W&F 2006/3

Atomwaffenverzicht ins deutsche Grundgesetz

von Bernd Hahnfeld

Im März 2006 trafen sich in Hannover etwa 50 deutsche Stadtoberhäupter bzw. deren Vertreter, um über ihre Möglichkeiten zu diskutieren, Schritte zur nuklearen Abrüstung zu fördern. Die Bürgermeister, allesamt Mitglieder der Organisation Mayors for Peace, luden zum Gedankenaustausch einige Experten der zivilgesellschaftlichen Kampagne »Abrüstung wagen! atomwaffenfrei bis 2020« ein. Die Kampagne nutzte die Gelegenheit – und die Anwesenheit des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Gernot Erler –, um einen konkreten Vorschlag in die politische Debatte einzuführen.

Die Frage nach den Atomwaffen ist nicht nur eine politische, ökonomische oder militärische Angelegenheit. Sie hat auch eine rechtliche Seite. Die Frage, die sich Politiker leider viel zu selten stellen: „Dürfen wir das überhaupt?“ ist in diesem Fall eindeutig zu beantworten: Nein, sie dürfen nicht! Sie dürfen Atomwaffen weder stationieren noch einer Stationierung zustimmen oder sie dulden; sie dürfen deutsche Soldaten den Atomwaffeneinsatz nicht üben lassen; sie dürfen nicht an Einsatzbefehlen mitwirken; auch dürfen sie deutsche Soldaten nicht an Einsätzen beteiligen. Sie dürfen noch nicht einmal im Rahmen der NATO an der Nuklearstrategie mitwirken.

Woraus ergibt sich das? Aus dem Völkerrecht und aus dem deutschen Recht. Völkerrecht ist Völkergewohnheitsrecht und Völkervertragsrecht.

Das zugrundeliegende Völkergewohnheitsrecht ist nach Art. 25 Grundgesetz (GG) vorrangiges Bundesrecht. Art. 25 GG hat folgenden Wortlaut: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ Die zugrunde liegenden völkerrechtlichen Verträge sind durch Ratifizierungen innerstaatliches Recht geworden.

Das Völkergewohnheitsrecht verbietet im humanitären Kriegsvölkerrecht zwingend die Verwendung von Waffen,

  • die nicht unterscheiden zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung,
  • die unnötige Grausamkeiten und Leiden verursachen und
  • die unbeteiligte und neutrale Staaten in Mitleidenschaft ziehen.

Das können die existierenden Atomwaffen nicht, auch nicht die biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen.

Für die Atomwaffen hat das der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag in seinem auf Ersuchen der UN-Generalversammlung erstatteten Gutachten vom 8.7.1996 unzweideutig festgestellt: „…die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen verstößt generell/grundsätzlich gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegs-Völkerrechts.“ Offengelassen hat der IGH lediglich die Völkerrechtswidrigkeit im Falle einer existenzgefährdenden extremen Notwehrsituation.

Aus der IGH-Entscheidung ergibt sich jedoch, dass selbst im Falle einer extremen Notwehrsituation, in der das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, ein etwaiger Atomwaffeneinsatz allenfalls dann völkerrechtsgemäß sein könnte, wenn er die zitierten Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts beachten könnte:

  • die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung,
  • keine Verursachung unnötiger Leiden und
  • keine Mitleidenschaft unbeteiligter und neutraler Staaten.

Der IGH hat in dem Gutachten erklärt, dass keiner der Staaten, die in dem Verfahren für die Rechtmäßigkeit des Atomwaffeneinsatzes eingetreten sind, Bedingungen dargelegt hat, unter denen ein Einsatz gerechtfertigt sein könnte. Wenn der Einsatz und die Drohung mit dem Einsatz rechtswidrig sind, sind auch Herstellung, Transport und Stationierung dieser Atomwaffen nicht zu rechtfertigen. Denn all das dient der Vorbereitung des Einsatzes und der Drohung damit. Hingewiesen sei noch darauf, dass die »nukleare Teilhabe« Deutschlands, d.h. die Beteiligung deutscher Soldaten und Flugzeuge an einem etwaigen Atomwaffeneinsatz, gegen den Atomwaffensperrvertrag und gegen den 2+4-Vertrag verstößt, weil damit deutsche Hoheitsträger die Verfügungsgewalt über Atomwaffen erhielten.

Was treibt unsere Politiker dazu, sich offen gegen das Recht zu stellen, indem sie die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in Büchel und Ramstein dulden oder ihr sogar ausdrücklich zustimmen und indem sie deutsche Soldaten und Flugzeuge für den Atomwaffeneinsatz bereithalten?

Anknüpfend an den Wunsch der grossen Mehrheit der Deutschen und an Initiativen wie die »Mayors for Peace«, die sich für einen Atomwaffenverzicht aussprechen, stellt sich Frage: Gibt es eine Möglichkeit, die Atomwaffenfreiheit rechtlich so zu gestalten, dass ein Verstoß dagegen in Zukunft nicht mehr vorstellbar wird? Es gibt sie!

Der bisherige Verzicht Deutschlands auf Atomwaffen steht auf rechtlich schwachen Füßen. Er beruht auf drei Grundlagen:

  • der Erklärung Adenauers vom 23.10.1954 im Rahmen der Pariser Verträge, dass die Bundesrepublik sich verpflichtet, Atomwaffen, chemische und biologische Waffen auf ihrem Gebiet nicht herzustellen,
  • auf dem 1970 in Kraft getretenen Atomwaffensperrvertrag, mit dem Deutschland sich verpflichtet hat, Atomwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber von niemanden anzunehmen, sie nicht herzustellen oder sonstwie zu erwerben, und
  • auf dem 2+4-Vertrag vom 12.9.1990, in dem Deutschland seinen Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen bekräftigt hat.

Auf schwachen rechtlichen Füßen steht der deutsche Atomwaffenverzicht deshalb, weil in allen drei Regelungen Einschränkungen oder Vorbehalte enthalten sind, die deutlich werden lassen, dass die politischen Kräfte in Deutschland sich die Option auf eigene Atomwaffen stets offengehalten haben:

  • Adenauers Erklärung aus dem Jahr 1954 betraf nur die Herstellung in Deutschland. Sie wurde zudem durch den damaligen US-Außenminister ausdrücklich unter den Vorbehalt der »clausula rebus sic stantibus« gestellt, d.h. der Verzicht sollte nur gelten, solange die zugrundeliegenden Verhältnisse sich nicht ändern.
  • Der deutsche Verzicht im Atomwaffensperrvertrag sollte unter dem Vorbehalt einer europäischen Lösung und außerdem unter einem Kriegsvorbehalt stehen, beides zwar unwirksame Einschränkungen, aber Versuche, die Wirksamkeit zu begrenzen. Zudem ist der Atomwaffensperrvertrag kündbar. Eine Kündigung hätte zur Folge, dass der Verzicht nur noch auf der – eingeschränkten – Erklärung Adenauers aus dem Jahre 1954 beruhte.
  • Im 2+4-Vertrag wird lediglich der frühere Verzicht „bekräftigt“, d.h. nur der Verzicht Adenauers und der Verzicht im Atomwaffensperrvertrag wiederholt. Deren Grenzen habe ich bereits aufgezeigt.

Wenn Deutschland ernsthaft auf eigene Massenvernichtungswaffen und auf die Teilhabe an den Massenvernichtungswaffen anderer Staaten verzichten will, so ist eine verfassungsrechtliche Regelung überfällig. Ein ausdrücklicher Verzicht im Grundgesetz hätte eine klarstellende Wirkung. Er wäre nur unter erschwerten Bedingungen abänderbar und würde vor allem deutsche Politiker unmittelbar verpflichten, ohne ihnen Schlupflöcher zu lassen. Künftig hieße es unmissverständlich: Hände weg von ABC-Waffen!

Entsprechend sind die Fraktionen des Bundestages, der Bundesrat und die Bundesregierung aufzufordern, das Grundgesetz wie folgt zu ergänzen:

Art. 26 a (Verzicht auf Massenvernichtungswaffen)

(1) Deutschland verzichtet auf Entwicklung, Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen.

(2) Diese Waffen dürfen weder durch noch über Deutschland transportiert noch auf dem Staatsgebiet gelagert oder bereit gehalten werden.

(3) Deutschland setzt sich mit Nachdruck dafür ein, dass es zur Aufnahme von Verhandlungen der Atomwaffenstaaten und ihrer jeweiligen Verbündeten kommt, die in redlicher Absicht geführt werden und darauf gerichtet sind, wirksame Maßnahmen zur weltweiten vollständigen nuklearen Abrüstung in naher Zukunft unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zu erreichen.

(4) Deutschland wird sich künftig in keiner Form an einem Einsatz atomarer, biologischer oder chemischer Waffen beteiligen, und zwar weder durch Bereitstellung von Trägersystemen oder durch sonstige Formen der Unterstützung noch durch Mitarbeit in bilateralen oder multilateralen Gremien, die sich mit dem Einsatz solcher Waffen oder dessen Vorbereitung befassen.

Abs. 1 entspricht im wesentlichen der Formulierung in Art. 3 des 2+4-Vertrages, ergänzt um den Begriff der »Entwicklung«, um sowohl Arbeiten an derartigen Waffenprogrammen als auch einen Technologietransfer in andere Staaten zu verhindern.

Die im Verzicht Adenauers und im 2+4-Vertrag enthaltenen biologischen und chemischen Waffen sind den Atomwaffen vergleichbare Massenvernichtungswaffen und deshalb in die Regelung einzubeziehen. Das Genfer Protokoll vom 17.6. 1925 über das »Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen und ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege« verbietet lückenlos den Einsatz chemischer und biologischer Kampfmittel jeglicher Art gegen jegliches Ziel. Die Einbeziehung von chemischen Waffen ist auch geboten im Hinblick auf das »Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen«vom 13.1.1993.

Die Regelung des Abs.2 ist geboten, um die bundes- und völkerrechtswidrige Stationierung derartiger Massenvernichtungswaffen in Deutschland und ihren Transport verfassungsrechtlich zu erfassen, ihren Abzug einzuleiten und künftige Stationierungen zu verhindern.

Abs. 3 knüpft an die Verpflichtung aus Art. VI Atomwaffensperrvertrag an und gibt der vom IGH nochmals ausdrücklich betonten Rechtspflicht zur zügigen atomaren Abrüstung Verfassungsrang.

Mit Abs. 4 wird Deutschland verboten, sich im Rahmen von Bündnissen an der Verfügungsgewalt über und dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu beteiligen. Damit wird hervorgehoben, dass Bündnisverpflichtungen niemals eine Rechtfertigung für die Drohung mit oder die Anwendung von ABC-Waffen sein können.

Deutschland stände mit einer verfassungsrechtlichen Regelung nicht allein. Der Nationalrat der Bundesrepublik Österreich hat 1999 ein Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich beschlossen, das hinsichtlich der Atomwaffen folgenden Wortlaut hat: „§ 1. In Österreich dürfen Atomwaffen nicht hergestellt, gelagert, transportiert, getestet oder verwendet werden. Einrichtungen für die Stationierung von Atomwaffen dürfen nicht geschaffen werden. § 5. Die Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes obliegt der Bundesregierung.“

Die Verfassungen der Staaten Brasilien, Philippinen und Palau verbieten ebenfalls Atomwaffen. Auch Neuseeland ist kraft Gesetzes atomwaffenfrei, und die Mongolei hat sich gar als einzelnes Land zur atowaffenfreien Zone erklärt. Überdies gibt es fünf multilaterale Verträge über atomwaffenfreie Zonen, die fast die komplette Südhalbkugel der Erde abdecken.1 Deutschland befände sich also mit der grundgesetzlichen Absicherung der Atomwaffenfreiheit in guter Gesellschaft.

Der US-amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld hat im Frühjahr 2006 in einem Interview den Weg zu einem atomwaffenfreien Deutschland aufgezeigt, indem er erklärte, es sei ausschließlich Sache der Deutschen selbst, über die weitere Stationierung von Atomwaffen in Deutschland zu entscheiden.

Anmerkungen

1) Informationen zu den atomwaffenfreien Zonen finden sich unter www.opanal.org/NWFZ/NWFZ's.htm.

Bernd Hahnfeld ist Richter im Ruhestand und Vorstandsmitglied der deutschen Sektion von IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms). Er arbeitet mit im deutschen Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!« und in der Kampagne »Abrüstung wagen! atomwaffenfrei bis 2020«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2006/3 Konfliktherd Energie, Seite