W&F 1986/1

Biologische und chemische Waffen: Neue Impulse durch Gentechnik

von Erhard Geissler

Gentechnik ist ein auf den konzeptionellen und methodischen Fortschritten der Molekularbiologie aufbauender Methodenkomplex. der eine gerichtete Manipulation des genetischen Materials aller Art erlaubt. In den theoretischen als auch in den angewandten Biowissenschaften hat sich die Gentechnik wahrhaft revolutionierend ausgewirkt – denken wir nur an die neuen Erkenntnisse über Struktur und Funktion der Gene einerseits und an die nunmehr mögliche molekulargenetische Analyse das Zentralnervensystems andererseits, an die in-vitro-Totalsynthese von Genen und an die genetische Umprogrammierung von Bakterien, pflanzlichen und Säugerzellen, etwa mit dem Ziel der Hormon- und Impfstoffproduktion.

Besonders aussichtsreiche Entwicklungen hat die Gentechnik auf meinem eigenen Arbeitsgebiet, der Tumorvirologie, ausgelöst. Hier gibt es zum Teil – beispielsweise bei der Aufklärung der mutmaßlichen Beziehungen zwischen Papillonviren, speziell der Typen HPV 16 und HPV 18 und dem Gebärmutterhalskrebs – ermutigende Aussichten zur Optimierung von Frühdiagnose und Therapie, die einzig und allein der Einführung und Nutzung der Gentechnik zu verdanken sind.

Natürlich kann die Gentechnik – wie jede andere Technik auch – mißbraucht werden, auch die Gentechnik ist ambivalent. Beispielsweise haben die USA ganz offen und immer intensiver damit begonnen, in großem Umfang die Gentechnik zur „Defensivforschung“ auf dem Gebiet biologischer und chemischer Waffen zu nutzen. 1984 suchte die US-Armee in mehreren ganzseitigen Anzeigen in der Zeitschrift „Science“ nach Vorschlägen für entsprechende Forschungsprojekte auf dem B- und C-Waffensektor 1, und inzwischen laufen mehr als 50 Gentechnikprojekte in Instituten der US-Armee oder in Forschungsgruppen, die von der Army finanziert werden 2. Die dafür bereitgestellten Mittel werden immer umfangreicher (Tabelle 1). Begründet wird dies mit denselben haltlosen, unbewiesenen Behauptungen einer angeblichen sowjetischen Vorrüstung, mit denen schon die Raketenstationierung in Westeuropa und SDI bemäntelt worden waren – wobei man diesmal pikanterweise nicht einmal davor zurückschreckte, sich der als „Gelbe-Regen-Toxine“ deklarierten Ausscheidungsprodukte von Bienen als antikommunistischer Geschosse zu bedienen: Die überaus sorgfältige, entlarvende Analyse eines von Mathew Meselson geleiteten Forscherteams hierzu 4 ist lesenswert und gleichzeitig nachahmenswertes Beispiel dafür, wie wir Naturwissenschaftler unserer Verantwortung nachkommen können.

Es wird also „Defensivforschung“ betrieben und damit gegen keinerlei internationale Abkommen verstoßen: Auch die 1972er Konvention über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung von biologischen- und von Toxin-Waffen erlaubt ausdrücklich entsprechende Arbeiten für protektive, prophylaktische und andere friedliche Zwecke. Aber dies ist eine der gefährlichsten Schwachstellen dieser Konvention: Gibt es doch – leider in völliger Analogie zu SDI – keine Grenze zwischen offensiver und defensiver B und Toxin-Waffenforschung: Wenn heute mit den neuen Möglichkeiten der Gen- und Proteintechnik u. a. Vakzine gegen Chikungunya-, Dengue-, Hämorrhagisches Krim-Kongo-Fieber-, Junin-, Lymphozitäre Choriomeningitis- und Rift-Valley-Fieber-Virus 5 entwickelt werden, wie dies in Instituten der Army oder in von ihr finanzierten nichtmilitärischen Einrichtungen erfolgt, dann kann man mit diesen Impfstoffen entweder die eigenen Truppen (von der Zivilbevölkerung ist in den entsprechenden Dokumenten bezeichnenderweise meist kaum die Rede) vor einem für möglich gehaltenen gegnerischen Angriff schützen wollen oder man kann die Vakzine entwickeln und herstellen, um damit die eigenen Truppen vor einem möglicherweise beabsichtigten eigenen Einsatz zu immunisieren. Tatsächlich heißt es einleuchtend in dem entsprechenden Technical Manual TM 3-21 6/ AFM 355-6 der Departments of the Army and Air Force 6, speziell solche biologischen Waffen werden in Erwägung gezogen, „possible for the using forces to protect against“. Und bei der Herstellung der Waffe selbst kann man dann gleich auf die Verfahren zurückgreifen, mit denen man – allerdings vermutlich in kleinerem Maßstab, die für die Impfstoffentwicklung (angeblich) benötigten Referenzpräparate produziert hat …

Ganz abgesehen davon erscheint es mir völlig unsinnig, angesichts der heute gerade durch Gen- und Proteintechnik verfügbaren Möglichkeiten zur gezielten Veränderung biologischer Toxinwaffen 7 auf bloßen Verdacht Vakzine gegen mögliche gegnerische B- und T-Waffen zu entwickeln: Derzeit werden in den offenen Materialien der US-Army etwa 20 Viren und Bakterien als mögliche BW-Agentien geführt (Tabelle 2), wobei interessanterweise heute die – gentechnisch besonders leicht zu manipulierenden – Viren bei weitem überwiegen: Fanden noch 1957 nur Pocken- und Dengue-Viren als mögliche B-Waffen Erwähnung, so sind es 1983 neben diesen beiden 15 weitere Viren, darunter höchst pathogene. Jeder dieser Erreger konnte auf unterschiedlichste Weise so verändert werden, daß herkömmliche Vakzine gegen ihn keinen Schutz verleihen. Dagegen sind wir aber heute trotz intensiver weltweiter Gemeinschaftsarbeit noch nicht einmal in der Lage, uns gegen ein bestimmtes einzelnes Virus wirksam zu schützen, gegen das Grippevirus, obwohl wir hier ziemlich genau wissen, daß nur zwei Gene überhaupt für entsprechende Veränderungen in Frage kommen und wie das Ganze geschieht. Aber selbst wenn es gelänge, auch nur gegen die Erreger und deren Varianten Vakzine zu entwickeln, von denen man – etwa auf Grund nachrichtendienstlicher Erkenntnisse – annimmt, daß sie von der gegnerischen Seite besonders favorisiert werden, ist es praktisch unmöglich, seine Truppen ständig mit -zig unterschiedlichen Vakzinen zu behandeln – ein Vorgehen, über dessen etwaige immunologischen und anderweitigen Konsequenzen überhaupt keine Erfahrungen vorliegen. Nein, dies wäre ein Projekt, das – selbst, wenn man wenigstens den jüngsten sowjetischen Abrüstungsvorschlägen folgte und endlich auf SDI-Forschung und -Entwicklung verzichtete und die freiwerdenden Kapazitäten in eine entsprechende Vakzine-Initiative steckte – letztlich genauso zum Scheitern verurteilt wäre, lebenswichtige Kapazitäten aber auf Jahrzehnte hinaus sinnlos binden würde.

Tabelle 1:
Für Forschungen auf dem Gebiet biologischer Waffen vom US-Kriegsministerium 1977 – 1984 bereitgestellte Mittel 3
Steuerjahr Mittel (Mio $) Verbraucher -Preisindex
(1984 = 100)
Mittel (Mio $) in Preisen
v. 1984
Veränderung
in %
Okt. 76/ Sept. 77 15,9 0,619 26
Okt 77/ Sept. 78 16,5 0,667 25 -4
Okt 78/ Sept. 79 16,5 0,723 23 -8
Okt 79/ Sept. 80 16,0 0,797 20 -13
Okt. 80/ Sept 81 15,1 0,879 17 -15
Okt. 81/ Sept 82 21,6 0,939 23 +35
Okt. 82/ Sept 83 38,8 0,972 40 +74
Okt. 83/ Sept. 84 62,5 0,994 63 +58

Tabelle 2: 1983 als potentielle B-Waffen in Betracht gezogene Agentien

  • Viren:

    • PoxvirenPs:
    • Variola-Virus
  • Alphaviren:

    • Eastern Encephalitis Virus
    • Venezuelan Encephalitis Virus
    • Western Encephalitis Virus
    • Chikungunya Virus
  • Flaviviren:

    • Dengue Virus
    • Russian spring-summer Encephalitiss Virus
    • Yellow Fever Virus
  • Arenaviren:

    • Junin Virus
    • Lassa Fever Virus
    • Lymphocytic Choriomeningitis Virus
    • Machupo Virus
  • Bunyaviren:

    • Crimean-Congo Hemorrhagic Fever Virus
    • Rift Valley Fever Virus
  • Filoviren:

    • Marburg Virus
    • Ebola Virus
  • Bakterien:

    • Francisella tularensis
    • Bacillus anthracis
    • Coxiella (Rickettsia) burnetti

Deshalb halte ich dafür, daß in der Vorbereitung der zweiten Review-Konferenz zur B-Waffen-Konvention, die voraussichtlich im kommenden Herbst veranstaltet werden soll, gerade von uns Naturwissenschaftlern ernsthafte Vorschläge dafür erarbeitet werden, wie die Erlaubnis für friedliche Forschung zu präsidieren ist, daß sie nicht mißbraucht werden kann – ohne daß dabei berechtigte medizinische, ökonomische und Sicherheitsinteressen der Staaten beeinträchtigt würden. Meiner Meinung nach wäre das eine, gerade durch die gentechnischen Entwicklungen begründbare, zutiefst vertrauensbildende Maßnahme.

Eine andere Schwachstelle der Konvention sehe ich darin, daß sie zwar explizit auch die Toxin-Waffen einbezieht, aber nicht einmal andeutungsweise Toxine definiert. Landläufig werden unter Toxinen Giftstoffe verstanden, die ursprünglich von Lebewesen produziert werden, die man aber auch nachsynthetisieren kann. Diese Definition wird aber keineswegs einheitlich gebraucht; in Materialien der US-Army ist oft davon die Rede, daß die „eigentlichen“ Toxine nur solche seien, die aus Eiweißen bestünden, und in der Gentechnik-Richtlinie der National Institutes of Health ist seit einiger Zeit nur noch von „Molekülen, toxisch für Vertebraten“ die Rede.

Gen- und Proteintechnik erlauben es aber heute, dramatisch veränderte Toxine in vitro herzustellen, die einerseits wirksamer sind als ihre natürlichen Vorbilder, andererseits aber in Größe und/ oder Zusammensetzung so von diesen abweichen, daß man bei böswillig einseitiger Interpretation des Toxin-Begriffs durchaus behaupten kann, dies seien gar keine Toxine mehr, sondern synthetische Gifte. Und diese würden dann nicht mehr in den Geltungsbereich der Konvention fallen, können also ungestraft entwickelt, hergestellt und gelagert werden.

Andererseits ist es beunruhigenderweise so, daß die Militärs neben den Viren ganz offenkundig den Toxinen eine immer größere Bedeutung beimessen (so daß schon verständlich wird, warum die US-Propagandisten zunächst versucht haben, mit dem Gruselmärchen vom Gelben Regen der Weltöffentlichkeit eine sowjetische Toxin-Vorrüstung und -Anwendung vorzugaukeln). Während die US Army noch Ende der sechziger Jahre, kurz vor Präsident Nixons Erklärung über den US-Verzicht auf Entwicklung von B- und Toxin-Waffen, ganz offenbar nur an zwei Toxin-Waffen ernsthaft dachte, an Botulinum Toxin sowie an Staphylococcen-Enterotoxin B, ist das Department of Defense heute schon nach Angaben in der offenen Literatur an einer erschreckend großen Anzahl unterschiedlichster Toxine interessiert 5. Unter denen befinden sich zahlreiche, die weitaus toxischer sind als die wirksamsten bekannten chemischen Kampfstoffe. Zum anderen stellen viele dieser Toxine einfache oder zusammengesetzte Proteine dar, die gen- und Proteintechnischer Manipulierung zugänglich sein sollten.

Solange entsprechende Studien – wie beispielsweise in den erwähnten Anzeigen behauptet wird – ausschließlich für defensive Zwecke durchgeführt werden, wäre juristisch nichts dagegen einzuwenden (abgesehen davon, daß hier wieder das logische Argument der weitgehenden Sinnlosigkeit solcher wirklich in rein defensiver Absicht durchgeführten Arbeiten einzuwenden wäre). Sowie diese Arbeiten aber auf die Entwicklung „artifizieller Toxine“ hinzielen und nicht etwa der Entwicklung „magischer Kugeln“, etwa von Immunotoxinen zur selektiven Zerstörung von Krebszellen dienen, sondern explizit der Konstruktion von synthetischen, neuartigen C-Waffen, würden sie bei bösartig einseitiger Anwendung des Toxin-Begriffs nicht unter die Bestimmungen der BW-Konvention fallen und wären daher nicht verboten.

Nicht verboten sind darüber hinaus alle die gentechnischen und anderen molekularbiologischen Arbeiten, denen wir in jüngster Zeit so unerwartete, tiefgründige Einblicke in die molekularen Strukturen und Funktionen des Zentralnervensystems verdanken – Angriffspunkt nicht nur zahlreicher, militärisch interessanter Neurotoxine (Batrachotoxin, Botulinum-Toxin, Saxitoxin, Tetrodotoxin u.a., sondern auch die Phosphorsäureester-Kampfstoffe Sarin, Soman, Tabun und VX. Man muß leider damit rechnen, daß diese immer größere neurobiologische Detailkenntnis dazu mißbraucht wird, chemische Waffen und artifizielle Toxine „maßzuschneidern“, welche mit den nun molekular faßbaren Targets noch wirksamer reagieren.

Darauf muß folgen, daß wir uns noch entschiedener dafür einsetzen müssen, in Genf so bald als möglich zu einer völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarung über ein Verbot der Herstellung, Entwicklung und Lagerung von chemischen Waffen zu kommen – rechtzeitig genug, ehe die von den USA angeschobenen Entwicklungen auf dem Wege zur Produktion von Binärwaffen ein Stadium erreicht haben, das jegliche Art von Verifikation völlig unrealistisch macht. (Eine Verifikation der gentechnischen Entwicklung von biologischen und Toxin-Waffen ist meiner Meinung nach heute schon unmöglich.) Und auf dem Wege dahin sollten alle nur erdenklichen Zwischenlösungen angestrebt und erreicht werden, sowohl präzisere Definitionen des Toxin-Begriffs und Riegel gegen den Mißbrauch der Erlaubnis für friedliche Forschungen, als auch Verhandlungen über die vom Staatsratsvorsitzenden der DDR und vom Ministerpräsidenten der CSSR der Bundesregierung unterbreiteten Vorschläge zur Schaffung einer Chemiewaffenfreien Zone in Europa.

Eine Konsequenz kann und darf man aus diesen unheilvollen Entwicklungen aber nicht ziehen: Entwicklung von B- und C-Waffen sind keine Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an den Einsatz von Pestbakterien als biologische Waffen bei der Eroberung von Kaff im Jahre 1346 – was den berüchtigten Seuchenzug des „Schwarzen Todes“ mit etwa 25 Millionen Menschenopfern zur Folge hatte 8, an den 1763 erfolgten Einsatz von Pockenviren durch die britischen Truppen gegen Indianerstämme des Ohio-Pennsylvania-Gebietes 9 sowie an die Anwendung biologischer Waffen und deren Erprobung an etwa 3000 Kriegsgefangenen durch die Japaner im Chinesisch-Japanischen Krieg bzw. im Zweiten Weltkrieg.10 All das geschah – z. T. exakt 500 Jahre – vor der Einführung der Molekularbiologie und der sich daraus entwickelnden Gentechnik!11 Nein: Entwicklung und Einsatz von Massenvernichtungsmitteln „im Himmel und auf Erden“ sind die Folgen des menschenfeindlichen Mißbrauchs der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik durch Militärs und Politiker, die offen davon reden, das Reich des Bösen ausrotten zu wollen, um damit ihre eigenen Herrschaftsansprüche zu sichern. Dem gilt es Einhalt zu gebieten.

Anmerkungen

1 US Army Medical Research Acquisition Agency 1984, Sciene 225, 543, 879, 880 Zurück

2 Hotz, R. L. (1985) Biowarfare: Specter of the ultimate nightmare. Atlanta Constitution 17 April, p. 1 Zurück

3 Westing, A. H. (1985) The threat of biological warfare. Bio-Sciences (im Druck) Zurück

4 Sesley, T. D., J. W. Nowicke, M. Meselson, J. Guillemin and P. Akratanakul (1985j Yellow Rain. Scientific American 253, No. 3, 122-131 Zurück

5 Anderson III, W. C. and J. M. King (1983) Vaccine and antitoxin availability for defense against biological warfare threat agents. US Army Health Care Studies Division Report 83 - 002. US Army Health Services Command, Fort Sam Houston, Texas 78234 Zurück

6 United States 1964. Military Biology and Biological Agents. Department of the Army and The Air Force Technical Manual TM 3 - 216/ AFM 355-6 Zurück

7 Geissler, E. (1984) Implications of genetic engineering for cemical and biological warfare. SIPRI Yearbook 1984, S. 421-454 Zurück

8 Derbes, V. J. (1966) De Mussis and the Great Plague of 1348. The Journal of The American Medical Association 196, 59-62 Zurück

9 Stearn, E. W. and A. E. Steam (1945) The effect of smallpox an the destiny of the Amerindian. Bruce Humphries, Inc. Publishers, Boston, 153 pp.Zurück

10 Materials an the trial of fommer servicemen of the Japanese army charged with manufacturing and employing bacteriological weapons. Foreign Languages Publ. House, Moscow 1950, 535 pp.Zurück

11 Powell, J. W. (1981) A hidden chapter in history. Bull. Atomic Scientists 37, 44 - 52 Zurück

Prof. Dr. Gerhard Geissler, Prof. für Virologie im Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin (DDR).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1986/1 1999: Ende der Atomwaffen?, Seite