Beobachtungen: Zum Verhältnis Bundeswehr und Gesellschaft
von Jutta Koch
Eigentlich müßte zum Thema derzeit heftig diskutiert werden, weil sich politisch viel bewegt hat, was Konsequenzen für das bezeichnete Verhältnis erwarten läßt: Die Bundeswehr hat in den letzten fünf Jahren Erfahrungen bei Einsätzen in Asien, Nahost, Afrika und Südosteuropa gesammelt; Krieg ist als mögliche Konsequenz gescheiterter Politik – zwar jenseits unserer Grenzen, aber doch – wieder deutlicher ins Bewußtsein geraten. International gibt es eine wichtige Debatte über Vorteile und Dilemmata humanitär begründeter Interventionen, über die Rolle der VN, über die Zukunft traditionellen und »robusten« Peacekeepings, über kollektive versus kooperative Sicherheit.
Unsere nationale Debatte zum Thema Bundeswehr und Gesellschaft konzentriert sich im wesentlichen auf das fallweise Aufflackern der Frage Wehrpflicht versus Berufsarmee. Weshalb diese Beschränktheit auf eine zwar nicht unpolitische, aber doch spezielle Frage?
Es zeichnet sich keine Neigung relevanter gesellschaftlicher Akteure ab, die aktuellen sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen auch in Deutschland so zu problematisieren, daß öffentliche Resonanz erzeugt werden könnte (Ausnahmen sind einige Bemühungen seitens der Bündnis 90/Die Grünen-Fraktion, welche z.B. zur NATO-Osterweiterung ein »Expertengespräch« und eine Anhörung initiiert hat).
Warum diese »ongoing non-debate« (Lutz Unterseher)? Sie setzt die Nachkriegstradition fort, die mit dem Einstieg der entstehenden Bundeswehr in eine bereits mit Doktrinen versehene NATO begründet wurde. Da gab's aus Regierungssicht nichts mehr zu diskutieren, und die Opposition fügte sich. Ein weiterer Grund mag in der Diffusität und Unübersichtlichkeit der internationalen Situation liegen; ein dritter in dem Dilemma zwischen dem Druck, humanitär zu intervenieren und der Sorge, damit einer militärfixierten Außenpolitik Vorschub zu leisten. Daß beide eine komplette politische Lähmung erzeugen, ist unplausibel.
Vielleicht können Vermutungen weiterhelfen, die sich besonders auf die deutschen Verhältnisse beziehen:
- Das Militär ist seit 1990 in Deutschland unbedeutender geworden. Das läßt sich am deutlich verringerten Umfang der Streitkräfte wie auch an dem absolut und relativ gesunkenen Verteidigungshaushalt ablesen. Überdies sind Soldaten weniger sichtbar im Stadtbild; die Auflösung etlicher Standorte hat regionale wirtschaftliche Probleme aufgeworfen.
- Es gibt heute in Deutschland ein großes Ausmaß an Interesselosigkeit gegenüber den Fragen, welche die Streitkräfte betreffen. Anders verhält sich das nur bei den Soldaten selbst, den Angehörigen und beim harten Kern sicherheitspolitisch interessierter oder befaßter Menschen in der Bundesrepublik – wohl nicht viel mehr als einige hundert Personen. Die Debatte ist Experten-Angelegenheit (der männliche Terminus beschreibt wohl den empirischen Sachverhalt).
- Es fehlen heute die mobilisierenden Streitfragen, welche die breitere Öffentlichkeit – KritikerInnen und die Friedensbewegung – in den 1980er Jahren antrieb: Folgen des NATO-Doppelbeschlusses, Modernisierung atomarer Kurzstrecken auf westdeutschem Territorium waren Themen, welche sehr strittig öffentlich behandelt wurden. Zum Streiten gab es allen Anlaß, verbargen sich hinter ihnen doch grundlegende Differenzen zwischen USA und Bundesrepublik über Kriegführung auf deutschem Territorium.
Zudem gibt es aber noch zwei konkret angebbare – und kritisierenswerte – Gründe, weshalb sicherheitspolitische Kontroversen in den 1990er Jahren in Deutschland einfach nicht aufkommen. Der eine Grund ist politischer, der andere gesellschaftlicher Natur. Und beide weisen auf Mängel in der Struktur unserer Öffentlichkeit hin:
Erstens ist es dem seit gut vier Jahren als Verteidigungsminister amtierenden Volker Rühe gelungen, die Darstellung seiner Politik in die von den Deutschen mehrheitlich gewünschte »Kultur der Zurückhaltung« einzufügen. Ob sie das faktisch tut, ist von untergeordneter Bedeutung.
Der politische Konsens, den Rühe vor allem mit der Mehrheit der eher konservativen sozialdemokratischen Abgeordneten, die sich zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Themen äußern, erarbeitet hat und dessen Vorteile er zu betonen nicht müde wird, ist eine Säule dieser auf Harmonie der Standpunkte gerichteten Politik.
Eine wesentliche Voraussetzung für diese »Harmonie« ist die inhaltliche Zerrissenheit der SPD in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das betrifft sowohl Personen als auch Themen und Konzepte: Wenn Karsten Vogt die NATO-Osterweiterung enthusiastisch begrüßt, Peter Glotz sie als gefährlichen Unsinn kritisiert; wenn 1993/94 gegen die Teilnahme deutscher Soldaten an Aufklärungsflügen über Bosnien vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, heute aber die gleichberechtigte deutsche Teilnahme am SFOR-Einsatz begrüßt wird.
Da müssen sich auch geneigte Beobachter fragen: Wer verkörpert die sicherheits- und verteidigungspolitische Willensbildung? Hat die Sozialdemokratie ein Konzept, was sich von dem Rühes wesentlich unterscheidet? Versucht sie ein solches in der erwähnten Kommission zu formulieren? Wenn ja, warum ist dann die Kommissionsarbeit so vergleichsweise geräuschlos, um nicht zu sagen untransparent? Welche Rolle spielen die weiteren Gliederungen der Partei, welche die Fraktion?
So gravierende Unterschiede der Positionen, obwohl (oder weil) die Partei kaum mitdiskutiert, machen es unwahrscheinlich, daß es der SPD – bei ihrer Tradition der Verbindung kritischer und affirmativer Aspekte in der Verteidigungspolitik – gelingen wird, ein politisch wie militärisch stimmiges, auch Außenstehende überzeugendes sicherheitspolitisches Konzept zu formulieren, das selbstbewußt Akzente setzt, ohne in Provinzialität zu verfallen.
Die Oppositionsfraktionen unterziehen sich nicht der Mühe, konzeptionelle Alternativen zu formulieren.
Die politische Harmonie im Parlament ist also nicht nur ein Erfolg Rühescher Politik, sondern auch das Ergebnis der – bestürzenden – Tatsache, daß sich die Oppositionsfraktionen nicht der Mühe unterziehen, konzeptionelle Alternativen zu formulieren. Das sein zu lassen fällt SPD und Bündnis 90/Die Grünen auch deshalb leicht, weil Rühe leise und gesprächsbereit agiert.
Die »Kultur der Zurückhaltung« spiegelt sich vor allem im terminologischen Reglement des Verteidigungsministeriums. Begriffe, die an Kriegsführung, Todesopfer gemahnen, sind verbannt zugunsten einer sprachlichen Kodifizierung, die sich von jener der kritischen Friedensforschung kaum mehr unterscheidet. Konfliktprävention, Friedensstabilisierung und Multinationalität unter Einbeziehung des Partners Rußland signalisieren ein Verschwinden des Militärs aus der Verteidigungspolitik. Deshalb konnte Rühe auch die Interview-Frage der SPIEGEL-Redakteure nach der Anzahl deutscher Bataillone im kommenden SFOR-Einsatz im Brustton der Überzeugung zurückweisen, diese Frage sei ihm „zu militärisch“.
Das ist die Essenz von Rühes Politik: Über Militärisches lohnt sich nicht mehr zu sprechen. Ob die Militärpolitik den deklarierten Vorstellungen entspricht, ob es nicht andere Konzeptionen gibt, die akzeptablere politische Folgen mit verhältnismäßig geringerem Mitteleinsatz das gewünschte Ergebnis erzielen hülfen, interessiert nicht mehr so sonderlich.
Der zweite Grund für die Abwesenheit sicherheitspolitischer Kontroversen ist ein sozialer: Sicherheitspolitische Themen scheinen in der deutschen Diskussionskultur nur dann öffentliche Resonanz zu erzeugen, wenn sie an absolute moralische Positionen geknüpft werden.
Das ist das Problem der grünen Debatte, deren antimilitaristische Traditionen sie auf den Holzweg führen, militärisch gestützte Politik schon »an sich« für schlecht zu halten – militärische Interventionen sind antimoralisch. Wenn nur ein solches Argumentationsmuster zur Verfügung steht, wenn keine Abstufungen vorstellbar sind, dann sind die Kritiker jener Position – die, wie Joschka Fischer, anläßlich der Morde an schutzlosen Menschen in der VN-"Schutzzone« Srbrenica ihre antiinterventionistische Position revidierten – »gezwungen« auf NATO-Kurs einzuschwenken.
Diese Alles-oder-Nichts-Strategie trägt dazu bei, daß über konzeptionelle Lehren aus erfolgreichen Peacekeeping-Operationen kaum gesprochen wird.
Denn auch die Realos denken schwarz-weiß, haben sich nie ernsthaft der politischen wie intellektuellen Herausforderung unterzogen, eine sicherheits- und verteidigungspolitische Position zu formulieren, die Kritik mit Konsistenz und ihrem Streben nach Regierungsübernahme selbstbewußt verbindet. Wenn man so etwas vermeidet, macht man sich politisch extrem angreifbar, und führt willentlich die Situation herbei, im Regierungsfalle eine christdemokratische Verteidigungspolitik fortzuführen.
Diese Alles-oder-Nichts-Strategie ist nicht nur politischer Hazard, sondern trägt maßgeblich dazu bei, daß in der deutschen Öffentlichkeit über konzeptionelle Lehren etwa aus Somalia und Bosnien (aber auch aus erfolgreichen »traditionellen« Peacekeeping-Operationen wie UNOMOZ in Mozambique) kaum gesprochen wird.
Wäre es denn nicht eine angemessene Konsequenz aus der deutschen Geschichte, kontrovers zu bereden, welche sinnvollen militärischen Aufgaben deutsche Soldaten bei künftigen internationalen Einsätzen im Auftrag der VN übernehmen sollten? Ist denn nicht die selbstbewußte Teilnahme an »traditionellem« Peacekeeping, der militärische Schutz von Konvois, der militärische Schutz von VN-Schutzzonen, das frühzeitige militärische »preventive deployment« in Krisensituationen, die zu eskalieren drohen, notwendig? Oder hat eine Konzeption, die an Bewahrung/Stabilisierung/Schutz ausgerichtet ist, zu wenig Glamour?
Der geeignete Ort für Streit über diese Themen ist auch das Parlament. Dort würde es – wenn die Abgeordneten sich so ein Stück konzeptioneller Verteidigungspolitik (zurück)erobert hätten – dann auch Sinn machen, über Aufgaben, Größe und Ausrüstung der Krisenreaktionskräfte zu reden, anstatt Zahlen von 50.000 Mann plus einfach hinzunehmen. Dies ergäbe für interessierte Journalisten auch den Anlaß zur hintergründigen Berichterstattung…
Das Parlament ist als Ort einer öffentlichen Auseinandersetzung mit konzeptioneller Perspektive wiederzuentdecken. Dieser Weg verriete auch ein größeres politisches Selbstbewußtsein, als es die Durchsetzung der NATO-Osterweiterung anzeigt: Für die hat sich Rühe, zum großen Ärger der wichtigen Partner, in der NATO seit 1993 eingesetzt; seit dem abrupten Schwenk der USA im Herbst 1994 auf die Rühe-Position ist sie im Prinzip beschlossene Sache. So kam diese Politik via NATO als Fait accompli in der Bundesrepublik an. Eine parlamentarische Debatte hat sich erübrigt, oder?
Jutta Koch ist freie Publizistin und Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag.