W&F 2015/4

Außenpolitik im Wandel

Zäsur oder Kontinuität des deutschen Handelns?

von Gunther Hellmann, Hanns W. Maull, Ingar Solty und Norman Paech

W&F bat vier Autoren, die sich in ihrer (wissenschaftlichen) Arbeit mit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik befassen, um ihre Meinung: Ist bei der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in jüngerer Zeit eine Zäsur zu verzeichnen – Stichwort »neue Verantwortung« – oder überwiegt doch die Kontinuität? Die Autoren stimmen darin überein, dass es einen Wandel gebe, unterscheiden sich aber klar bei der Frage, ob dieser notwendig und reaktiv ist, also Ergebnis eines veränderten außen- und sicherheitspolitischen Umfeldes, oder vielmehr Ausdruck eines neuen deutschen Machtstrebens.

Welt aus den Fugen, Deutschland im Aufstieg

von Gunther Hellmann

Zäsur ist ein starker Begriff. Im Kontext der Beschreibung geschichtlicher Verläufe werden damit üblicherweise markante Einschnitte – wie etwa der Mauerfall 1989 oder die Terroranschläge des 11. September 2001 – beschrieben, die das, was ansonsten als ruhiger Fluss der Geschichte erscheint, durchbrechen und in ein Vorher und Nachher teilen. Historiker unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen »Erfahrungszäsuren« und »Deutungszäsuren« – Einschnitten, die (wie Mauerfall und »9/11«) bereits den Zeitgenossen in der unmittelbaren Erfahrung als markanter Bruch erscheinen oder erst in der zurückblickenden kollektiven Deutung zu solchen Umbrüchen werden.

In der Analyse deutscher Außenpolitik gehörte es schon in der alten Bonner Republik zum guten Ton, die Kontinuitätslinien in den Vordergrund der Deutungen zu rücken. Die ersten 40 Jahre bundesdeutscher Außenpolitik charakterisierte Hans-Peter Schwarz noch 1990 als eine Zeit der „gleitenden Übergänge“, die „keine bis auf die Knochen einschneidenden Zäsuren“ durchgemacht habe. Und selbst der Amtsantritt der ersten »linken« Bundesregierung seit den frühen Tagen der Weimarer Republik im Herbst 1998 wurde nicht nur von den an Kontinuitätsnarration interessierten rot-grünen Praktikern, sondern auch vom Gros der Beobachter viel stärker als Kontinuität erfahren und gedeutet.

Wenn man daher heute – als jemand, der in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu jener Minderheit gehörte, die mehr Veränderung als Kontinuität konstatierte – die Frage beantworten soll, ob deutsche Außenpolitik »in jüngerer Zeit« eher als Zäsur oder als Kontinuität zu deuten ist, wird man der starken »Zäsur«-Deutung wohl nur dann folgen können, wenn man die Jahr(zehnt)e davor weitgehend als Kontinuität erfuhr. Gerade weil aber die Quellen des heute »neu« Erscheinenden nicht so sehr in der jüngeren, sondern in der schon länger vergangenen Zeit liegen, fällt der Schnitt weit weniger dramatisch aus: Ja, wie in den 1990er Jahren und im vergangenen Jahrzehnt hat sich (auch) in der jüngeren Zeit einiges verändert. »Zäsur« dramatisiert diese Veränderungen allerdings in unangemessener Weise.

Dies gilt selbst dann, wenn man die unvermeidliche Unschärfe bezüglich des eigentlichen Analysegegenstands in Rechnung stellt. Beschreibungen einer „Welt, die aus den Fugen scheint“, wie man sie von Außenminister Steinmeier im letzten Jahr immer wieder vernahm, können nämlich schwerlich von den Beschreibungen deutscher Außenpolitik – als versuchter planvoller Steuerung solcher internationaler Prozesse – getrennt werden. »Zäsur«-Deutung dort und »Kontinuitäts«-Deutung hier bedingen einander genauso wie umgekehrt »Erfahrungen« von Kontinuität und Wandel von Außenpolitik einerseits und europäischer bzw. Weltpolitik andererseits.

Aber einmal angenommen, man müsste deutsche Außenpolitik in den letzten fünf Jahren in ein einziges Vorher/Nachher scheiden, wo würde man den Schnitt setzen? Der zwischen Bundespräsidialamt, Auswärtigem Amt und Bundesministerium für Verteidigung orchestrierte gemeinsame Auftritt deutscher Entscheidungsträger bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 – dass Deutschland sich „bei der Prävention von Konflikten [...] früher, entschiedener und substantieller einbringen“ müsse – würde hier wohl deshalb an vorderster Stelle auftauchen, weil eine neue Ambition deutscher Außenpolitik erkennbar und – wie die nahezu einhellige nationale wie internationale Deutung in den Medien und unter Experten zeigte – auch anerkannt wurde. Wenig beachtet wurde allerdings, dass Bundeskanzlerin Merkel weitgehend schwieg – und fortfuhr zu führen wie sie (und die Geführten) es gewohnt war(en). Deutschland und die Welt nahmen seither immer öfter „eine Republik“ wahr, wie Klaus-Dieter Frankenberger jüngst im Kontext der Flüchtlingskrise des Sommers 2015 in der FAZ schrieb, „die politisch in einer ganz anderen Klasse spielt als jenes Deutschland, das vor 25 Jahren seine Wiedervereinigung feierte“.

Wertungen wie diese stehen zwar zunächst primär für die Deutung von Experten und weniger für die Erfahrung breiter Bevölkerungsschichten in Deutschland und Europa. Die letzten Jahre haben allerdings eine gewisse Häufung von Momenten ergeben, in denen sowohl die politische Situation wie auch die Steuerungsversuche deutscher Außenpolitik die Akzente des Neuen stärker hervortreten ließen als die Linien der Kontinuität. In der seit mehreren Jahren anhaltenden Schulden-/ Griechenlandkrise erschien die unübersehbare Führungsrolle Deutschlands deshalb noch etwas weniger erstaunlich, weil es hier ums Geld ging. Das war der ältere und anerkannte Kernbereich ökonomischer Macht- und Gestaltungsansprüche Deutschlands in der EU.

Die sich spätestens seit 2014 zunehmend deutlicher herausschälende geopolitische Führungsrolle der Deutschen in der eskalierenden Ukraine-Krise unterstrich dagegen – gerade im Kontrast zur französischen Führungsrolle im Georgienkrieg 2008 -, dass Deutschland nun auch im Kernbereich militärischer Sicherheit eine Führungsrolle nicht nur reklamierte, sondern auch zugestanden bekam – von Moskau, Washington und sogar Paris. Auch das ist neu. Dass der Erklärungsbedarf vor diesem Hintergrund wuchs, ist genausowenig erstaunlich wie der mediale Hang zur Dramatisierung einer neuen deutschen Rolle. Im Herbst 2015 hat das aber (immer noch) mehr mit Deutungserfordernissen als mit unmittelbarer Zäsurerfahrung zu tun. Deutschlands Aufstieg vollzieht sich seit Jahren langsam und stetig – und wie immer: mit offenem Ende.

Prof. Dr. Gunther Hellmann lehrt Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt/M und ist am Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« beteiligt.

Es gilt beides: Zäsur und Kontinuität

von Hanns W. Maull

In der vom Bundespräsidenten Gauck mit seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit im Oktober 2013 angestoßenen Debatte um eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik und in den außenpolitischen Zielsetzungen der gegenwärtigen Großen Koalition lässt sich in der Tat eine wichtige Zäsur in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erkennen: Deutschland bekennt sich seither klar zu einer größeren internationalen Verantwortung und versucht, diesem Anspruch (und den dahinter stehenden Erwartungen des Auslands) in einer Reihe von Politikfeldern der Außen- und Sicherheitspolitik gerecht zu werden.

Zugleich orientiert sich die neue Außenpolitik der Großen Koalition aber im Kern weiterhin an den großen Linien, die schon die Diplomatie der alten Bundesrepublik vor 1989 bestimmt hatten: konsequente Ausrichtung auf und Eingliederung in die europäische Integration und das westliche Sicherheitsbündnis der NATO, Unterstützung einer gesamteuropäischen Friedensordnung durch schrittweise Transformation (»Zivilisierung«) der zwischenstaatlichen Beziehungen wie auch der inneren Ordnungen der Staaten und Volkswirtschaften (etwa durch die »Modernisierungspartnerschaft« mit Russland), stetige Bemühungen um Verhandlungslösungen in Konflikten und um Verregelung und Verrechtlichung der internationalen Ordnung und große Zurückhaltung beim Einsatz militärischer Zwangsmaßnahmen. Insofern lässt sich von einer grundlegenden Kontinuität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sprechen, die bis heute gültig geblieben ist.

Natürlich gibt es dabei manche Änderungen in den Details; die bedeutsamste betraf den Einsatz der Bundeswehr in internationalen Friedensmissionen, einschließlich von Kampfeinsätzen außerhalb der NATO-Bündnisverpflichtungen – von der Beteiligung an der UN-Friedensmission in Kambodscha 1990/91 bis zum Afghanistan-Einsatz im Rahmen der NATO seit 2001.

Welche konkreten Beispiele und Ereignisse sprechen für oder gegen Zäsur bzw. Kontinuität?

  • Nach den international viel beachteten Ankündigungen der Großen Koalition auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2014, mehr internationale Verantwortung übernehmen zu wollen, sah sich die deutsche Diplomatie mit der Krise in der Ukraine rasch einer ersten Bewährungsprobe gegenüber. Berlin übernahm dabei eine wichtige Führungsrolle. Zunächst wurde mit Frankreich versucht, einen politischen Ausgleich in der Ukraine zu erreichen. Als dies scheiterte, verhängte Berlin Wirtschaftssanktionen gegen Russland und setzte dies auch als gemeinsame Politik der EU gegenüber Moskau durch. Berlin wirkte mit an der Ausarbeitung der beiden Abkommen von Minsk und beteiligt sich maßgeblich an den vielfältigen Bemühungen, die marode Wirtschaft und den zerrütteten Staat der Ukraine zu sanieren, die von der Europäischen Union und vom IWF angeführt werden. In der Ukrainekrise zeigt sich also die Bereitschaft Berlins, eine Führungsrolle in einem konsequent multilateral ausgerichteten Krisenmanagement wahrzunehmen. Damit folgt Berlin eindeutig den traditionellen Leitlinien der deutschen Außenpolitik.
  • In der Euro- bzw. Griechenlandkrise trug die Krisenbewältigungsstrategie der Eurozone und der EU wesentlich die deutsche Handschrift. Berlin konnte sich durchsetzen, indem es eine Koalition wichtiger Mitgliedsstaaten und europäischer Institutionen schmiedete, die hinter dieser Politik standen. Sie unterschied sich von der bis dahin verfolgten deutschen Europapolitik vor allem durch einen klar artikulierten Führungsanspruch einerseits, durch ausgeprägte Zurückhaltung bei der Übernahme von finanziellen Garantien bzw. Verpflichtungen zugunsten europäischer Partnerländer andererseits.
  • Die Flüchtlingswelle aus dem südöstlichen Europa, aus dem Mittelmeerraum und aus Afrika hat ebenfalls eine europapolitische Dimension, doch reicht sie weit darüber hinaus: Das Dilemma der Politik besteht in diesem Zusammenhang darin, dass überzeugende Lösungen für diese Fluchtbewegungen nur in den Herkunftsländern gefunden werden können. Die Suche nach wirtschaftlichem Wohlstand und geordneten, langfristig stabilen politischen Verhältnissen kann Deutschland mit der und über die EU zwar versuchen voranzubringen, aber letztlich entscheiden über Erfolg oder Misserfolg die Länder selbst..

In allen diesen Zusammenhängen steht die deutsche Außenpolitik vor qualitativ neuen Aufgaben. Dennoch agiert sie in hohem Maße kontinuitätsbestimmt. Sie versucht also, den Anforderungen eines radikal veränderten außenpolitischen Umfeldes im Sinne der traditionellen Leitlinien gerecht zu werden. Dies unterstreicht im Übrigen auch einer der wichtigen Erfolge der westlichen Außenpolitik in den letzten Jahren, das Nuklearabkommen mit dem Iran, bei dessen Zustandekommen Berlin eine wichtige Rolle spielte.

Es gehört zum Selbstverständnis der neuen deutschen Außenpolitik, im Dialog mit der außenpolitisch interessierten Bevölkerung um größere Zustimmung und Unterstützung zu werben, so wie es jüngst im Projekt »Review 2014. Außenpolitik Weiter Denken« des Auswärtigen Amtes geschah. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind bislang aber eher bescheiden: Umfragedaten belegen ein nur sehr begrenztes Interesse an außenpolitischen Themen und deshalb auch ein unzureichendes Verständnis für die Bedeutung der Außen- und Sicherheitspolitik für das zukünftige Wohlergehen Deutschlands. Dementsprechend zeigen die außenpolitischen Prioritäten der Bevölkerung, wie sie in Meinungsumfragen festgehalten sind (exemplarisch z.B. in der Studie »Die Sicht der Deutschen auf die Außenpolitik« von TNS Infratest Politikforschung, 2014), ein eher kurioses denn ein realistisches Verständnis für außenpolitische Problemlagen und mögliche Lösungswege.

Prof. Dr. Hanns W. Maull, lange Jahre Professor für Außenpolitik und internationale Beziehungen an der Universität Trier, ist Senior Distinguished Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Die Mär von der reaktiven Zäsur

von Ingar Solty

Die Debatte über Zäsur und Kontinuität in der deutschen Außenpolitik ist alt. Viele Zäsuren wurden schon ausgerufen. Allein nach 1989/90 war von wenigstens vieren die Rede: das Ende der »Scheckbuchdiplomatie« mit der aktiven Beteiligung Deutschlands an der Überwachung des Embargos gegen Jugoslawien 1992, die erste Auslandsbeteiligung Deutschlands an NATO-Bombardierungen während des völkerrechtswidrigen Kriegs im Kosovo 1999, »9/11»« und der permanente »Krieg gegen den Terror« sowie die »Verteidigung« Deutschlands „am Hindukusch“ (Peter Struck) 2001und nun 2014/2015.

Viele Friedensbewegte erkennen – etwa im Zuge der außenpolitischen Grundsatzentscheidung, Waffen nun gezielt auch in Krisengebiete zu senden – heute wieder eine Zäsur. Davon sprechen jedoch auch die Außenpolitikeliten: Diese sei Deutschland von außen aufgezwungen worden. Peer Steinbrück sieht 2014 als „Jahr der weltpolitischen Zäsur“ und benennt als Gründe den „blinde[n] Terror des IS in Syrien und im Irak, Russlands Rückfall in die Großmächtepolitik des 19. und 20. Jahrhunderts oder die um sich greifende Ebola-Epidemie“. Deshalb müsse die „Bundesrepublik verstärkt internationales Engagement zeigen und global Verantwortung übernehmen“. Aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem wichtigsten außenpolitischen Stichwortgeber in der Bundesrepublik, verlautete, 2015 sei das Jahr, in dem die „gesamteuropäische Ordnung vor einer Zäsur“ gestanden habe: „Mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine“ habe Russland „wichtige Grundlagen der gesamteuropäischen Ordnung von 1990 zerstört“. Diese Darstellung einer reaktiven Zäsur ist jedoch falsch.

Das zentrale Dokument der neuen deutschen Außenpolitik ist die Studie »Neue Macht – neue Verantwortung« der SWP und des German Marshall Fund of the United States (GMF). Die Studie wurde zwischen November 2012 und September 2013 ausgearbeitet, also deutlich vor dem Euromaidan, der Krim-Annexion durch Russland, dem imperialen Zerren um die Ukraine oder der Konfrontation mit dem IS. Vorgestellt wurde die Studie durch Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Eröffnungsrede »Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen« auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014. Schon der Titel verdeutlicht, dass sich nicht außen in der Welt etwas geändert habe (etwa neue Unsicherheit), sondern in Deutschland selbst (neue Macht). Das SWP/GMF-Papier postuliert, Deutschland habe heute „mehr Macht und Einfluss als jedes demokratische Deutschland vor ihm“, woraus eine „neue Verantwortung“ erwachse.

Gaucks mittelbarer Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten, Horst Köhler, trat im Mai 2010 zurück, als er nach seiner Mahnung, ein Land mit einer „solchen Exportabhängigkeit“ wie Deutschland habe notfalls militärisch für freie Handelswege zu sorgen, unter Druck geraten war. In München propagierte Gauck just diese Außenpolitikposition eines neuen deutschen „imperialen Realismus“ (Frank Deppe). Köhlers Ansinnen wurde in »Neue Macht – neue Verantwortung« nun ganz offen formuliert: Deutschland sei „überdurchschnittlich globalisiert“ und profitiere „wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung und der friedlichen, offenen und freien Weltordnung, die sie möglich macht“, weshalb das „überragende strategische Ziel Deutschlands [...] der Erhalt und die Fortentwicklung dieser freien, friedlichen und offenen Ordnung“ sei. Dazu solle Deutschland gemeinsam mit Europa „Formate für NATO-Operationen entwickeln, bei denen sie weniger auf US-Hilfe angewiesen“ seien.

Gaucks Rede wurde von der Mainstream-Presse von rechtskonservativ bis linksliberal euphorisch aufgenommen: DIE WELT und DIE ZEIT pflichteten bei, indem sie fast wortgleich das »deutsche „Ohnemicheltum“ und den „ewigen Ohnemichel“ geißelten, während die Süddeutsche Zeitung gegen die „defensive Bequemlichkeit“ wetterte und die FAZ martialisch den „Abschied von der altbundesrepublikanischen Selbstverzwergung in der Außen- und Sicherheitspolitik“ verkündete – all das, wie gesagt, vor Krim-Annexion und IS-Staatsgründung.

Der neue deutsche Diskurs wurde dabei von den wichtigsten Think-Tanks der US-Außenpolitik ausdrücklich begrüßt. Besonders enthusiastisch reagierte man jenseits des Atlantiks auf die »Selbstkritik« an der deutschen Enthaltung unter FDP-Außenminister Guido Westerwelle während des NATO-Kriegs gegen Libyen 2011 – und tatsächlich ist Libyen der springende Punkt. Die deutschen Außenpolitikeliten waren von Westerwelles »Politik der militärischen Zurückhaltung« entsetzt gewesen. Typisch waren vehemente Angriffe auf Westerwelle z.B. im Deutschlandfunk, der ihn am 30. März 2012 für seinen „altmodischen Genscherismus“ wüst beschimpfte. Aus Sicht der Außenpolitikeliten war nicht der Krieg, der Libyen in das heutige Bürgerkriegschaos stürzte, ein „Scherbenhaufen“ (wie es vielfach hieß), sondern Deutschlands Nichtbeteiligung an den Bombardierungen.

»Neue Macht – neue Verantwortung« reagierte auf dieses »Versagen« und wurde zur außen- und sicherheitspolitischen Grundlage des Koalitionsvertrags von CDU/CSU/SPD. IS, Ukraine und Ebola lieferten da die passende Chance, die offensive Orientierung in der deutschen Außenpolitik als alternativlos darzustellen. Dass die Zäsur von außen aufgezwungen wurde, gehört zum typischen Propaganda-Arsenal offensiver Außenpolitik.

Ingar Solty ist Mitarbeiter des Forschungsprojektes »The Question of Europe in an Era of Economic and Political Crises« an der York University (Toronto, Kanada) und Fellow des Berlin Institute for Critical Theory. Letzte Buchveröffentlichung: »Die USA unter Obama« (2013).

Deutsche Verantwortung – deutsche Außenpolitik

von Norman Paech

Die Welt hat sich seit dem Untergang der Sowjetunion und des sozialistischen Staatensystems 1989/90 schneller und gründlicher verändert als vorhergesehen. Vor allem hat sie sich in eine Richtung bewegt, die der Hoffnung und Erwartung der Menschen auf Frieden nach dem Zusammenbruch der West-Ost-Konfrontation diametral entgegengesetzt ist: Statt einer Friedensdividende verbuchen wir eine zweifelhafte Kriegsrendite, die sich selbst für die, die sie einzustreichen suchten, nicht ausgezahlt hat. Dazu bedurfte es nur einer kurzen Phase der Neufindung und -definition: von der NATO als Verteidigungs- zum Interventionsbündnis, von der Bundeswehr als Verteidigungsarmee zur Armee »im Einsatz«, vulgo Interventionsarmee.

Danach folgten in kurzem Abstand die Überfälle der NATO auf Länder, von denen die Mitgliedstaaten weder angegriffen noch bedroht worden waren, ihren imperialistischen Neuordnungsinteressen jedoch entgegenstanden, so 1999 der Krieg gegen Ex-Jugoslawien und die Zerlegung des Balkans, 2001 der Krieg gegen – und nachdem al Kaida faktisch bereits nach zwei Monaten vertrieben war – um Afghanistan. Wiederum zwei Jahre später der lange geplante Krieg gegen Irak, der das Land in Chaos und Aufruhr hinterließ. Keine zehn Jahre später der Krieg gegen Libyen, der erst endete, als sein Führer Gaddafi ermordet und seine Gesellschaft vollkommen entwurzelt und zerfallen war. Und schließlich der Krieg in und um Syrien, der sich ohne die massive (auch westliche) Unterstützung der zahllosen Terrorgruppen nicht zu dem Flächenbrand ausgeweitet hätte, der jetzt auch die Nachbarstaaten schon erfasst.

Es handelt sich um Kriege, die alle vom Westen, von den Staaten der NATO, begonnen bzw. befeuert wurden, ohne Rücksicht auf das Völkerrecht und die katastrophalen Folgen für die in den angegriffenen Ländern lebenden Menschen, die nun ihre Rettung in der verzweifelten Flucht nach Europa suchen. Nur zu verständlich ist es dann, wenn der schleichende Krieg in der Ukraine und der völkerrechtlich auch nicht saubere Seitenwechsel der Krim nach Russland zu einem mediengewaltigen Scherbengericht gegen den russischen Präsidenten Putin und zu einer weiteren Verschärfung der NATO-Präsenz an den Grenzen Russlands benutzt wird. Die Konfrontation ist brandgefährlich, denn hier stehen sich wieder Atommächte gegenüber.

Diese hässliche Veränderung der Welt hat sich nicht ereignet wie ein Wetterwechsel, sondern ist das desaströse Ergebnis einer Außenpolitik, die ganz offen die Neuordnung der Welt, vor allem des Nahen und Mittleren Ostens, nach ihren Koordinaten und Interessen propagiert. Ihr Kern ist der »regime change«, die Auswechselung der Regime, mit denen die USA und die europäischen Staaten jahrzehntelang eng zusammengearbeitet haben, vom Ölhandel bis zur Nutzung ihrer Folterkeller. Nun haben sie keinen Platz mehr in den geostrategischen Überlegungen der westlichen Mächte und müssen beseitigt werden.

Die Bundesregierungen haben nicht abseits gestanden, sondern in ihrer Bündnisverpflichtung die Neuordnungsstrategie seit dem Überfall der NATO auf Ex-Jugoslawien mitgetragen. Darüber vermag auch nicht die Zurückhaltung der Schröder/Fischer-Regierung, sich an vorderer Front am Krieg gegen den Irak zu beteiligen, hinwegzutäuschen. Mit geheimdienstlichen Agenten war sie nicht nur für die US-Truppen in Bagdad vor Ort, sondern im Krieg dabei. Der entscheidende Bruch mit der alten, auf dem Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes basierenden Außenpolitik erfolgte bereits im Frühjahr 1999 mit dem Einsatz der deutschen Luftwaffe auf dem Balkan und der Verabschiedung eines neuen Strategischen Konzeptes der NATO, das aus dem Verteidigungs- nun definitiv ein Interventionsbündnis machte.

Alle späteren Entscheidungen, ob die Beteiligung am Afghanistan-Feldzug oder im weiteren Feld der Antiterrorkriegsführung, bewegen sich in dem einmal geöffneten Freiraum weltweiter Kriegseinsätze. Dies gilt vor allem auch für die von Bundespräsident Gauck auf der 50. Münchener Sicherheitskonferenz im Januar 2014 geforderte Übernahme gesteigerter Verantwortung entsprechend des gewachsenen ökonomischen und politischen Gewichts Deutschlands.

Dieser robuste Führungsanspruch, der mitunter als Kurswechsel gesehen wird, war schon im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD (2013) formuliert worden, sodass Gauck in München sofort Unterstützung von Außenminister Steinmeier (SPD) und Verteidigungsministerin von der Leyen (CDU) bekam. In den meinungsführenden Medien war der Führungsansppruch schon lange Standard und stellte auch für die Einsatzstrategie der Bundeswehr keine neue Qualität dar. Deutschland nimmt seit Jahren eine Spitzenposition in der Rüstungsproduktion und dem Waffenhandel ein. Die jüngsten Rüstungsentscheidungen von der Leyens unterstreichen nur den Anspruch außenpolitischer Präsenz in der ersten Reihe, ob in der Konfrontation mit Russland oder der Einhegung des Iran.

Dabei bewahrt die Regierung in allen Konflikten trotz mancher Zurückhaltung (z.B. in Libyen und Syrien) ihre unbedingte Gefolgschaft zur US-amerikanischen Strategie. Weder gegenüber Israel noch gegenüber dem NATO-Partner Türkei ist eine eigenständige außenpolitische Haltung und Initiative erkennbar, obwohl die öffentliche Kritik an beiden Regierungen unüberhörbar ist. Man liefert Waffen in die Region, aber einen substantiellen Beitrag für den Frieden im Nahen und Mittlere Osten ist die deutsche Außenpolitik seit Jahrzehnten schuldig geblieben.

Prof. em. Dr. Norman Paech lehrte Öffentliches Recht an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP). 2005-2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und Außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2015/4 Deutsche Verantwortung – Zäsur oder Kontinuität?, Seite 6–10