W&F 1995/2

„Beeilt Euch, Genossen!“

Stalins Atombombenprogramm

von Igor N. Golovin

Ende der dreißiger Jahre begann ich die Anwärterschaft der Moskauer Universität und war mit der Theorie der Kernkräfte unter Leitung eines der größten russischen theoretischen Physikers der Zeit, Igor Tamm, beschäftigt. Dann besuchte ich regelmäßig jede Woche das Kernphysikseminar im physikalischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion. Das Seminar leiteten Skobelzin und Tamm. Als Mitglieder hatten Frank, Weksler, Cherenkov und andere aktive Experimentatoren und Theoretiker teilgenommen.

Im Januar 1939 veröffentlichte die Zeitschrift „Naturwissenschaften“ die erstaunliche Nachricht über die Entdeckung von Hahn und Straßmann. Unmittelbar danach wurde klar, daß es möglich ist, die Atomenergie für die Menschheit nutzbar zu machen.

Sofort begannen unsere Kernphysiker in Moskau, Leningrad und Charkov, Experimente auf diesem Gebiet durchzuführen. Im Leningrader Physikalisch-Technischen Institut bei Abraham Ioffe war der aktivste Mitarbeiter I.V. Kurchatov, der mich in mehreren Konferenzen und Seminaren bereits beeindruckt hatte und voller Energie und Geist war. Er widmete seine ganze Kraft und die seiner Labormitarbeiter der Lösung der wichtigen Frage, ob die Kettenreaktion möglich sei. In seinem Labor waren schon im Sommer 1939 die wichtigsten Berechnungen durchgeführt und die Zahl der Neutronen, die durch eine Spaltung frei werden, gemessen worden. Ein wenig später haben mit Kurchatovs Hilfe Flerov und Petrshak die spontane Spaltung ohne Neutronenbestrahlung durchgeführt. Bald danach wurde deutlich, wie wichtig diese Erkenntnisse für die Atombombenentwicklung sind.

Im Institut der physikalischen Chemie, das gerade aus dem Institut von A. Ioffe ausgegliedert worden war und unter Semenovs Leitung stand, arbeiteten zwei junge, sehr begabte Theoretiker: Chariton und Zeldovich. Sie besuchten Kurchatovs Seminar und begannen sofort die Theorie der Kettenreaktion bei der Uranspaltung zu entwickeln. Sie wiesen nach, daß die Reaktion entweder ruhig fließend gesteuert sein kann oder zur Explosion führt. Sie hatten ausgerechnet, daß in beiden Fällen eine riesige Menge Energie frei wird.

Sobald aus den Zeitschriften und Kurchatovs Messungen die notwendigen Werte bekannt wurden, rechneten sie die kritische Uranmasse aus, die notwendig wäre, um eine Explosion auszulösen. Im Juli 1939 erzählte Chariton, daß hierzu ca. 10 kg Uran-235 notwendig sind, und erklärte, daß z.B. im Falle einer solchen Explosion über dem Zentrum Moskaus nicht nur die Stadt vollständig bis zur Stadtgrenze zerstört werden würde, sondern auch die ganze Umgebung. N. Semenov schrieb sofort an das zuständige Ministerium. Er bekam leider keine Antwort.

Der Akademiker Chlopin aus dem Radium-Institut in Leningrad hatte unterdessen die Urankernsplitter sorgfältig identifiziert. Doch die Wissenschaftler Ioffe und Chlopin setzten in der Akademie der Wissenschaften durch, daß eine sogenannte Urankommission gebildet wurde, die einen Plan für die Untersuchung der Kettenreaktion entwickelte. Sie gaben dem Geologen A.E. Fersman den Auftrag, Uranerzlager zu finden.

Die Regierung der Sowjetunion reagierte nicht auf diese Schritte. Im Herbst 1939, vom 15.-20. November, fand in Charkov im Ukrainer Physikalisch-Technischen Institut die alljährliche Kernphysik-Konferenz der Akademie der Wissenschaften statt. Dort versammelten sich 120 Physiker aus 16 Städten der Sowjetunion. Von den ca. 40 Vorträgen beschäftigten sich nur vier mit der Uranspaltung. Es fanden wichtige Diskussionen über die Isotopentrennung statt.

Nach einem Jahr sorgfältiger Untersuchungen zur Uranspaltung fand die nächste Konferenz statt. Vom 20.-26. November 1940 versammelten sich 200 Teilnehmer in Moskau. Von den 40 Vorträgen beschäftigten sich wiederum nur vier mit der Uranspaltung. Doch dieses Mal hielt Kurchatov einen Übersichtsvortrag, in dem seine Schlußfolgerung folgendermaßen lautete: Im Prinzip ist die Frage, ob die Kettenreaktion möglich ist, positiv zu beantworten. Leider gäbe es allerdings große technische Schwierigkeiten, um eine effektive Isotopentrennung für Wasserstoff und Uran zu entwickeln.

Solange Kurchatov die Ergebnisse der Experimente analysierte, wuchs die Spannung im Hörsaal, der bis auf den letzten Platz mit Zuhörern besetzt war. Nachdem Kurchatov seinen Vortrag beendet und den Hörsaal verlassen hatte, begann ein aufgeregtes Gemurmel unter den Zuhörern. Wir fühlten, daß wir an einem großartigen Ereignis teilnahmen.

Der Vorsitzende Chlopin verließ den Saal durch dieselbe Tür wie Kurchatov. Einer nach dem anderen folgten ihm – Ioffe, Lejpunkskij, Chariton und andere. 10 Minuten, 20 Minuten gingen vorbei … Ich hielt es nicht mehr aus und ging auch in das Hinterzimmer. Da war ein Kampf ausgebrochen! Endlich, nach einer halben Stunde, kam Chlopin zurück in den Hörsaal und sagte: „Wir haben die Lage besprochen und sind zu folgendem Schluß gekommen: Obwohl die Resultate sehr wichtig sind, ist es zu früh, sich an die Regierung zu wenden, um in großem Ausmaße die Arbeit weiterzuentwickeln und eine entsprechende Finanzierung einzufordern. In Europa ist Krieg. Die Zeit ist unruhig. Das Geld ist notwendig für andere Dinge.“

Ein enttäuschtes Murren ging durch den Hörsaal. Wie konnte so etwas geschehen? Waren wir eingeschläfert durch die Reden, die besagten, daß unsere Grenzen fest versperrt sind und kein Feind sie durchbrechen kann?

Es scheint mir heute, daß unter uns Physikern nur Chariton, der einige Jahre vorher durch Deutschland gereist war und das Verhalten der Hitlerjugend mit eigenen Augen gesehen hatte, die Gefahr richtig einschätzte. Nachdem er nach Hause kam, verließ er die Kernphysik, die er damals als »abstrakt« empfand, und entwickelte die Theorie der chemischen Kettenreaktionen für Sprengstoffe – Explosionen und Detonationen.

Wir müssen uns in Erinnerung rufen, daß bereits ein Jahr bevor uns Chlopin sagte, „es sei zu früh“, Präsident Roosevelt den von Szillard geschriebenen und von Einstein unterzeichneten Brief erhielt, in dem sie die Gefahr beschrieben, daß Hitler die Möglichkeit hatte, eine Atombombe zu bauen!

Von ziviler Wissenschaft war keine Rede mehr

Nachdem am 22. Juni 1941 Hitlers Truppen unsere Grenzen überschritten, unsere Städte bombardierten und das Leiden begann, war von »ziviler Wissenschaft« nicht mehr die Rede. „Alles für den Sieg.“ „Der Feind wird vernichtet.“ Das war auf den Plakaten, die an unseren Häusern klebten, zu lesen.

Im ersten Kriegsplan von Ioffe war folgendes enthalten:

  • Kosyrevs Radarentwicklung fortsetzen;
  • Aleksandrovs Schiffsverteidigung gegen die magnetischen Treibminen anwenden;
  • Kurchatovs Uranuntersuchungen beschleunigen.

Die Institute aus Leningrad, Moskau und Charkov wurden in das tiefe Hinterland verlegt. Alle Atomuntersuchungen wurden gestoppt.

Erst viel später, 1990, habe ich erfahren, daß schon im Herbst 1941 Berija, das Oberhaupt des Geheimdienstes, Stalin informiert hatte, daß er durch seine Agenten Nachrichten über intensive Arbeiten in England und in den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Uranbombenerzeugung erhalten hatte. Stalins Antwort war: „Das ist alles Desinformation. Sie wollen unseren Druck gegen Hitler schwächen.“

Im Herbst 1942 hatte Berija dann bereits so viele Dokumente über die Arbeit an der Uranbombe durch seine Agenten erhalten, daß Stalin endlich zu dem Ergebnis kam, daß solch eine Waffe noch in diesem Krieg große Bedeutung erlangen werde.

Im Januar 1943 versammelte er bei sich vier Wissenschaftler: Ioffe, Chlopin, Kapiza und Vernadskij und fragte sie, ob es wirklich möglich sei, eine Uranbombe zu bauen. Die Wissenschaftler bestätigten es und Ioffe benannte Kurchatov zum Leiter dieser bevorstehenden Arbeit.

Am 11. Februar 1943 unterzeichnete Stalin die Regierungsverordnung über die Wiederaufnahme des Uranprojektes, Kurchatovs Berufung zum wissenschaftlichen Leiter des Projektes und die Ernennung von V.M. Molotov, den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, zum Verantwortlichen der Regierung für dieses Projekt.

Am 12. April 1943 wurden in der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion zwei Dokumente unterschrieben. Zum einen wurde in der Akademie der Wissenschaften der UdSSR das Laboratorium N2 eingerichtet und zum anderen wurde Professor I.V. Kurchatov zum Leiter des Laboratoriums N2 berufen. Genau wie diese beiden Dokumente unterlag die gesamte Arbeit im Laboratorium N2 strengster Geheimhaltung. Kurchatov entwarf sofort zusammen mit Chariton, Zeldowich, Flerov, Kikoin und Alichanov das Arbeitsprogramm für die erste Phase.

Bis heute haben wir keine Zeugnisse darüber gefunden, ob Kurchatov 1943 von Fermis Erfolg, im Uran-Graphit-Brüter in Chicago am 2. Dezember 1942 Kettenreationen auszulösen, gewußt hat. Ohne Verzögerung begann er mit ähnlichen Experimenten. Am Moskauer Elektrodenwerk wurde bald die Produktion des extrareinen Graphits aufgenommen. Dies geschah in solchen Mengen, die Kurchatov für völlig ausreichend hielt. Ende 1944 wurde die erste Uranschmelze in Moskau durchgeführt. Da Kurchatov bereits wußte, daß neben der Isotopentrennung für die Ladung der Atombombe Plutonium notwendig ist, das chemisch separiert werden kann, beeilte er sich, Plutonium – wenn auch in kleinsten Mengen – zu bekommen, um seine chemischen und Kerneigenschaften kennenzulernen. Hierfür begann er 1943 einen Zyklotron zu bauen.

Anfangs wurde angenommen, daß im Laboratorium N2 alle Probleme des Atombombenbaus gelöst werden können. Deshalb begann der junge Ingenieur Merkin unter Charitons Leitung 1943 die »Kanonenvariante« der Bombe zu modellieren. Dazu hatte er mit einer Flinte gegen eine andere geschossen und mit Hilfe der Impulsphotographie den Zusammenstoß der zwei Kugeln studiert.

Kikoin begann seine Arbeit mit Fritz Lange, der schon vor dem Kriege aus Hitler-Deutschland emigrierte, in Charkov forschte und jetzt mit der Zentrifuge arbeiten wollte. Eine Zentrifuge wurde gebaut und in Swerdlowsk geprüft. 1944 brachte dann der russische Aufklärungsdienst eine Nachricht, die besagte, daß die Amerikaner ein großes Diffusionswerk zur Isotopentrennung gebaut hatten. Deshalb arbeitete Kikoin bis 1953 nicht weiter an den Zentrifugen, sondern konzentrierte seine Kräfte und die seiner Mitarbeiter auf die Arbeit an der Diffusionsmethode.

Der Sieg über den deutschen Faschismus

Dann kam der Sieg über die faschistische Diktatur in Deutschland und wir Wissenschaftler dachten schon darüber nach, was wir nun weiter tun würden, denn die Bombe schien uns nicht mehr notwendig.

Aber ehe wir diese Gedanken beenden konnten, kam die Nachricht, daß in der Wüste Alamogordo die Amerikaner einen Atombombenversuch durchgeführt hatten. Das erste Gefühl war Neid; ihnen war es gelungen und uns nicht. Dann schien es uns aber wenig sinnvoll, es bei uns zu wiederholen, und wir dachten über Urankraftwerke nach.

Aber nach den Atombombenabwürfen vom 6. und 9. August auf Hiroshima und Nagasaki endete unsere ruhige Arbeit. Die Regierung und die Generalität waren von Panik ergriffen. Kurchatov, Chariton, Kikoin und andere wurden täglich zu Sitzungen in den Kreml oder vom Geheimdienst in die Lubjanka beordert. Die Besprechungen dauerten stundenlang bis zur völligen Erschöpfung der Teilnehmer. Die Wissenschaftler mußten erklären, was die Bombe eigentlich ist und wie sie gemacht worden sein konnte. In den Zeitungen wurden Massen von Artikeln geschrieben und viele Reden waren im Rundfunk zu hören. Sie hatten immer den Tenor: „Das Vernichten der japanischen Städte ist gegen uns gerichtet.“

Diese Propaganda wirkte auf uns und überzeugte uns davon, daß wir uns beeilen mußten. Ein paar Tage später war die Panik überwunden und Stalin und Berija zeigten ihr organisatorisches Talent. Stalin ließ den Generalstab zu diesem Projekt nicht zu und übergab Berija alle Machtbefugnisse.

Berija wurde zum administrativen Kopf des Atomkomplexes. Seine strenge Führung beschleunigten unzweifelhaft das Projekt.

Zusammen mit Stalin baute Berija arbeitsfähige Entscheidungsstrukturen auf: Dem Ministerrat wurde die erste Hauptabteilung unterstellt und alle Ministerien, die an dem Problem arbeiteten, wurden dieser Abteilung untergeordnet, deren Leiter B.L. Vannikov wurde. Vannikov, der während des Krieges Minister für Munition war, genoß unter den Ministern des Landes unumstrittene Autorität. M.G. Pervuchin, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR und Minister der chemischen Industrie, wurde sein Stellvertreter. Ein weiterer Stellvertreter Vannikovs wurde A.P. Zavenjagin, dessen besondere Fähigkeiten in der Planung großer Fabriken und angeschlossener Städte lag (Magnitogorsk, Norilsk). Kurchatov erhielt das Recht, den Ministerrat der UdSSR und das Staatsoberhaupt direkt und ohne Vermittlung anzusprechen.

Als oberstes staatliches, geheimes Gremium wurde ein Spezialkomitee gebildet. Dieses Komitee bearbeitete die von Kurchatov und Vannikov vorgelegten Regierungserklärungen und legten Stalin den endgültig formulierten Text zur Unterschrift vor. Zu den Mitgliedern dieses Komitees gehörten Pervuchin, Vannikov, Zavenjagin, Vosnesensky, Kurchatov, Kapiza und später Malyshev.

Folgende Struktur der wissenschaftlichen Leiter wurde eingeführt: Chariton war für die Bombenkonstruktion und den Bau zuständig; Kurchatov selbst war außer der allgemeinen Leitung des Projektes für den plutoniumproduzierenden Uran-Graphit-Reaktor zuständig; Kikoin für die Diffusionsisotopentrennung, Bochwar für die Materialien, für die Konstruktionslegierungen der Reaktoren und für die Bombenladungen selbst. Diese Leiter waren verantwortlich für den Erfolg in den jeweiligen Abteilungen gegenüber dem Spezialkomitee, das heißt gegenüber Berija. Für jede Abteilung wurde eine Verwaltung geschaffen. Diese Struktur befreite uns Wissenschaftler – leider nicht Kurchatov und die Abteilungsleiter – von organisatorischen Sorgen, so daß die Arbeit schnell vorankam. Alle unsere finanziellen Forderungen wurden sofort erfüllt.

Die Repräsentanten des militärischen Stabes und Mitglieder des Politbüros, die nicht mit dem Atomproblem befaßt waren, wurden nicht in die Arbeit des Komitees einbezogen. Stalin erklärte diese Aktivitäten für geheim und Militäroffiziere hatten dort keinen Zutritt. Daraus folgte, daß der erste Atombombentest 1949 und der erste Wasserstoffbombentest 1953 für das Militär völlig unerwartet kam. Die »Übergabe« der Atombombe an die Armee, konkret an Marschall Shukov, war eine besondere Aktion Anfang der fünfziger Jahre nach Stalins Tod.

Seit Herbst 1945 wurden die Aktivitäten bezüglich der Atombombe weitreichend und schnell weiterentwickelt. Viele militärische und zivile Einheiten, Spezialisten und Arbeiter waren involviert. »Atomstädte« wurden in Regionen errichtet, in denen Uranvorkommen vermutet wurden. Die Menschen arbeiteten unermüdlich, hungernd und frierend auf dem Konstruktionsgelände, für eine schnelle Entwicklung der Atomindustrie sorgend, ohne Kenntnis darüber, wofür dieses Labor eingerichtet war.

Im Sommer 1945, noch vor den amerikanischen Bombenabwürfen geschahen zwei wichtige Ereignisse: 1. Berijas Agenten brachten eine Blaupause der amerikanischen Plutoniumbombe, die sich in der Vorbereitungsphase zum Test im Juli befand. 2. Ähnlich der amerikanischen Mission »Alsos« schickten auch wir Wissenschaftler nach Deutschland, die Uran, Dokumente und Spezialisten suchen sollten, die für uns nützlich waren, um die Uranproblemlösung zu beschleunigen.

Wir erkannten, daß es den deutschen Physikern eher als uns gelungen war, einen Uranmeiler zu entwickeln. Von der Atombombe war aber keine Spur. Mehrere deutsche Physiker und Ingenieure waren bereit, mit ihren Familien nach Rußland zu kommen, um bei uns zu arbeiten.

Die wichtigsten Ergebnisse erhielten wir in den folgenden Jahren von Nikolaus Riehl und Max Steenbeck. Riehl hat bei uns das erste Uranwerk gegründet und versorgte uns in den vierziger Jahren mit extrareinem Reaktoruran. Der weise Max Steenbeck entwickelte mit uns eine Gaszentrifuge für die Trennung der Uranisotope. Seine Arbeit war sehr wichtig, um den rechten Weg zu finden, was Kikoin mit seinen Kollegen Mitte der fünfziger Jahre gelang.

Wir im Labor N2, das später »Institut für Atomenergie« genannt wurde, hatten die Aufgabe, die Produktion des spaltbaren Materials für Atombomben wissenschaftlich zu begleiten, einschließlich des Projektierens und des Baus der dazugehörigen Werke bis hin zu ihrer Inbetriebnahme. Dazu gehörten die Entwicklung der Uranisotopentrennung und Plutoniumproduktion in den Uran-Graphit-Reaktoren. In unserem Institut wurden die ersten Uran-Graphit-Reaktoren, Diffusionskaskaden und elektromagnetischen Anlagen in Europa entwickelt und gebaut.

Diese Probleme wurden bis Mitte der fünfziger Jahre völlig gelöst. Dabei wurde die Physik der Atomspaltung experimentell und theoretisch breit entwickelt sowie die Neutronenphysik der Reaktoren selbst.

Einigen von uns drohte das Konzentrationslager

Unter Stalin war unser Laborleben vor dem ersten Test am 29. August 1949 nicht immer ungetrübt. Es wurde manches Mal geflüstert, daß, falls unsere Bombe beim Test nicht explodiert, einige von uns – und Kurchatov als erster – ins Gefängnis oder Konzentrationslager kämen. Dabei wurde angedeutet, daß die Ersatzpersonen, die unsere Arbeit dann fortsetzen sollten, bereits bestimmt waren. Der erfolgreiche Test befreite uns von dieser Unruhe.

Kurchatov als Sieger genoß danach unbestreitbare Autorität auf der höchsten Ebene unseres Staates. Bei Chariton in Arsamas-16 war die Arbeit am schwersten. Obwohl unsere erste Atombombe beinahe eine Kopie der amerikanischen war, mußte er nicht nur die ganze Physik der Explosion in Theorie und modellierenden Experimenten realisieren, sondern auch alle Probleme lösen, die aus der amerikanischen Blaupause heraus nicht erklärt werden konnten und insbesondere die Probleme, die die Sicherheit ihrer Wirkung betrafen.

Während dieser Arbeit hatten die Theoretiker unter Zeldovichs Leitung zusammen mit den Experimentatoren und Konstrukteuren bessere Lösungen gefunden. Sie wunderten sich darüber, warum Chariton die Realisierung dieser Lösungen verboten hatte. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung davon, daß Chariton einer amerikanischen Blaupause so genau wie möglich folgte.

Diese eigenen Lösungen wurden erst bei dem Atombombentest 1951 realisiert. Zur gleichen Zeit hatte der junge Sacharov zusammen mit seinem Lehrer, dem berühmten Theoretiker Tamm, selbständige Ideen bezüglich der Wasserstoffbombe entwickelt, für die es in Amerika kein Beispiel gab.

Am 12. August 1953 wurde die weltweit erste Wasserstoffbombe auf dem Versuchsgelände Semipalatinsk getestet. Ihr TNT-Äquivalent war »nur« 400 Tausend Tonnen. Zu der Zeit hatten die Amerikaner zwar Bomben mit stärkerer Sprengkraft, aber eben keine Wasserstoffbomben.

Nikita Chruschtschow, der zu der Zeit Generalsekretär der Kommunistischen Partei war, forderte: „Um in der Außenpolitik zu gewinnen, muß man das aus einer Position der Stärke tun.“

Einige Monate später, nach höchster Anstrengung von Sacharov und seinen Kollegen, wurde die Lösung für eine Superbombe gefunden. Am 22. November 1955 wurde sie getestet. Dieser Test bestätigte, daß Wasserstoffbomben unbegrenzter Leistung möglich und nicht zu teuer sind.

Nach diesem Test kam Kurchatov völlig niedergeschlagen zurück. Er sagte seinem Freund, dem Wissenschaftler Anatoli Aleksandrov: „Diese Waffe darf nie eingesetzt werden!“ Er wendete sich direkt an Chruschtschow mit der Bitte, ihn von der Leitung der Tests zu entbinden. Seine Bitte wurde erfüllt. Eine Woche danach war er voll von Ideen über die Anwendung der neuen Technik für das Wohl der Menschen und nicht gegen die Menschen!

Ich schließe nicht aus, daß es ihn all die Jahre quälte, mit der Waffe beschäftigt gewesen zu sein. Ich erinnere mich, wie begeistert er war und wie glänzend seine Augen waren, als wir zwei an einem Neujahrsabend in seinem Chefzimmer saßen und Sacharovs Idee über die Möglichkeit der gesteuerten Kernfusion besprachen, um die Menschheit, wie wir dachten, auf ewig von der Sorge um Brennstoffe zu befreien. Er beendete das Gespräch entflammt mit den Worten: „Nun wollen wir das neue Jahr nicht mit den Waffen, sondern mit der Friedensanwendung unserer Kenntnisse beginnen.“ Das war der 31. Dezember 1950.

Nach Stalin folgte der „Kampf gegen die Kapitalisten“

Die letzten vier Jahre seines Lebens (1956-1960) hat Kurchatov sehr viel dazu beigetragen, die Kontakte zwischen russischen und ausländischen Wissenschaftlern, die durch den Krieg und Stalins Isolationspolitik gestört waren, wieder aufzubauen. Er sorgte für den friedlichen Gebrauch der Atomenergie; in erster Linie für den Bau der Kernkraftwerke und für die Anwendung der ionisierenden Strahlungen in Wissenschaft und Medizin. Insbesondere sorgte er für die breite Entwicklung der gesteuerten Kernfusion zusammen mit den Wissenschaftlern aller Länder. Er reiste mit Chruschtschow nach England, hielt zwei Vorlesungen im englischen Kernwaffenzentrum Harwell, wo er zur Zusammenarbeit und zur Aufhebung der Geheimhaltung bezüglich der friedlichen Nutzung der Kernenergie aufrief.

Eineinhalb Jahre nach Kurchatovs Tod im Juli 1961 versammelte Chruschtschow im Kreml die ältesten Wissenschaftler, die die Physik und den Bau der Wasserstoffbombe führend entwickelt haben, und erklärte, daß er einen Vorsprung gegenüber den Amerikanern in bezug auf die Bombenentwicklung wünsche. Die Physiker sagten ihm, daß es realistisch sei, eine Wasserstoffbombe von 100 Megatonnen TNT Äquivalent zu bauen. Das erfreute ihn und er forderte die Realisierung, damit sie, wie er meinte, „wie ein Damoklesschwert über den Kapitalisten hängt“.

So eine Bombe wurde gebaut und am 30. Oktober 1961 zur Explosion gebracht. Sie hatte aber nur – nach einem Beschluß der Physiker – die Hälfte der Ladung, um die Zahl der unschuldigen Opfer auf der Erdkugel herabzusetzen, die von der in der Atmosphäre zerstreuten Radioaktivität an Krebs erkranken würden.

War denn diese Explosion ein Signal der Friedfertigkeit, über das die Parteigenossen und Chruschtschow selbst so viel sprachen und schrieben?

Sacharov wußte, wie die Waffenvorräte in unseren Arsenalen anwuchsen. Die Angst packte ihn, als ihm klar wurde, welche Folgen dieses, von ihm und seinen Kollegen geborene Ungeheuer in den Händen der Politiker haben könnte. Im Februar 1968 war ihm der Wahnsinn des Kalten Krieges klar, und er setzte sich an seinen Schreibtisch in dem geheimen Zentrum Arsamas-16 und schrieb sein berühmtes „Nachdenken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. Nach einigen Monaten wurden seine Gedanken in vielen Millionen Exemplaren gedruckt, in viele Sprachen übersetzt – außer ins Russische – und in der ganzen Welt gelesen und besprochen.

Sacharov sagte der Welt ganz offen und deutlich, daß die Menschheit an der Grenze ihrer Geschichte stehe. Die Katastrophe der totalen Vernichtung liege vor uns, ausgelöst entweder durch den Wahnsinn der Politiker oder durch einen fatalen Zufall. Die Atomwaffenvorräte überstiegen bereits zehnfach und mehr die Menge, die ausreicht, um alles Leben auf der Erdkugel zu vernichten. Er machte deutlich, daß die Menschheit größte Probleme zu lösen hätte, wie z.B. die Gefahr des explosionsartigen Bevölkerungszuwachses auf der Erde, aus dem wiederum der allgemeine Hunger resultiere; die Vergiftung unserer Umwelt; das Schwinden der Vorräte fossiler Brennstoffe; die Verbreitung von Dogmen statt wissenschaftlicher Erkenntnis. Er erklärte, daß vor dem Hintergrund dieser gesamtmenschlichen Probleme die Meinungsverschiedenheit in der Partei und die »Klassenwidersprüche« erblaßten. Alle diese Bedrohungen würden durch die Spaltung der Menschheit in zwei feindliche Lager – sozialistische Dikaturen und Kapitalismus – verstärkt. Deshalb, so meinte Sachararov, seien Konvergenz und friedliche Koexistenz notwendig.

Unterdessen ruinierten der Kalte Krieg und das Wirtschaftssystem der Sowjetunion unser Land. Schon zu Beginn der siebziger Jahre sahen die Parteileiter ihre Schwächen in der Staatsverwaltung. An den Toren der Werke erschienen die Aufrufe: „Wollen wir erfüllen … !“ „Wollen wir erreichen … !“ Die Zeitpunkte der Regierungsverordnungen wurden jedoch hintertrieben und in den Berichten über die Erfüllung wurde massiv betrogen. Mit Beginn der achtziger Jahre bekamen wir endlich an den Hochhäusern die Selbstverherrlichungen zu lesen: „Ruhm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion!“ Das war schon die Agonie der Partei.

Existiert eine Schuld der Wissenschaftler?

Danach folgte die Zeit, in der sogar der Generalsekretär der Partei – und nicht nur die vernünftigen Menschen aus allen Schichten des Volkes – verstand, daß das sowjetische Staatsverwaltungssystem und die sowjetische Außenpolitik sich überlebt hatten und das Land in den Abgrund führten. Es war Michail Gorbatschow, und es begann die Perestroika.

So haben die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki den Fall der bolschewistischen Diktatur beschleunigt, indem die Folgen während des Kalten Krieges die Sowjetwirtschaft überforderten.

Existiert aber nun doch eine Schuld der Wissenschaftler? Eine Schuld, die geerbt sein kann? Ich denke, daß der große Mathematiker unserer Zeit, Norbert Wiener, Begründer der Kybernetik, Recht hat. Er sagte ungefähr folgendes: „Der Wissenschaftler wird immer ein hilfloses Spielzeug in den Händen des gewissenlosen Politikers sein.“

Wenn wir Wissenschaftler für das Geschehene auch nicht schuldig sind, so haben wir doch die Pflicht, das Geschehene zu überdenken und die richtigen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.

Euch anwesenden Studenten und aller Jugend, der das ganze Leben und Glück des Schaffens noch bevorsteht, wünsche ich auf alle Fälle zu bedenken, daß die Wahrheit nur im Meinungsstreit gefunden werden kann, im Streiten ohne Zwang und ohne Diktat.

In den Naturwissenschaften ist nur wahr, was in vielen unabhängigen und freien Experimenten bestätigt ist. In der Politik sind die Experimente zu teuer, meist zu blutig, um sie zu wiederholen. Euer Volk hat die zwölfjährige Diktatur Hitlers überlebt, unser Volk die siebzigjährige bolschewistische Diktatur. Beide überlebte Diktaturen und die Atomwaffenrealitäten haben uns gezeigt, daß es nur zwei Wege gibt: entweder die parlamentarische offene Gesellschaft, in der die Wahrung der Menschenrechte gesichert ist, oder das allgemeine Chaos und der Tod.

Und denen unter Euch, die sich entschlossen haben, sich der angewandten Physik zu widmen, kommt die edle Aufgabe zu, die Kenntnisse, die wir durch die Waffenentwicklung erworben haben, für das Wohl der Menschen zu verwenden. In der Gegenwart müssen die Atomkraftwerke vervollkommnet und ihre Sicherheit gesteigert werden. Leider wird ihre Radioaktivität immer beunruhigen.

Doch wunderbar ist die Natur!

Die Fusion der leichten Atomkerne, die uns die ungeheure Wasserstoffbombe geschenkt hat, eröffnet uns gleichzeitig den Weg zu den saubersten Energiequellen. Unsere Pflicht ist es, diesen Weg weiterzugehen, so kompliziert er uns auch erscheint, um wohlbehaltenes Leben auf der Erde zu versorgen und vor Atomkriegen und sozialen Katastrophen zu bewahren.

Wollen wir diesen Weg gehen!

„Ihr drängt euch zu! Nun gut, so mögt ihr walten …. Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert. Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage. …“

(J. W. Goethe: Faust)

Dr. Igor N. Golovin

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/2 Hiroschima und Nagasaki, Seite