W&F 1999/3

Begrenzte Menschenrechts(ver)suche in Osttimor

Die nächsten Wochen sind entscheidend

von Rainer Werning

Läge das unwirtliche und gebeutelte Osttimor irgendwo in Europa, hätte es durchaus Chancen gehabt, von bombengelaunten »humanitären Interventionisten« zumindest ins Visier genommen zu werden. So aber hatte es das historische Pech, jahrelang nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen zu werden. Das soll sich jetzt ändern.

Die »Nelkenrevolution« in Portugal vor 25 Jahren war für seine Kolonien das Fanal zum letzten Gefecht eines verlustreichen Unabhängigkeitskrieges. Was in Afrika Angola, Mozambik und Guinea-Bissao glücken sollte – zumindest die Eigenständigkeit und staatliche Souveränität zu erlangen –, blieb in Lissabons südostasiatischer Kolonie Osttimor ein bis heute andauernder Alptraum. Nachdem auch dort die letzten portugiesischen Kontingente abgezogen worden waren, genoss Osttimor gerade mal eine neuntägige Unabhängigkeit: Am 7. Dezember 1975 besetzten indonesische Truppen die Region, die sich Jakarta ein Jahr später als 27. Provinz Indonesiens einverleibte.

Genozid im Quadrat der Heimlichkeit

Bis heute betrachten die Vereinten Nationen diese Annexion als völkerrechtswidrig. Doch Menschenrechte sind teilbar, wenn und solange sich die Interessen der »westlichen Wertegemeinschaft« auf Wichtigeres konzentrieren. Was lag da näher, als sich mit der Regierung des bevölkerungsreichsten Landes Südostasiens und bedeutsamsten Verbündeten in der Region ins Benehmen zu setzen. Schließlich war in Jakarta mit Präsident Suharto ein Mann am Ruder, der seinen Aufstieg (1965/66) zur Macht buchstäblich auf Leichenbergen ermordeter »Kommunisten«, »Aufrührer« und »Separatisten« erklommen hatte. Mit Jakarta ließen sich vorzüglich Geschäfte machen. Groß war der indonesische Markt und größer noch waren die Begehrlichkeiten westlichen Kapitals, dort kräftig zu hecken und Suhartos angepeiltes Aufrücken in den Club der sogenannten Tigerstaaten zu unterstützen. Für alle Beteiligten ein lukratives Geschäft bis sich die Wirtschafts- und Finanzkrise mit einer politischen und Legitimitätskrise verband und den Despoten im Mai vergangenen Jahres zum Rückzug zwang.

Bis dahin war Osttimor kein Thema. Fernab medialen Interesses konnte es tief in den Morast systematischer Militarisierung und Pauperisierung sinken, ohne dass sich wirksamer Protest politischer MenschenrechtsapologetInnen erhob. Amnesty international und andere Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen gehen davon aus, dass über 200.000 der annähernd 850.000 EinwohnerInnen zählenden Bevölkerung Osttimors infolge der indonesischen Besatzung ums Leben kamen. „In Prozentzahlen ausgedrückt“, so der Anthropolge Shepard Forman, „handelt es sich hier um die wohl schrecklichste Verletzung von Menschenrechten in diesem Jahrhundert. Neben der Zerstörung menschlichen Lebens ist ein ganzer »Way of Life« vernichtet worden.“ Heute weist Osttimor die weltweit höchste Kindersterblichkeitsrate auf, mindestens 70 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt. Bereits im Juli 1994, als das Wort Wirtschaftskrise in Indonesien und der gesamten Region Südostasien noch ein Fremdwort war, konstatierte ein UN-Bericht: „Etwa 82 Prozent der Bevölkerung (Osttimors – R.W.) leben in Armut und über 70 Prozent der Bevölkerung unter 30 Jahren sind arbeitslos.“

Nun war es ausgerechnet der langjährige Suharto-Intimus und dessen Nachfolger, Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie, der Anfang des Jahres in die Offensive ging. Die Regierung, so Habibie in seiner verblüffenden Botschaft, sei sich bewusst, dass ihr internationales Ansehen unter dem Osttimor-Konflikt leidet. Überdies belaste dieser Konflikt den Staatshaushalt, schließlich gäbe es in den anderen 26 Provinzen ohnehin genügend soziale und wirtschaftliche Probleme. Dann fragte sich Habibie, was Osttimor eigentlich Indonesien anzubieten habe und lieferte die Antwort gleich mit: „Reichtum an natürlichen Rohstoffen? Nein. Menschliche Ressourcen?. Nein. Technologie? Nein. Steine? Ja.“ Um nicht länger ein Stein im indonesischen Schuh zu sein, solle Osttimor noch vor der Jahrtausendwende selbst darüber entscheiden, ob es Autonomie, Unabhängigkeit oder den Verbleib im indonesischen Staatsverband wünsche. Da hatte ein Mann der Suhartos Politik bis zum bitteren Ende mitgestaltet hatte die Chuzpe, eine Kehrtwende um 180 Grad zu verkünden und auf einmal kampflos preiszugeben, was seinem Vorgänger und der Militärkaste so lange ein Herzensanliegen war. Das macht stutzig.

Herausgefordert durch diese unerwartete Bewegung in der Osttimor-Politik waren über Nacht zwei Akteurinnen: Die osttimoresische Widerstandsbewegung Fretilin und die UN. Jahrelang und besonders in Zeiten bröckelnder internationaler Solidarität hatte die Fretilin politisch, diplomatisch und militärisch alles daran gesetzt, sich Gehör und Hilfe zu verschaffen. Erst die Verleihung des Friedensnobelpreises an José Ramos Horta und den osttimoresischen Bischof Carlos Belo im Jahre 1996 rückte den gottverlassenen Zipfel und die zermürbte Fretilin mit ihrer Falintil-Guerilla ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Mit der Habibie-Erklärung geriet sie aber auch in Zugzwang; die Fretilin muss beweisen, dass sie als Garantin eines friedlichen Wandels in Osttimor fungieren kann. Das ist schwer, solange die andere Seite ihrerseits alles daran setzt, den Friedenspfad mit Stolperdrähten zu versehen. Dennoch bietet sich jetzt für die Fretilin und den Nationalen Widerstandsrat für Osttimor (CNRT) unter seinem (noch in Jakarta unter Hausarrest stehenden) Präsidenten Xanana Gusmao die historische Chance, ihr Ziel, die Unabhängigkeit Osttimors, zu verwirklichen.

Dornenreiche Friedenssuche

Bereits im April entstand in Jakarta eine Kommission für Frieden und Stabilität, in der GegnerInnen und BefürworterInnen der Unabhängigkeit Osttimors im Beisein von VertreterInnen der Nationalen Menschenrechtskommission und indonesischer Sicherheitskräfte über die Modalitäten des von den UN zunächst auf den 8. August angesetzten, dann um zwei Wochen verschobenen Referendums beraten. Flankiert werden diese Verhandlungen von Treffen im Rahmen des Dialog- und Versöhnungsprogramms, das auf Initiative der katholischen Kirche Osttimors zurückgeht. Einen politisch-diplomatischen Punktsieg konnte die Fretilin Ende Juni verbuchen, als José Ramos Horta erstmalig seit der Annexion Osttimors nach Jakarta reisen und dort seinen Genossen Gusmao wiedersehen konnte. Indonesiens Außenminister Ali Alatas hatte wenige Tage vorher noch erklärt, Horta die Einreise zu verweigern. Einen weiteren Erfolg konnten die BefürworterInnen der Unabhängigkeitsbewegung verbuchen: Seit letzten Monat haben immerhin internationale Beobachter der UN Assistance Mission to East Timor (UNAMET) in der Hauptstadt Dili Quartier bezogen.

Mehrere Faktoren erschweren allerdings eine tatsächlich friedliche Krisenlösung in Osttimor. Die bis zum Referendum verbleibende Zeit ist zu kurz um solche heiklen Fragen wie einen Waffenstillstand und die Entwaffnung der Protagonisten, das Wahlprozedere und die Perspektiven der unterliegenden Seite umfassend zu klären. Je näher der Tag der Abstimmung rückt, umso mehr Waffen kommen in Umlauf, mit denen sogenannte »integrationistische« – sprich: pro-indonesische – Milizen, die binnen weniger Wochen von knapp 20.000 auf mittlerweile etwa 50.000 Mitglieder angewachsen sind, Front gegen ihre Widersacher machen. Bereits die ersten Wochen des UN-Personals in Osttimor haben den dortigen UN-Chef Ian Martin gelehrt, wie dornenreich der Weg zum Frieden ist. Sein Team wurde selbst mehrfach drangsaliert, gar tätlich angegriffen und Zeuge, wie im Auftrag – zumindest mit Billigung – indonesischer Sicherheitskräfte diese marodierenden Milizen systematisch gegen alle vorgehen, die für Unabhängigkeit optieren. Plünderungen, das Niederbrennen von Häusern und Vergewaltigungen sind vor allem im Landesinneren an der Tagesordnung. Schon jetzt ist absehbar, dass etliche WählerInnen aus Furcht vor Repressalien gegen ihr Gewissen und ihre Überzeugung stimmen bzw. sich an den Wahlurnen kurzerhand für die »Integrationisten« entscheiden werden. Makaber ist überdies die Vorstellung, dass ausgerechnet indonesische Sicherheitskräfte mit der ordnungsgemäßen Überwachung des Referendums betraut sind und die vergleichsweise kleine – dazu unbewaffnete – Schar ausländischer BeobachterInnen und UNAMET-VertreterInnen schier überfordert ist, ihre Mission zu erfüllen.

Darüber hinaus bleibt die Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegung mit dem Dilemma konfrontiert, einen mit osttimoresischen Kadern besetzten Verwaltungsapparat aufbauen zu müssen. Als langjähriges Objekt externer Kolonialisierung und interner Kolonisierung ist heute nahezu der gesamte Wirtschafts- und Handelssektor Osttimors von indonesischen Geschäftsleuten aus Sulawesi, Java und anderen Inseln dominiert, die ihrerseits ein Interesse daran haben, dass mit dem Status quo auch ihre Pfründe erhalten bleiben. Und erst ein den Namen verdienendes Bildungs- und Ausbildungssystem gestattet es der Fretilin und dem CNRT einer staatlichen Unabhängigkeit auch eine Eigenständigkeit im sozialpolitischen und wirtschaftlichen Bereich folgen zu lassen. Auf jeden Fall wären sie auf dauerhaft entspannte und gute Beziehungen mit Jakarta und Canberra angewiesen. Erst in den vergangenen Monaten hat der australische Außenminister Alexander Downer durchblicken lassen, dass man seine frühere Osttimor-Politik revidieren werde. Um an noch unerschlossene Erdölquellen heranzukommen, hat auch Canberra Jakarta jahrelang ungeniert hofiert und alles getan, um dieses gute bilaterale Verhältnis nicht von Osttimor überschatten zu lassen.

Instrumentalisierungsversuche

Schließlich laufen die Friedensbemühungen Gefahr, politisch instrumentalisiert zu werden. Sollte die Gewinnerin der Parlamentswahlen vom 7. Juni, die Indonesische Demokratische Partei-Kampf (PDI-P), im Herbst die Präsidentin stellen, wird man sich seitens der Fretilin und des CNRT auf einiges gefasst machen müssen. Megawati Sukarnoputris hat mehrfach erklärt, dass sie gegen eine Eigenständigkeit Osttimors ist. Da steht sie übrigens ganz in der Tradition ihres ebenso charismatischen wie schillernden Vaters und Staatsgründers Sukarno, der sich in seiner Außenpolitik als gewichtige Stimme in der gerade entstehenden Bewegung der blockfreien Staaten antikolonialistisch und antiimperialistisch gebärdete, doch innenpolitisch tunlichst darauf bedacht war, keine wie auch immer gearteten zentrifugalen Kräfte zu dulden. Als vehementer Verfechter des javanisch gelenkten Einheitsstaates ging er hart gegen sezessionistische Bestrebungen in Aceh (Nordsumatra) vor und legte den Grundstein dafür, dass auch Irian Jaya (Westpapua) in den indonesischen Staatsverband integriert wurde.

In Aceh hatte sich bereits 1950 organisierter Widerstand gegen Jakarta formiert, wobei es damals um die Schaffung eines islamischen Staates ging. Später dann übernahm das sogenannte Free Aceh Movement die Forderung nach Unabhängigkeit, der jedoch von den Streitkräften Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre durch großangelegte Aufstandsbekämpfungs-Programme begegnet, allerdings bis heute nicht endgültig der Riegel vorgeschoben wurde. In Irian Jaya war die Zentralregierung in Jakarta seit 1963 bestrebt, durch manipulierte Wahlen eines etwa 1.000-köpfigen Papua-Ältestenrates die schrittweise Anbindung der Region an Indonesien zu betreiben. Später dann entsandte der Sukarno-Nachfolger Suharto seine Soldateska zur »Befriedung« der zwischenzeitlich entstandenen Organisation Freies Papua (OPM) nach Irian Jaya, eine Politik, gegen die auch Megawati nie kritische Einwände erhoben hatte.

Bis zu ihrem Zerwürfnis und offenen Bruch mit Suharto im Jahre 1996 (dieser hatte sie unzeremoniell ihres Postens als Vorsitzende der PDI entheben lassen) war sie Abgeordnete des domestizierten Parlaments und nie durch regimekritische Äußerungen aufgefallen. In all diesen Jahren hat Megawati von Suharto zumindest die Lektion gelernt, dass ohne, gar gegen die Militärs kein Staat zu machen ist. Auffällig war denn auch der militärfreundliche Tenor der Sukarno-Tochter während des gesamten Wahlkampfs in den vergangenen Wochen: Mehrfach lobte sie namentlich den mächtigsten Mann im Lande, den Verteidigungsminister und Oberkommandierenden der Streitkräfte General Wiranto, der es verstanden habe, das Militär aus der Politik herauszuhalten (sic!) und Stabilität zu garantieren. Im Gegenzug haben Wiranto und andere (Ex-)Generäle der nunmehrigen Präsidentschaftsanwärtin souffliert, ein unabhängiges Osttimor könnte den Unabhängigkeitsbestrebungen in Aceh und Irian Jaya Auftrieb geben und den Bestand Indonesiens gefährden.

Es bedarf keiner Fügung des Herrn um dem Bischof von Dili Carlos Belo zu folgen, der kürzlich erklärte: „Unabhängigkeit ist kein Bett aus Rosen. Die Bevölkerung muss sich gründlich darauf vorbereiten und sich über die Risiken im klaren sein“.

Postscript

Angesichts der jüngsten Entwicklungen wurde erst vor wenigen Tagen bekannt, dass die USA, Australien und einige europäische Staaten eine bewaffnete UNO-Friedenstruppe für Osttimor aufzustellen gedenken. Allerdings soll diese dort erst nach dem nunmehr für 30. August geplanten Referendum einrücken um im Falle einer Ablehnung der von Jakarta vorgeschlagenen Autonomie und eine Abzugs der Besatzungstruppen Unruhen zu verhindern. „Sollten die Osttimoresen sich für die Unabhängigkeit entscheiden, wird die UNO Zug um Zug die Verantwortung für das Gebiet übernehmen, und dazu gehört auch irgendein Sicherheitsarrangement“, erklärte Australiens Außenminister nach Gesprächen mit seinen AmtskollegInnen Madeleine Albright und Jaime Gama (Portugal). Mit der Friedenstruppe, über deren Entsendung der UN-Sicherheitsrat entscheiden muss, reagieren Australien als Nachbar, der Indonesiens Besatzungspolitik stets gebilligt hatte, die USA, ohne deren Billigung Indonesien Osttimor nie hätte besetzen können, und die ehemalige Kolonialmacht, die sich nach wie vor zuständig fühlt, mit erheblicher Verspätung auf die eskalierten Gewalttätigkeiten proindonesischer Milizen. Die osttimoresische Unabhängigkeitsbewegung fordert seit Wochen, bereits die jetzige zivile UNO-Mission militärisch zu verstärken. Das jedoch wird seitens des Westens abgelehnt – mit dem erstaunlichen Argument, jetzt schon Truppen zu stationieren oder auch nur allzu laut über eine künftige Friedenstruppe zu sinnieren, könnte die proindonesischen Milizen provozieren, müssten diese doch den Eindruck bekommen, die UNO gehe von deren Niederlage im Referendum aus. Glücklich, wer da wenigstens in Europas südöstlichen Fransen nistet und als UCK-Freiheitskämpfer von einer selektiven Menschenrechtspolitik profitiert …

Dr. Rainer Werning ist Vizepräsident des International Forum for Child Welfare (IFCW) und Geschäftsführer der schwerpunktmäßig in den Südphilippinen engagierten Freiburger Stiftung für Kinder.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/3 Tödliche Bilanz, Seite