt verwendbaren Trägermittel vor allem solche Waffensysteme erfaßt werden, die sich vorzugsweise für offensive Zwecke eignen. Das bedeutet einen wesentlichen Einschnitt in die Militärstrategien der beiden Bündnisse. Weder die sogenannte Vorne-, noch die neudiskutierte „Vorwärtsverteidigung“ der NATO und auch die Offensivstrategie des Warschauer Vertrages sind in bisheriger Form aufrecht zu halten. Die Verwirklichung des Korridors in der hier vorgeschlagenen Form ermöglicht somit die erforderliche Verknüpfung von atomarer und konventioneller Abrüstung.
Während die Bundesregierung nur unter großem innenpolitischen Druck zu Abrüstungsschritten gezwungen werden kann, zeigt die DDR
Regierung ein außerordentlich aktives Interesse an der Verwirklichung atomwaffenfreier Zonen. Sie ist z.B. bereit, ihr gesamtes Staatsgebiet in eine solche Zone einzubringen. Auch in der DDR ist die Frage, wie atomare Abrüstung realisiert werden kann, kein Thema, das auf Regierungsebene beschränkt bleibt. Das zeigte ein Wissenschaftler-Kolloquium Mitte September d. J. in Berlin (DDR), zu dem die Akademie der Wissenschaften im Rahmen des blockübergreifenden „Olof-Palme-Friedensmarsches“ eingeladen hatte.
Andre Brie, Mitarbeiter des Instituts für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg, stellte dar, daß die DDR bei einer Verwirklichung des atomwaffenfreien Korridors entsprechend der SPD-SED-Grundsätze große Zugeständnisse machen würde: bei Berücksichtigung aller nuklearfähigen Trägersysteme müßten DDR und CSSR im Verhältnis 1,6:1 stärker reduzieren. Während die DDR 60 % ihrer Jagdbomber abziehen müßte, wäre in der Bundesrepublik kein einziger abzuziehen. Während die DDR 90 % ihrer Raketen abziehen muß, wären es auf Seiten der BRD einige wenige. Brie betonte zugleich, daß die DDR daran interessiert ist, die abgezogenen Atomwaffen auch abzurüsten. Ein Grund dafür ist, daß die Systeme für die DDR aufgrund ihres schmalen Gebietes sowieso wertlos werden, da außerhalb der 1 50-km-Zone keine entsprechende Zahl von Abschußgebieten und Flugplätzen verfügbar ist.
Brie stellte zur Diskussion, ob die DDR nicht noch weiteres Entgegenkommen zeigen und ob es angesichts der Bedenken der Bundesregierung beispielsweise möglich sei, Teilschritte zum Korridor wie die beiderseitige Reduzierung und Verringerung von Kurzstreckenraketen als ersten, die Beseitigung der Artillerie als zweiten und der luftgestützten Systeme als dritten Schritt zu gehen. Auf eine Frage des Autors, ob es nicht auch für die DDR Spielräume für einseitige Schritte zur politischen Förderung des Korridor-Gedankens geben kann, antwortete Brie mit einem klaren „Ja“. Für die WVO habe die Erklärung zur Militärdoktrin von Berlin Anfang d. J. dazu den Rahmen gegeben. Insbesondere halte er es für möglich, bestehende Disparitäten zugunsten des WVO einseitig abzubauen. Er betonte jedoch, daß die DDR am Grundprinzip beiderseitiger Abrüstung festhalte. Zudem sollten nicht überhöhte Erwartungen an eine Politik einseitiger Schritte gestellt werden.
In der „Null-Lösungs“-Auseinandersetzung der letzten Monate hat die Bundesregierung – zum Teil mit Erfolg – eigene Abrüstungsunwilligkeit zu verleugnen gesucht, indem sie auf die Verhandlungen zwischen den Großmächten verwies, sich hinter der US-Regierung zu verstecken suchte und gleichzeitig Hindernisse gegen ein Abkommen auftürmte. Die bis heute aufrecht erhaltene Position, wonach die amerikanischen Sprengköpfe der Pershing 1A der Bundeswehr als sogenannte „Drittstaatensysteme“ nicht in die Genfer Verhandlungen einbezogen werden sollen, war bis zuletzt eines der kompliziertesten Probleme. Insofern nimmt die Forderung nach einem atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa die Bundesregierung unmittelbar in die Pflicht. Dies zumal dann, wenn eigenständige bundesdeutsche Abrüstungsschritte zur Förderung eines Korridors gefordert werden. Zu denken ist insbesondere an den sofortigen Verzicht auf Modernisierung und Einführung von atomar verwendungsfähigen Trägersystemen in die Bundeswehr. Außenminister Genscher und andere Regierungsvertreter könnten zudem an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie, entsprechend ihrer Beiträge in der Debatte um die Pershing Ia, wonach sie keinen Aufbau einer bundesdeutschen Atommacht beabsichtigen, der Aufnahme eines Grundgesetzartikels zustimmen, mit dem die Bundesrepublik für alle Zeiten auf eigene Atomwaffen verzichtet. Die Aufkündigung der Kooperationsabkommen über amerikanische Sprengköpfe für Bundeswehr-Trägersysteme könnte den „noch nicht aber schon fast“ Atommachtstatus der Bundesrepublik beenden.
Die Palme-Kommission beschreibt mit ihrem Konzept gemeinsamer Sicherheit noch nicht das (gesamt-) europäische Sicherheitssystem, das in Perspektive an die Stelle der atomaren Abschreckung treten kann. Sie benennt aber die Eckpunkte sicherheitspolitischen Handelns für Regierungen, um den Weg aus der atomaren Gefahr zu gehen.
Daran anknüpfend und darüber hinausgehend ist für die Friedensbewegung eine wichtiger gewordene Aufgabe neben der Verhinderung weiterer Aufrüstung und der Forderung nach einer Politik gemeinsamer Sicherheit, blockübergreifend den Dialog der Menschen und Völker über die Gestaltung eines friedlichen, internationalen Zusammenlebens zu führen und damit die ideologische Abgrenzung der Blöcke zu überwinden. Die Zusammenarbeit berufsbezogener Friedensinitiativen in internationalen Zusammenhängen, Prof. Dürrs global challenges network und die im September durchgeführte Ost-West-Aktion Olof-Palme-Friedensmarsch sind Projekte, mit denen unabhängig von Regierungen ein ziviles und zivilisiertes Miteinander vorangebracht wird.
Literatur:
Der Palme-Bericht. Bericht der Unabhängigen Kommission fr Abrüstung und Sicherheit. Berlin-West 1982
Friedenspolitischer Informationsdienst, Themenheft zum Olof-Palme-Friedensmarsch für einen atomwaffenfreien Korridor. Heft 4/87, Hrg. Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner, Velbert
Major General (Ret.) Michael H. von Meyenfeldt, Für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa – Grundlinien einer Friedensinitiative. Hrg. Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner, Velbert 1987
Gregor Witt, Mitglied des Bundesvorstand des der Deutschen Friedensgesellschaft / Vereinigte Kriegsdienstgegner.