Aus dem Herausgeberkreis
von W&F-Herausgeberkreis
80 Jahre nukleare Kernspaltung
Erklärung der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative
„[…] Aufgrund ihrer Dichte und des starken Energieaustauschs ist zu erwarten, dass sich die Teilchen in einem schweren Atomkern in einer kollektiven Weise bewegen, vergleichbar mit der Bewegung eines Flüssigkeitstropfens. Wird diese Bewegung durch Energiezufuhr ausreichend stark angeregt, könnte sich ein solcher Tropfen in zwei kleinere Tropfen trennen. […] Es erscheint daher möglich, dass der Uran-Kern in seiner Form instabil ist. Er könnte sich daher nach der Aufnahme eines Neutrons in zwei Kerne von etwa gleicher Größe teilen. Diese beiden Kerne werden sich gegenseitig abstoßen und sollten, ausgehend von ihrem Kernradius und ihrer Ladung, insgesamt eine kinetische Energie von ca. 200 MeV entwickeln.” (Lise Meitner und Otto Frisch, 1939, Nature, No. 3615, S. 239)
Mit diesen Worten lieferten Lise Meitner und Otto Frisch 1939 aus dem Exil die erste plausible theoretische Begründung für die revolutionäre Entdeckung der Kernspaltung am 17. Dezember 1938 durch Otto Hahn und Fritz Straßmann in Berlin. Revolutionär nicht nur, weil damit das Atomzeitalter der Menschheit anbrach mit allen seinen Folgen. Vielmehr widerlegte das Experiment die damals gängige Annahme des »átomos«, der unteilbaren kleinsten Bausteine der Materie. Bisher war es gängige Lehrmeinung gewesen, dass der Beschuss eines Atomkerns mit Neutronen so genannte Transurane mit höherer Masse hervorbrachte. Der italienische Kernphysiker Enrico Fermi hatte bereits 1934 mit dieser Art von Experimenten begonnen. Hahn und Straßmann konnten mit Hilfe verschiedener Verfahren nachweisen, dass es sich jedoch um radioaktive Bariumisotope handelt, die eine geringere Masse als Uran aufweisen. Mit dem experimentellen Nachweis und der theoretischen Erklärung mit Hilfe des Tropfen-Modells durch Meitner und Frisch war daher eine kopernikanische Wende im Verständnis der Atome eingetreten, die auch in ihren – im Sinne des Wortes – gewaltigen Folgen schon früh von WissenschaftlerInnen antizipiert wurden.
Mit der Entdeckung der Freisetzung weiterer Neutronen im Spaltprozess wurde rasch deutlich, dass eine Kettenreaktion möglich ist, die große Mengen an Energie freisetzt. Ein Mechanismus, der für den Einsatz in einer Bombe nutzbar gemacht werden könnte. Zunächst fand die Idee zur zivilen Energieerzeugung in der Wissenschaft weitestgehende Zustimmung. Unter den Umständen des Zweiten Weltkriegs jedoch stand die Möglichkeit einer Atombombe im Fokus des Interesses von Entscheidungsträgern. Insbesondere die Furcht vor der Entwicklung einer »Deutschen Bombe« trieb auch Wissenschaftler wie Albert Einstein um. Auf Drängen der emigrierten ungarischen Physiker in den USA, Leó Szilárd, Eugene Wigner und Edward Teller, verfasste Einstein einen Brief an Präsident Franklin D. Roosevelt. Darin enthalten war der Hinweis auf die Möglichkeit der Entwicklung einer amerikanischen Atombombe und die Empfehlung für eine Ausweitung der Mittel für das bisher bescheidene nukleare Forschungsprogramm der USA. Nach der theoretischen Begründung wurde ab 1942 das »Manhatten-Projekt« zum Bau einer Bombe lanciert. Die im Sommer 1945 fertig gestellten Atomwaffen wurden bewusst gegen Japan und seine Zivilbevölkerung eingesetzt – mit verheerenden Folgen.
Was trieb die Wissenschaftler an, bei diesem Projekt mitzuarbeiten? Lise Meitner selbst verweigerte sich jeder Forschung für eine alliierte Atombombe. Eugene Wigner beschrieb die Hoffnung, mit der Entwicklung der Bombe dem grausamen Zweiten Weltkrieg ein Ende zu bereiten. Doch bereits in dieser Zeit wurde die Überlegung diskutiert, dass durch ein Gleichgewicht des Schreckens zwischen Atommächten nicht nur der Einsatz von Atomwaffen verhindert, sondern automatisch auch ein Ende jeglicher Kriege erreicht werden könne. Beide Hoffnungen blieben trügerisch, wie die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki, mehrere Beinahe-Atomwaffeneinsätze und zahlreiche Kriege der folgenden Jahrzehnte zeigen sollten.
In der Rückschau schreibt der Physiker Victor Weisskopf, einer der jüngeren Emigranten, der von Beginn an in Los Alamos an dem Manhatten-Projekt arbeitete, in seiner Autobiographie: „Heute bin ich mir nicht ganz sicher, ob mein Entschluß, mich an diesem ungeheuren – und ungeheuerlichen – Vorhaben zu beteiligen, allein auf der Befürchtung beruhte, die Nazis würden uns zuvorkommen. Es war vielleicht ganz einfach der Drang, an der bedeutsamen Arbeit teilzuhaben, die meine Freunde und Kollegen taten. Sicherlich spielte auch ein Gefühl des Stolzes mit, an einem einzigartigen, sensationellen Unternehmen mitzuwirken. Zudem bot es Gelegenheit, der Welt zu zeigen, wie kraftvoll, einflußreich und pragmatisch die esoterische Wissenschaft der Kernphysik sein konnte.“ In der Zeit nach 1945 war es die Verantwortung für die Verwendung ihrer Forschung, die viele Wissenschaftler beschäftigte. Ebenso wie die Gewissheit, beteiligt zu sein an der Produktion und dem Einsatz von Waffen und dem Wettrüsten, das den Kalten Krieg prägte.
Einige von ihnen haben Wege gefunden, ihre Position als Experten zu nutzen, um Orientierungen zu geben für die öffentliche Diskussion, die Ausrichtung der Forschung und politische Richtungsentscheidungen. Beispiele für dieses wissenschaftlich-demokratische Selbstverständnis sind das Russell-Einstein-Manifest, die Mainauer Erklärung, der Appell der Göttinger 18. Ihnen gemeinsam ist die Einsicht in die Notwendigkeit, die eigene Position, das Wissen und die Fähigkeiten für die Förderung von Frieden und Verantwortung – und in diesem Falle – gegen nukleare Aufrüstung einzusetzen.
Mit der einseitigen Kündigung des INF-Vertrags durch den Präsidenten der USA steht die Weltgemeinschaft heute an einem historischen Punkt, an dem der Imperativ der atomaren Abrüstung in Frage steht. Doch in einer technologiebasierten Welt sind es die NaturwissenschaftlerInnen und IngenieurInnen, denen Verantwortung in immer neuen Bereichen zukommt. Der Nutzen von Künstlicher Intelligenz bei der Automatisierung der Kriegsführung, die kaum absehbaren Folgen von Eingriffen in das (menschliche) Genom, die Konsequenzen der computergestützten Verarbeitung großer Datenmengen für die Unverletzlichkeit der Privatsphäre aller sind nur einige Beispiele für aktuelle Herausforderungen, bei denen WissenschaftlerInnen Verantwortung übernehmen können. Das Vorsorgeprinzip (Precautionary Principle), der Bericht »Late lessons from early warnings« der Europäischen Umweltagentur und nicht zuletzt die Rolle der WissenschaftlerInnen in der Geschichte der Kernspaltung sind Orientierungspunkte, die wir heute nutzen können, um unsere Verantwortung wahrzunehmen. Dazu gehört auch, dass wissenschaftliche Arbeitsbedingungen Reflexionsprozesse ermöglichen, die verantwortungsbewusste Forschung fördern.
Warnendes Beispiel sind die Verstrickungen der deutschen Physiker mit dem NS-Regime. Für NatWiss ist dies die Bestätigung, dass Verantwortung und Wissenschaft immer wieder neu und zusammen gedacht wie auch praktiziert werden müssen. Besonders dringlich ist die Bewahrung bestehender Abkommen für nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung, wie des INF-Vertrags, und die Durchsetzung neuer Verträge zum Verbot und zur Abschaffung aller Atomwaffen.
Die kommenden Jahre bergen zahlreiche Herausforderungen. 80 Jahre atomares Zeitalter haben Generationen von Menschen, Umwelt und Gesellschaft geprägt, ermöglicht, bedroht und vernichtet. Die Kenntnis dieser Geschichte ist uns Erinnerung an die Verantwortung Einzelner und in seiner wissenschaftlichen Faszination Antrieb unserer Forschung.
17. Dezember 2018
FifF-Kommunikation, Hefte 3/2018 und 4-2018
Die Polizeigesetze sind ein Thema der Ausgabe 3/2018 der Zeitschrift des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung, der FIfF-Kommunikation »Informatik und Gesellschaft«. Anja Heinrich und Stefan Hu¨gel befassen sich mit den Risiken und der technischen und rechtlichen Bewertung der Quellen-Telekommunikationsu¨berwachung und der Online-Durchsuchung, besonders mit dem niedersächsischen Gesetz u¨ber die öffentliche Sicherheit und Ordnung.
Hans-Jörg Kreowski schreibt in seinem Beitrag über autonome Systeme, und Wolfgang Hofkirchner skizziert eine Informatik für eine globale nachhaltige Informationsgesellschaft. Ausgehend von der Studie einer Unternehmensberatung, die Empfehlungen für die Förderung von Künstliche-Intelligenz-Start-Ups formuliert, setzt sich Christoph Marischka mit der »Cyber Valley«-Initiative in Stuttgart und Tübingen und deren militärischen Verbindungen auseinander.
Aus Anlass des Todes von Jürgen Friedrich, Professor für Informatik und Gesellschaft an der Universität Bremen, zeichnet Ralf E. Streibl die Geschichte dieses Fachbereichs nach. Die Retrospektive in dieser Ausgabe ist Wolfgang Coy gewidmet: »Weder vollständig noch widerspruchsfrei«.
Am 20. April 2018 wurden in Bielefeld die BigBrotherAwards vergeben – diesmal im Bielefelder Stadttheater. Wir berichten wie immer ausführlich davon und drucken einzelne Laudationes ab.
Wir alle werden älter – und das wirkt sich auf unsere IT-Nutzung aus. Machen die stetigen Veränderungen durch die Digitalisierung unser Leben im Alter schwerer, oder ermöglicht gerade die Digitalisierung auch im hohen Alter ein selbstbestimmtes Leben? Auch für Jüngere ergeben sich Herausforderungen: Wie gehen Kinder und Jugendliche mit den Chancen und Risiken der Digitalisierung um? Mit diesen Fragen setzt sich der Schwerpunkt in Ausgabe 4/2018, »Alter(n)sgerechte Informatik«, auseinander.
Henning Lu¨bbecke und Eberhard Zehendner führen in den Schwerpunkt ein. Sie ziehen ein grundsätzlich positives Fazit: Es gibt bereits etliche gute Ansätze, bestehende IT-Produkte altersgerecht zu erweitern oder, besser, neue von Anfang an für so gut wie alle Menschen tauglich zu gestalten – teils bereits umgesetzt, teils als immerhin konkrete Projektideen. Dennoch bleibt die Frage, ob es gelingen wird, die gesellschaftliche Relevanz in Mechanismen politischen Handelns und hochrangiger Gesetzgebung zu verankern – und natürlich auch im Bewusstsein der meisten Menschen.
Einer der Höhepunkte der FIfF-Konferenz 2018 war die Verleihung der Weizenbaum-Medaille an Professor Dr. Wolfgang Coy. In seiner Rede als Preisträger, die wir ebenso wie die Laudatio von Hans-Jörg Kreowski in Auszügen abdrucken, sprach Wolfgang Coy über die Aufbereitung ethischer Konflikte in Dialogen.
Die Blockchain hat sich zu einem Modethema der Digitalisierung entwickelt. Darauf aufbauend sind Kryptowährungen – die bekannteste davon wohl Bitcoin – entstanden, die von manchen als das Zahlungsmittel der Zukunft gepriesen werden. Silke Ötsch setzt sich kritisch damit auseinander: „Kryptowährungen sind derzeit keine regulären Zahlungsmittel, sondern Spekulationsobjekte, die Möglichkeiten der Geldpolitik negieren, Risiken für die Stabilität des Finanzsystems bergen und auf Märkten anzutreffende Machtverhältnisse ausblenden.“ Die Blockchain sei „kein Ersatz für klassische politische Gestaltung und Regulierung von Macht“, stellt auch Rainer Rehak in seinem Beitrag »Die Blockchain – Das Recht der (Rechen-) Stärkeren« fest. „Der ewige Wunsch, soziale und gesellschaftliche Probleme durch neutrale Technik lösen zu wollen, bleibt auch mit der Blockchain unerfüllbar.“ Kritisch zur Digitalisierung auch der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum: „Die Digitalisierung bietet Chancen bei der Durchsetzung von Menschenrechten, andererseits ist sie gefährlich.“
Zusätzlich enthalten beide Ausgaben Beiträge aus unserer Kooperation mit netzpolitik.org.
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Webseite fiff.de.