W&F 2011/2

Bewegungslos in die Intervention

Das neue Bild vom Krieg

von Johannes M. Becker

Unter dem Titel »Trotz Umfragehoch. Kriegsgegner im Bewegungstief« hat sich Peter Strutynski in W&F 3-2010 mit der Mobilisierungsschwäche der Friedensbewegung auseinandergesetzt und Vorschläge entwickelt, um „wieder die Initiative zu gewinnen“. Johannes M. Becker vergleicht die »Bewegungslosigkeit« der letzten Jahre mit der »Massenbewegung« der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre. Was ist seitdem passiert? Becker versucht eine Antwort in neun Punkten.

Es ist schon eigenartig. Da muss selbst der Verteidigungsminister zugeben: Deutschland führt in Afghanistan Krieg. Einen Kriegseinsatz, den der Deutsche Bundestag regelmäßig mit gewaltiger Mehrheit billigt: Zuletzt stimmten Ende Februar 2010 429 (von 622) Abgeordnete gar für eine Aufstockung des deutschen Kontingents. Lediglich 111 Deputierte stimmten dagegen, bei 46 Enthaltungen. Das Abstimmungsverhalten des deutschen Parlamentes steht im krassen Gegensatz zur Meinung des Volkes, das fast mit dreiviertel Mehrheit für einen Abzug aus Afghanistan ist. Mehrheiten gegen eine Regierungspolitik, die selbst in den Hochzeiten der Friedensbewegung der 1980er Jahre gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen nur punktuell erreicht wurden. Doch während damals Millionen auf die Straße gingen, bleiben die Zahlen bei Antikriegdemonstrationen zur Zeit im maximal fünfstelligen Bereich. Warum gehen nicht mehr Menschen für den Frieden auf die Straße? Ich versuche eine Antwort in zehn Punkten.

Seitenwechsel

Eine wichtige Ursache für die Bewegungslosigkeit im friedenspolitischen Bereich liegt in der Tatsache begründet, dass es gerade die SPD und die Grünen waren, die die Kriegseinsätze in Jugoslawien (1999) und Afghanistan (2001) beschlossen. Zumindest die Grünen hatten sich Anfang der 1980er Jahre auch als Friedenspartei konstituiert. Die SPD hatte sich, nachdem sie 1982 von Kohls schwarz-gelber Koalition aus der Regierungsverantwortung gedrängt worden war, in den Reihen der »Nach«rüstungsgegner wiedergefunden. Undenkbar indes, dass der Konservative Helmut Kohl gegen eine Phalanx von SPD, Grünen und (damals) PDS eine Teilnahme am Bombardement gegen Jugoslawien befohlen hätte. Bundeskanzler Schröder (SPD) hingegen bezeichnete 2001 die „Enttabuisierung des Militärischen“ als eine entscheidende Leistung seiner ersten Regierungszeit.

Neue Kriegsbegründungen

SPD und Grüne führten im Parlament wie in den Medien vermeintlich starke Argumente an, um in den Krieg ziehen zu können, Argumente, die den Sozialen Bewegungen den Atem nahmen. Da war im Zusammenhang mit dem Jugoslawienkrieg von 1999 die Keule von einem »Auschwitz«, das sich nicht wiederholen dürfe (Außenminister Fischer) und weshalb gerade Deutschland in Jugoslawien intervenieren müsse. Da fiel die Regierung auf völlig übertriebene Opferzahlen und auf »Hufeisenpläne« (Verteidigungsminister Scharping) herein.1 Dies führt zu der Frage, warum die rot-grüne Koalition, gerade ein paar Monate im Amt, genau dies unternahm. Warum wurden die zahlreichen außer- wie innerparteilichen MahnerInnen gleichsam bewegungsunfähig gemacht? Warum werden bis heute nicht selbstkritisch die Analysen von Friedensbewegung und -forschung zur Kenntnis genommen, die beweisen, dass das massenhafte Morden erst nach Beginn des Bombardements begann?

SPD und Grüne, – nach 16 lähmenden Kohl-Jahren gerade erst ins Amt gekommen – wollten Gouvernabilität unter Beweis stellen, außenpolitische Verlässlichkeit und Berechenbarkeit.

Die neue Rolle »Großdeutschlands«

Nicht außer Acht gelassen werde darf – vom vorher Geschriebenen nicht zu trennen – auch das neue Gewicht des vereinten Deutschland in Europa. Die Sicht des Auslands auf das nun 82-Millionen-Volk war durchaus zwiespältig: Auf der einen Seite formulierten die herrschenden Kreise in Washington, Paris und London, ebenso wie in den Vereinten Nationen, Vorbehalte gegenüber dem neuen „The/Le Grossdeutschland“. Auf der anderen Seite wurde das Deutschland der rot-grünen Koalition eingeladen, »Verantwortung« zu übernehmen. Beteiligte sich die Kohl-Regierung am Zweiten Golfkrieg nach der Intervention des Irak in Kuwait 1991 lediglich mit Zahlungen in Milliardenhöhe, so war die Bundeswehr 1999 am so genannten Kosovo-Krieg, der sich in Wirklichkeit gegen die Republik Jugoslawien richtete, direkt militärisch beteiligt. Die Regierung Schröder/Fischer kam überdies Forderungen der Partnerländer nach, verhielt sich so also gleichsam bündnisgerecht.

Eine neue Militärstrategie

Bei aller Schwierigkeit zu beurteilen, was das Massenbewusstsein eines Volkes prägt: Zwei wichtige Veränderungen der Rahmenbedingungen, unter denen sich vor der Wende Sicherheitspolitik bewegt hatte, sollten bedacht werden:

Da ist zum einen die Wandlung der Rede von der »Verteidigung« hin zur »Wahrnehmung von Interessen« in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992. Hierzu die Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung: „Die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« (VPR) vom 26. November 1992, die der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe erlassen hat, stellen das erste offizielle Dokument dar, in dem mit der militärischen Zurückhaltung der Alt-BRD gebrochen wird. Deutschland wird zu einer »kontinentalen Mittelmacht mit weltweiten Interessen« erklärt. Angekündigt wird eine Kriegführung, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Alles, was möglicherweise negativen Einfluss auf die hiesige »hoch entwickelte Gesellschaft« haben könnte, erhält eine militärische Dimension.“ 2 Diese Neudefinition der Ziele deutscher Außen- und Sicherheitspolitik erfuhr ihre endgültige Fixierung im »Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr«.

Da ist zum anderen das neue NATO-Konzept (verabschiedet während des Bombardements auf Jugoslawien, anlässlich der 50-Jahr-Feier des Bündnisses im April 1999), in dem drei wesentliche Neuerungen fixiert sind:

– auch die NATO spricht nun nicht mehr von »Verteidigung« im Falle eines Angriffs auf ein Mitgliedsland, sondern von der »Wahrung von Interessen«;

– das Aktionsgebiet der NATO ist fortan nicht mehr auf den nordatlantischen Raum begrenzt; die Interessen werden global wahrgenommen;

– die NATO agiert notfalls auch ohne ein Mandat der Vereinten Nationen, d.h. selbst-mandatiert; der Jugoslawien- wie der Afghanistankrieg werden so – im ersten Falle im Nachhinein – zu legitimieren versucht.

Die Neuausrichtung der Militärpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist also eingebettet in die ihres weithin unhinterfragten Bündnis-Systems.

Veränderte Begrifflichkeiten

Die veränderten Begrifflichkeiten spielen eine weitere, sehr wichtige Rolle beim Versuch, die Eingangsfrage zu beantworten. Bleiben wir beim Jugoslawien- und Irak-Krieg, so machten es die dort Herrschenden den Interventionsbetreibern recht leicht. Der jugoslawische Präsident Milosevic und der irakische Präsident Hussein zählten beide international nicht zu den Sympathieträgern. Es konnte der Eindruck vermittelt werden, es gehe bei den Interventionen um die Beendigung von Diktaturen und um die Durchsetzung von Menschenrechten. Die Interventionsbefürworter versuchen seitdem, in das Völkerrecht eine »responsibility to protect« hineinzuinterpretieren, die Interventionen erlauben soll, wo bspw. die Spätfolgen des Kolonialismus oder die akuten Folgen des Neokolonialismus und der Globalisierung Bevölkerungen gegeneinander aufbringen. Es ist die Rede von »friedenserhaltenden« oder »friedenschaffenden« Maßnahmen. Von »Sicherheitsarchitektur« ist die Rede, wenn es um Aufrüstung geht. Das deutsche Lavieren der Jahre 2009/2010, ob es sich beim Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan (seit 2002) um einen „stabilisierenden Einsatz“, um „Wiederaufbauhilfe“ oder um „Krieg“ handele, beweist, dass es hier um ein sensibles Thema geht.

Thomas Gebauer von medico international schreibt in einer gerade erschienenen interdisziplinären Analyse zum Afghanistankrieg: „Nicht nur wurde die Außenpolitik Schritt für Schritt militarisiert, sondern umgekehrt auch militärisches Handeln politisch normalisiert. Dabei verwischte die Grenze zwischen Krieg und Frieden, was sich auch in den Begrifflichkeiten spiegelte, die zur Begründung der Auslandseinsätze angeführt wurden. Von Krieg jedenfalls war kaum noch die Rede. Stattdessen wurde interveniert, um humanitäre Korridore für Flüchtlinge zu schaffen (Kurdistan 1991), Hungernden beizustehen (Somalia 1993), ethnische Säuberungen zu unterbinden (Bosnien bis 1995, Kosovo bis 1999), den Terrorismus zu bekämpfen (Afghanistan 2001), der Vernichtung durch Massenvernichtungswaffen zuvorzukommen (Irak 2003), Außengrenzen zu sichern (Frontex seit 2004), vitale Transportwege zu schützen (Horn von Afrika ab 2001). Erneut machte die längst überkommen geglaubte Idee eines gerechten Krieges die Runde, von humanitären Bomben war gar die Rede, und so manchem galt die NATO bereits als bewaffneter Arm von amnesty international.“ 3

Und dann gerät auch recht schnell aus dem Blickfeld, dass – Beispiel Afghanistan – der nun intervenierende Westen die Taliban, Mudschaheddin und Bin Laden, und wie die Feindbilder im weitgehend ahnungslosen Medienbetrieb aktuell heißen, vor wenigen Jahren mit Geheimdienst-Millionen selbst aufgebaut hat – im Kampf gegen die offenbar drohende Sowjetisierung am Hindukusch.

Kriegseindrücke sollen vermieden werden

Auch die neue (u.a. von Innenminister Schily Ende der 1990er Jahre eingeführte) Strategie, Kriegsflüchtlinge »vor Ort« zu versorgen, d.h. die Krieg führenden Länder und ihre Bevölkerung nicht mehr mit den unmittelbaren Folgen ihrer Kriege zu konfrontieren, dient einem Ziel: Die Schwelle vor der bewaffneten Konfliktlösung soll weiter gesenkt werden, und die Menschen sollen von sozialen Bewegungen ferngehalten werden. Kamen in den frühen 1990er Jahren noch 400.000 oder 500.000 Flüchtlinge aus Jugoslawien nach Deutschland, so betrug deren Zahl im Krieg von 1999 weniger als 100.000. Von den 4,5 Millionen im Irak-Krieg Flüchtenden haben gerade einmal 60.000 den Sprung in eines der 27 EU-Länder geschafft. Auch Flüchtlinge aus dem derzeitigen Afghanistankrieg blieben bislang weitgehend aus. Es gibt, um beim Thema zu bleiben, in der Bevölkerung kein »Bild vom Krieg«.

»Denkfallen«

Ein weiterer Grund für den Fakt, dass die Menschen nicht auf die Straße gehen gegen die Verschwendung von Ressourcen für Rüstung, gegen Krieg, gegen Rüstungsexporte und vieles mehr, muss gesehen werden in einer Reihe von Denkfallen, die die herrschende Politik und ihre Medien alltäglich auslegen.

Da wird zum Beispiel das Fehlen einer Exit-Strategie moniert. Die Kriege in Irak wie in Afghanistan waren, so der Duktus, militärisch eigentlich schon nach wenigen Wochen gewonnen – nur fehlte dann eben ein gängiges Ausstiegsszenario. Dies ist sicherlich zutreffend, berührt indes nicht den Fakt der Völkerrechtswidrigkeit beider Interventionen.

Da wird den Menschen vorgegaukelt, heute werden »Kriege-mit-null-Toten« geführt. In der Tat sind die Zahlen der getöteten US-Soldaten bspw. im Jugoslawienkrieg, verglichen mit denen im Zweiten Weltkrieg oder in Indochina, außerordentlich gering, ja selbst bei den 6.000 bis heute in Irak und Afghanistan gefallenen US-Soldaten trifft dies zu. Indes fehlen bei diesen Aufstellungen regelmäßig die Toten in der Zivilbevölkerung des betroffenen Landes, und es fehlen zumeist die militärischen Toten der Gegenseite. Rechnete man diese mit ein, wäre die Mär vom »Krieg-mit-null-Toten« rasch entzaubert.

Eine ähnliche Falle, die den Krieg als »normale« Fortführung der Politik in den Köpfen der Menschen verankern soll, ist die Rede vom »chirurgischen Schlag«, zu dem die moderne Waffentechnologie angeblich in der Lage sein soll, oder von der »Technologisierung der Kriegführung«. Beide Bilder legen nahe, dass die Armeen der Industriestaaten, vor allem natürlich die der USA, heute Ziele akkurat, d.h. ohne unerwünschte Nebeneffekte treffen und zerstören können. (Beide Begriffe kamen beim Golfkrieg gegen den Irak 1991 erstmals auf und wurden dann weiter kultiviert im Krieg gegen Jugoslawien 1999.) Die militärische Realität sieht allerdings anders aus: So traf im Jugoslawien-Krieg lediglich ein Drittel der High-Tech-Waffen die beabsichtigten Ziele, und die Rede von den Kollateralschäden kam auf. Im Afghanistan-Krieg allerdings haben die USA bereits »Fortschritte« gemacht, u.a. durch das Echtzeit-Bombardement: In geringen Höhen klären unbemannte Drohnen auf, aus großen Höhen werden dann gleichzeitig Bomben geworfen. Die Treffergenauigkeit verbessert sich deutlich. Nach wie vor jedoch werden Hochzeitsgesellschaften, Tabakfabriken, spielende Kinder oder auch eigene Truppen getroffen. Viele der in Afghanistan aktuell abgefeuerten Projektile werden übrigens nicht mehr vor Ort abgefeuert, sondern in Kommandozentralen in den USA. Welch, neben der Irreführung der Begriffe, gigantische Vergeudung menschlicher Produktivkraft!

Die Waffenanwendung wird als alternativlos dargestellt. Da wurden z.B. im Vorfeld des Golfkrieges von 2003 die Arbeitsmöglichkeiten der Blix-Kommission der Vereinten Nationen zur Kontrolle eventuell vorhandener Massenvernichtungswaffen dramatisiert, die Aussagen des Kommissionschefs teilweise sinnentstellt übersetzt. Das Ziel vor allem der Bush-Regierung war eindeutig die Schaffung einer Legitimationsbasis zur Eröffnung des Krieges gegen das ölreiche Land. Und im Kampf gegen den Terrorismus, das Beispiel des 11. September 2001 wurde von den USA zum Anlass für den Krieg gegen Afghanistan genommen, scheint einzig militärische Gewaltanwendung auf der Tagesordnung zu stehen, obgleich andere Länder, wie Japan oder Spanien, mit polizeilichen, geheimdienstlichen und gerichtlichen Mitteln weitaus erfolgreicher waren. Diese Erfolge werden in den Medien indes nur selten thematisiert. Dass der Überfall auf Afghanistan von Seiten der USA lange vor 9/11 geplant war, darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden.

Die Rolle der Medien

Die Rolle der Medien ist zentral beim Verständnis der Bewegungslosigkeit, des fehlenden Aufbegehrens gegen Interventionen und andere Tendenzen der Militarisierung. Die Frage, wann die hochkonzentrierten Medien in den reichen Industriestaaten über welche Konflikte berichten, entzieht sich weitgehend demokratischen Einflussmöglichkeiten. Wichtige Schlachten, ein Beispiel aus dem Irak-Krieg, werden zu den besten Sendezeiten der US-Medien begonnen. Das System des »embedded journalism«, auch dies im Irak und in Afghanistan extensiv betrieben, muss außerordentlich kritisch gesehen werden: Wer »eingebettet« kritisch über das Gesehene berichtet, muss u.U. um seinen Platz im Schützenpanzer bei der nächsten Militäraktion fürchten. Der Irak-Krieg von 2003 mit »eingebetteten« JournalistInnen, ausschließlich privilegierten freilich, ist bislang der Höhepunkt dieser Entwicklung.

Hier markiert der Vietnam-Krieg die Wende: Die Analyse des Pentagon gibt den Medien eine wesentliche Rolle beim verlorenen Krieg, d.h. beim verlorenen Rückhalt in der US-Bevölkerung. Die Konsequenz: frühes Einbinden der vor allem visuellen Medien in Kriegsvorbereitung, sehr genaues Selektieren der Nachrichtenströme (siehe Jugoslawienkrieg 1999), allumfassendes Lenken medialen Vollzuges. Auch kleinräumlich ist ein Wandel zu beobachten: Minister Scharping (SPD) bspw. wurde Ende der 1990er Jahre von einem Medienunternehmen (Huntzinger, aus Frankfurt/M.) beraten. Nichts sollte mehr dem Zufall überlassen werden: Weder sollte je ein Militärminister (wie Volker Rühe, CDU) im Wüstensand stolpernd und fallend zu filmen sein, noch sollten die Fahrradunfälle Scharpings seine politischen Gegner (wie Freunde) allzu nachdenklich machen.

Im gerade erschienenen Buch über den Afghanistan-Krieg4 schreibt Jörg Becker, wie in der Berichterstattung über die Talibanherrschaft Frauen grundsätzlich in Burka gekleidet dargestellt werden, während mit der Vertreibung der Taliban und dem Beginn des Krieges die Bilder signalisieren: „Frauen können wieder freier leben und sind nicht länger gezwungen, die Burka zu tragen; Männer genießen die neue Freiheit, in aller Öffentlichkeit Bärte abrasieren zu dürfen.“ 5

Geschichte der Friedensbewegung

Die Friedensbewegung ist in ihrer langen Geschichte als Massenbewegung nahezu ohne Ausnahmen eine Bewegung, die re-agiert auf die Vorgaben der Herrschenden, auf nicht von ihr beeinflusste Ereignisse. Die Entwicklung von Zukunftsentwürfen blieb immer nur relativ kleinen Gruppen vorenthalten. Welch wundersame Erfahrung, als vor wenigen Jahren in die vom Autor verantwortete Marburger Vorlesung, die sich über Jahre mit »Konflikte[n] in Gegenwart und Zukunft« befasste und die nun für ein Jahr »Unsere Welt in 20 Jahren – Wie wollen wir leben?« tituliert war, die doppelte Anzahl HörerInnen kam! Hiervon nicht zu trennen ist der Eindruck bei vielen, dass die sozialen Bewegungen gerade in den reichen kapitalistischen Ländern sich nicht ihrer Wirkung bewusst sind, oft am Erfolg ihres Tuns zweifeln und resignieren.6 Ein gewisser Gewöhnungseffekt mag zu dieser passiven Haltung beitragen: Seit zwölf Jahren nun im Jugoslawien-Einsatz, fast zehn Jahre am Hindukusch – und die Erde dreht sich doch noch…

Kommt hinzu, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft – die Angst um den Arbeitsplatz sowie der steigende Leistungsdruck in Beruf und Studium – zunehmend den Raum für gesellschaftliches Engagement einengt.

Fazit

Das »neue Kriegsbild« bedeutet im Wesentlichen, dass wir es – funktioniert das Vorhaben – im Massenbewusstsein gar nicht mehr mit Kriegen zu tun haben, sondern mit einer besonderen, durch die neuen Unsicherheiten der internationalen Gesellschaft erforderten Form der Sicherheitspolitik. Sicherheitspolitik wird hier freilich, und das ist der Sinn des Ganzen, auf Militärpolitik reduziert. Die mächtigen und reichen Staaten der Erde reagieren auf die großen Problemfelder der Erde, auf die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, auf Verteilungskämpfe um die knapper werdenden Ressourcen und auch auf Terrorismus zunehmend nicht mehr politisch, sondern mit permanenten militärischen Interventionen. Diese erfolgen zumeist fern der Heimat, individueller wie kollektiver Leidensdruck ergibt sich nur in Einzelfällen. Die trotz des Endes des Ost-West-Konfliktes exorbitant angestiegenen Rüstungsausgaben mit etwa 1.400 Milliarden US-Dollar, denen Aufwendungen für Entwicklungshilfe in Höhe von etwa 100 Milliarden gegenüberstehen, geben hierüber beredt Auskunft. Auch die Europäische Union schickt sich an, eigene, d.h. von den USA unabhängige, Interventionskapazitäten aufzubauen. Und die Bundesrepublik Deutschland passt mit ihrer gerade vollzogenen und durch den Afghanistan-Einsatz gleichsam gekrönte Wende von einer (Tendenz zur) Zivillogik hin zur Militärlogik gut in diese neue sicherheitspolitische Welt.

In dieser Situation müssen sich die friedenspolitisch engagierten Kräfte zur Gegenwehr sammeln. Sie sollten sich dessen bewusst sein, dass die Bewegung in der Vergangenheit nicht erfolglos war. Wie sähe die Welt aus ohne den Widerstand gegen die atomare Bewaffnung seit den 1950er Jahren, wie Südostasien ohne den durch die Friedensbewegung wesentlich beeinflussten Rückzug der USA aus Vietnam, welche Rüstungseskalation hätten wir ohne die Friedensbewegung der 1980er Jahre? Nicht ermessen können wir, ob nicht ohne die Gegenbewegung aus dem Kalten Krieg vielleicht ein heißer geworden wäre. Und schließlich zählen auch kleine Erfolge. Auch ein Naherholungsgebiet ist ein Gewinn gegenüber einem Bombodrom. Das gilt auch für den Zivilflughafen, von dem früher atomar bestückte Bomber starteten, für das Studentenwohnheim, das früher Kaserne war.

Anmerkungen

1) Siehe hierzu ausführlicher: Becker, Johannes M./Brücher, Gertrud (Hrsg.) (2002): Der Jugoslawienkrieg – Eine Zwischenbilanz. Münster: LIT-Verlag, 2. Aufl..

2) www.asfrab.de. Einige Überlegungen zu den Hintergründen der latent zivilisatorischen, teilweise pazifistischen Haltung weiter Kreise der Bundesrepublik in den ersten Nachkriegsjahrzehnten: Zum Ersten ist sie zu schulden dem kollektiven Gedenken an die Gräuel und Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, der ja seinen Ursprung im faschistischen Deutschland hatte. Zum Zweiten mündete dieser Krieg bekanntlich in eine Desavouierung alles Militärischen und eine streitkräftefreie Zäsur von immerhin einem Jahrzehnt, an das sich dann eine gewisse sicherheitspolitische Sonderrolle der Bundesrepublik anschloss, eingeschlossen Rüstungsbeschränkungen infolge des WEU-Vertrages. Schließlich sollten die Folgen der Hartnäckigkeit der sozialen Bewegungen gegen die Remilitarisierung, gegen die drohende Atombewaffnung, gegen die Raketenstationierung, gegen den Golfkrieg etc. nicht unterschätzt werden. Immerhin resultierte aus den letztgenannten Bewegungen auch der Aufstieg der Grünen als starke friedenspolitische Partei – bis zu ihrem Regierungseintritt im Herbst 1998. Dann allerdings brachen ebendiese Grünen, s.o., der Friedensbewegung das Rückgrat.

3) Der Beitrag Gebauers ist erschienen in: Becker, Johannes M./Wulf, Herbert (Hrsg.) (2010): Afghanistan – Ein Krieg in der Sackgasse. Münster: LIT-Verlag.

4) Becker, Jörg: „Der Bart muss ab!“ Zur männlichen Geschlechterlogik in der Afghanistan-Berichterstattung. In: Becker, Johannes M./Wulf, Herbert (Hrsg.) (2010): Afghanistan – Ein Krieg in der Sackgasse. Münster: LIT-Verlag.

5) Von den mit nahezu 75% gewaltigen Ablehnungsquoten des Afghanistan-Krieges lasse mensch sich übrigens nicht täuschen: Die Bundeswehr ermittelt – mit modifizierten Fragestellungen – eine Mehrheit an Einsatzbefürwortern in der Bevölkerung. Dies wäre einen eigenen Beitrag wert.

6) Peter Strutynski weist in W&F 3/2010 auf die hieraus resultierende resignative Einstellung des »Die da oben machen ja doch, was sie wollen« hin.

PD Dr. Johannes M. Becker ist Politikwissenschaftler an der Universität Marburg. Er ist Mitbegründer und Geschäftsführer des dortigen Zentrums für Konfliktforschung und Vorstandsvorsitzender der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden; staff-www.uni-marburg.de/~becker1

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/2 Kriegsgeschäfte, Seite 51–54