W&F 1996/4

Bleibt der Grenzfall noch der Grenzfall?

Zur Distanz zwischen Friedensethik und Sicherheitspolitik

von Bernhard Moltmann

Die Distanz zwischen einer militärgestützten Sicherheitspolitik und friedensethischen Positionen wird größer. Vor dem Hintergrund einer postulierten Normalität hat die Neue deutsche Sicherheitspolitik Projektionen entwickelt, die den Streitkräften ein breites Aufgabenspektrum zuweisen und ihren Einsatz zum Kennzeichen von Bündnis- und damit Politikfähigkeit machen. Die Konsense des friedensethischen Diskurses beharren dagegen auf dem Primat des Friedens und rücken einen militärischen Einsatz in die Situation des Grenzfalles. Gerechtigkeit und Frieden werden als Einheit gedacht, die die Maßstäbe für die ethische Urteilsbildung vorgibt. Damit sieht sich der friedensethische Diskurs aber jetzt vor der Aufgabe, sein Verhältnis zu dem aktuellen Verlangen, Militär auch zu humanitären Zwecken und zur Friedenssicherung einzusetzen, neu zu bestimmen.

Was in den zurückliegenden Jahren nur als Schatten erkennbar war, tritt jetzt deutlich konturiert hervor: die neue deutsche Sicherheitspolitik. Geschickt in das gegenwärtige innen- wie außenpolitische Umfeld eingebettet, sind deren Determinanten inzwischen bestimmt und in konkrete Vollzüge umgesetzt. Stück für Stück wird der Militärapparat auf die neuen Vorgaben ausgerichtet. Die Öffentlichkeit nimmt sie als Ganzes noch nicht zur Kenntnis, ist sie doch weitgehend von der Misere des Sozialstaates, von den Wirrnissen der europäischen Integration oder von dem Rinderwahnsinn in Anspruch genommen.

Parameter der Neuen Sicherheitspolitik

Folgende Parameter der Neuen deutschen Sicherheitspolitik lassen sich identifizieren (vgl. Bundesministerium der Verteidigung 1994, a, b):

  • Normalität: Die Zukunft liegt nicht in der Vergangenheit (Meiers, 1996). Statt dessen ist »Normalität« angesagt. Die einmal konsensstiftende Formel von der »Kultur der Zurückhaltung« hat ausgedient . Deutschland kehrt in den Kreis »normaler Akteure« der Sicherheitspolitik zurück. Die historischen Bezüge, die den Aufbau und das Selbstverständnis der Bundeswehr bestimmt haben, scheinen durch die weltpolitischen Veränderungen der letzten Jahre bedeutungslos geworden. Aber alles Reden von »Normalität« täuscht nicht darüber hinweg, daß die binnengesellschaftlichen Verwerfungen, die die deutsche Geschichte prägen, noch nicht eingeebnet sind. Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein, und das Wissen um den von Deutschland ausgegangenen Zivilisationsbruch relativiert jede Hoffnung, dies ließe sich mit dem Appell an die »Normalität« überdecken (vgl. Schoch, 1996).
  • Stabilitätsprojektion: Die Gefahr einer groß angelegten, ihrem Charakter nach umfassenden (ehemals sowjetischen) Aggression gegen das Kerngebiet der NATO besteht gegenwärtig nicht. Ziel der Verteidigungspolitik ist deshalb nicht mehr die Abschreckung, sondern »Stabilitätsprojektion«. Mit der Metapher der »Stabilitätsprojektion« wird jedoch ein Ziel gesetzt, das für vielerlei Inhalte offen ist. Während über Verteidigung und Abschreckung mehr oder minder ein gesellschaftlicher wie politischer Konsens erreicht war, bleibt der Öffentlichkeit unklar, was unter »Stabilität« zu verstehen sei, zumal andere wirtschaftliche und soziale Determinanten von »Stabilität« unversehens weggerutscht sind.
  • Breites Aufgabenspektrum: Künftig müssen die deutschen Streitkräfte ein breites, vielfältiges und abgestuftes Spektrum von Aufgaben abdecken, das von der Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung bis hin zu Einsätzen der Friedenssicherung und Krisenbewältigung reicht. Die Grenzen des Aufgabenspektrums sind nicht abgesteckt, sondern können einmal eng gezogen, einmal expansiv gedeutet werden. Die Abstufung läßt sich nicht nachvollziehen, weil die logischen Verknüpfungen nicht erkennbar sind. Die Behauptung, es gäbe solche Verknüpfungen, ersetzt noch nicht deren Nachweis. Auch der Appell an Erwartungen und Zwänge, die von außen an Deutschland herangetragen würden, ersetzt noch nicht die Einsicht. Offensichtlich besteht weiterhin ein Defizit an Vermittlung und Glaubwürdigkeit.
  • Krisenreaktion: Die deutschen Streitkräfte sollen bis zum Jahr 2000 in die Lage versetzt werden, sich auf breiter Grundlage an internationalen Kriseneinsätzen zu beteiligen. Mit dieser Vorgabe wird unterstellt, daß Streitkräfte und ihr Wirken eine angemessene Reaktion auf politisch wirksame Krisen darstellen. Nun ist der Begriff von Krise offen für alle mögliche Interpretationen. Dabei bleibt unberücksichtigt, daß das Wissen über Ursprünge und Erscheinungsformen von Krisen inzwischen deren vielfältige Ursachen kennt. Diese werden immer mehr in sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Verwerfungen und in Diskrepanzen bei der Beurteilung verortet, wie eine zukunftsfähige politische Ordnung aussehen soll.
  • Bündnisfähigkeit: Dieses Stichwort faßt die Vorgaben zusammen, daß deutsche Streitkräfte in die NATO und WEU eingebunden und Teil multinationaler oder binationaler Militärstrukturen sind. Nationale Alleingänge sind ausgeschlossen. Damit rückt das »Bündnis« in den Rang einer vorrangigen, übergeordneten Institution, die in ihrer Erhabenheit und Anonymität fast schon den Grad eines Tabus für die öffentliche Debatte erreicht hat. Eine Steigerung des Wertes des »Bündnisses« führt noch das Adjektiv »politikfähig« herbei, für dessen Ausfüllung die Streitkräfte im Rahmen des »Bündnisses« sorgen. Nun durchläuft die NATO derzeit eine tiefgreifende Veränderung ihres Auftrages und ihrer Strukturen. Diese schließt ein, über den bisher eng gefaßten Verteidigungsauftrag hinauszugehen und sich neue, über Europa hinausgreifende Handlungsoptionen zu erschließen, angeleitet von der These, daß sich die sicherheitspolitischen Aufgaben erweitert hätten. Daraus wird eine Notwendigkeit abgeleitet, einen glaubwürdigen Beitrag zum erweiterten Bündnisauftrag zu leisten, wenn man tatsächlich am Bündnis mitwirken wolle.

Was kann die Ethik leisten?

Ein ethischer Diskurs, der die Prämissen der gültigen Sicherheitspolitik in ein Verhältnis zu jenen des Friedens setzt, registriert die Parameter der Neuen Sicherheitspolitik zwar, ohne sich gleich mit ihnen zu identifizieren. Wie die Bezeichnung »Friedensethik« sagt, steht der Frieden im Mittelpunkt, nicht Krieg oder Sicherheit. Der Einsatz militärischer Mittel rangiert unter der Rubrik »Grenzfall«. Dementsprechend widmet sich die Friedensethik hier den Schranken, die aus ethischer Sicht einem militärischen Einsatz geboten sind. Das Reden vom »Grenzfall« gilt der Frage, ob und unter welchen Bedingungen der Einsatz militärischer Mittel gerechtfertigt und verantwortbar sei, um Frieden zu gewinnen oder zu erhalten.

Mit der ethischen Rechtfertigung einer Handlung ist nicht notwendigerweise gemeint, daß diejenigen, die sie vollziehen, frei von Schuld sind. Deshalb bleibt das Abwägen der relativ besten und der relativ schlechtesten Handlungsmöglichkeit die Maxime (Kirchenamt der EKD, 1994, S.17). Für jedes Handeln gilt zu prüfen, ob die Optionen tatsächlich das leisten, was sie leisten sollen: „Evangelische Ethik kennt keine zeitlosen, übersituativen Prinzipien, die sie auf jeden denkbaren Fall, der eine Stellungnahme verlangt, anwenden könnte. Sie geht vielmehr den Weg, daß sie – aufmerksam auf die konkrete Situation – sich dem jeweiligen Problem in seiner Besonderheit zuwendet und im aktuellen Hören auf die biblische Botschaft zur Entscheidung der in Frage stehenden Sache kommt.“ (Tödt, 1977/79, S. 47ff.)

Für die ethischen Maßstäbe gibt es keine biblischen Vorbilder, d.h. die Maßstäbe können nicht unmittelbar aus dem Evangelium abgeleitet werden. Vielmehr begründen sie sich aus dem Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. „Das Evangelium bringt keine Gesetze für das bürgerliche, weltliche Dasein.“ (Melanchton, zitiert bei Jüngel, 1992, S. 54) „Das Evangelium enthält zwar Zumutungen an den weltlichen Gesetzgeber, aber es ist auf keinen Fall selber ein politischer Gesetzgeber – so wie Jesus kein 'zweiter Mose' ist.“ (ebda.) Evangelische Christen und Kirchen können und sollen solche Zumutungen des Evangeliums an die politische Macht artikulieren. Letztlich ist es aber der Einzelne, dem die Entscheidungen zugestanden und die Verantwortung zugetraut werden. Die Kirchen erfüllen damit nicht die Erwartungen der Menschen, sie von der Last der Entscheidungen zu befreien und ihre mächtigen, aber immer wieder sich verflüchtigenden religiösen Erfahrungen zu konservieren (Berger, 1994). Was sie bieten, liegt auf der Ebene der Orientierung, der Gemeinschaft und des Beistandes in den jeweils selbst durchzustehenden Entscheidungssituationen. Die Sehnsüchte nach Weisung befriedigt die protestantische Ethik nur insoweit, als sie Angebote für Entscheidungen macht, Kriterien für Schranken nennt, auf die Folgen der Optionen hinweist, Mut zur Verantwortung macht und letztlich Visionen offenhält. Dies gilt in besonderem Maße für den friedensethischen Diskurs.

Konsense des friedensethischen Diskurses

In der öffentlichen Debatte weckt die protestantische Position oft den Eindruck, sie sei unentschieden oder widersprüchlich. Das Hin- und Herwogen von Meinungen verdeckt dabei, daß das gemeinsame Fundament in den letzten Jahrzehnten sehr viel breiter geworden ist. Die Konsense lassen sich unter folgenden Gesichtspunkten zusammenfassen (vgl. Buchbender & Kupper, 1996):

  • Denken und Reden über Krieg und Frieden haben nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine neue Qualität angenommen. Mit der seitdem bestehenden Möglichkeit einer atomaren Katastrophe gilt es als ausgeschlossen, Kriege noch moralisch als möglich zu denken. Als »Ächtung des Krieges« steht dieser Eckpunkt fest jenseits aktueller Kontroversen.
  • Der »kalte Frieden« der historischen Periode, die heute als jene des Ost-West-Konfliktes bezeichnet wird, stützte sich auf das Funktionieren des Systems der Abschreckung. Das Primat des Friedens kann sich nur durchsetzen, wenn Verhältnisse der wechselseitigen Anerkennung errichtet und stabilisiert werden. Anerkennung zielt auf Versöhnung. Abschreckung verbindet sich mit Feindsuche. Jenseits der militärisch-strategischen Kalküle der Abschreckung beharrt die protestantische Friedensethik darauf, den ihr zugrundeliegenden Denkstrukturen und Menschenbildern nicht zuzustimmen.
  • Das Postulat der Sicherheit findet breite Anerkennung. Jenseits des Streites um einen eng oder einen weit gefaßten Sicherheitsbegriff gilt, daß Sicherheit dann gegeben ist, wenn Einwirkungen aus der internationalen Umwelt nicht die physische Unversehrtheit einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder, ihre politische und gesellschaftliche Ordnung sowie ihre territoriale und natürliche Umwelt in Frage stellen oder beschädigen. Vielmehr müssen diese auf Dauer gewährleistet sein. Es geht also nicht darum, Verteidigungsvorsorge für alle möglichen Gefährdungen zu treffen, sondern darum, die internationale Umwelt so zu gestalten, daß keine Gefährdungen mehr auftreten.
  • Der Stellenwert eines militärisch gewährleisteten Friedens tritt hinter der Einsicht zurück, daß Frieden und soziale Gerechtigkeit unauflösbar miteinander zusammenhängen: „Der Gerechtigkeit Frucht wird Frieden sein.“ (Evangel. Kirche in Hessen und Nassau, 1993) Gerechtigkeit bedeutet nicht nur chancengleiche soziale Teilhabe, sondern zielt auch auf gleiche politische Freiheiten, auf Vorhersehbarkeit und Stabilität politischer Ordnungen und Rücksicht auf die Bedürfnisse der Schwächeren.
  • Das Recht der Menschen ist mit den Mitteln des Rechts zu wahren. Versteht man Recht nicht nur als einen Mechanismus, um unterschiedliche Interessen zueinander in ein Verhältnis zu setzten und Konflikte gewaltfrei zu regeln, entdeckt man die soziale Integrationsleistung, die eine Rechtsordnung erbringt. Unter der Voraussetzungen von breiter Partizipation erlaubt sie es, verschiedene Positionen und Handlungsoptionen in ein Regelwerk einzubinden und jenes Maß an Gewißheit und Vorhersehbarkeit herzustellen, daß der Einzelne braucht, um seinen Lebensentwurf verantwortlich zu gestalten.
  • Militärische Mittel haben nur dann einen friedensbezogenen Gehalt, wenn sie die Ausübung rechtswidriger Gewalt eindämmen und den Weg zu friedlichen, das heißt, zu gewaltfreien Lösungen ebnen oder offen halten.

Die ethisch gebotene Ausrichtung politischer Prozesse beinhaltet, Gewalt zu vermeiden, Not zu verringern und Unfreiheit zu beseitigen. In allen Konfliktlagen genießt die vorrangige Option für die Gewaltfreiheit Priorität oder in den Worten der EKD-Denkschrift von 1981: „In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Frieden, nicht der Krieg.“ Die vorrangige Option der Gewaltfreiheit schließt ein, für eine universale Rechtsordnung einzutreten, die auf der Anerkennung der Menschenrechte und dem allgemeinen Verbot beruht, Gewalt anzuwenden. Mit diesen Konsensen ist der friedensethische Diskurs weit von jener Linie entfernt, die die Parameter der Neuen Sicherheitspolitik untereinander verbindet.

Zum Einsatz militärischer Mittel – der »Grenzfall«

Die ethische Bewertung des Einsatzes militärischer Mittel folgt dem Primat des Friedens und rückt den Einsatz militärischer Mittel in die Situation des »Grenzfalles«. Die Denkfigur des »Grenzfalles« versucht, eine Brücke zwischen dem Gewollten der »vorrangigen Option der Gewaltfreiheit« und der Realität von Kriegen zu schlagen. Denn die protestantische Debatte ist nicht so blind, daß sie nicht die aktuellen Herausforderungen der internationalen Politik zur Kenntnis nähme. Sie will aber die Schwelle für den Einsatz militärischer Mittel so hoch wie möglich angesetzt wissen. „Es ist darüber zu wachen, daß der Grenzfall wirklich der Grenzfall bleibt“ heißt es in den »Orientierungspunkten zu Friedensethik und Friedenspolitik« aus dem Jahr 1994. Gleichzeitig weiß sie selbstverständlich, daß faktisch keine scharfe Trennlinie zwischen einem ethisch gerechtfertigten und einem ethisch nicht mehr gerechtfertigten Einsatz militärischer Mittel zu ziehen ist, hat man sich einmal darauf eingelassen. Eine Eskalation des Einsatzes militärischer Mittel läßt es ohnehin immer unwahrscheinlicher werden, daß eine Rechtfertigung in jedweder Form möglich ist. Mit dem Blick über den »Grenzfall« hinaus, nämlich darauf, was mit dem Waffeneinsatz erreicht oder aber verhindert wird, entzieht sich der friedensethische Konsens der argumentativen Falle, in die das Reden von der »ultima ratio« unweigerlich führt.

Mit folgenden Entscheidungskriterien für einen Waffeneinsatz hält sich die friedensethische Position daran, Konflikte möglichst ohne den Einsatz von Mitteln der Gewalt zu lösen (nach Reuter, 1994, S. 86f):

  • Bei schwersten, menschliches Leben und gemeinsames Recht bedrohenden Übergriffen eines Gewalttäters kann die Anwendung von Gewalt erlaubt sein. Denn Leben muß so weit wie möglich geschützt und das gemeinsame Recht darf nicht dem Recht des Stärkeren überantwortet werden.“
  • „Erlaubte Gegengewalt muß auf das Ziel bezogen und darauf beschränkt sein, die Bedingungen gewaltfreien Zusammenlebens (wieder) herzustellen.“
  • Wer zur Gegengewalt greift, muß im Namen verallgemeinerungsfähiger Interessen aller Betroffenen handeln.“
  • „Der Schutz von Personen, die am Konflikt nicht direkt beteiligt sind, ist unbedingt zu beachten.“
  • Der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zu berücksichtigen. Dazu gehören als Teilgrundsätze:

a) Das Mittel der Gewalt muß geeignet sein, daß heißt erfolgversprechend sein, um eine Beendigung des Konfliktes zu bewirken.

b) Alle wirksamen milderen Mittel sind zuvor auszuschöpfen, das heißt, der Gewaltgebrauch muß als äußerstes Mittel erforderlich sein. Im Rahmen ethischer Gewaltkritik besagt das Argument der »ultima ratio«, daß unter allen geeigneten Mitteln das jeweils gewaltärmste vorzuziehen ist. Wenn von »ultima ratio« gesprochen wird, so ist dies nicht im zeitlichen Sinne gemeint, sondern gilt einer qualitativen Aussage über die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Gewaltmittel.

c) Das Mittel muß angemessen sein, daß heißt, das durch die Aggression verursachte Übel darf nicht mit einem noch größeren Übel beantwortet werden.“

In diesem Katalog zeichnet sich eine doppelte Radikalität der Argumentation ab: Auf der einen Seite wird klar, daß das unmittelbare Töten von Menschen immer eine Handlung ist, die die Grenze dessen überschreitet, was Menschen als relativ besseres Handeln moralisch rechtfertigen können. Hier hilft keine Güterabwägung, und das heißt letztlich das Wagnis, Schuld zu übernehmen. Auf der anderen Seite wird die Aktualität protestantischer Bekenntnisschriften aus dem Zeitalter der Reformation (Confessio Augustana aus dem Jahr 1555, Art. 16) lebendig. Dort heißt es, Christen sei geboten, „den öffentlichen Amtsinhabern und Gesetzen zu folgen, wenn es ohne Sünde möglich ist“. Das lutherische Bekenntnis stellt die rechtmäßige Kriegführung in die spannungsreiche Perspektive einer Ethik der Befolgung des Rechts, aber unter den Vorbehalt des an Gottes Wort gebundenen Gewissens (Reuter, 1994, S.86). Schärfe und Radikalität dieser Schlußfolgerungen heben das Reden vom Grenzfall und der »ultima ratio« faktisch auf.

Fazit

Der Gehalt des friedensethischen Diskurses läßt sich mit folgenden Punkten zusammenfassen:

Die protestantische Friedensethik vertritt in dem heutigen Kontext das Notwendige, aber Unzeitgemäße:

Während der politische Diskurs von dem Reden von »nationalen Interessen« bestimmt ist oder Verpflichtungen in Bündnissen beschworen werden, argumentieren die friedensethischen Kriterien vor dem Hintergrund einer weiterreichenden Perspektive. Sie heben das Ziel einer internationalen Friedens- und Rechtsordnung in einem Moment hervor, in dem die Hoffnungen, die Vereinten Nationen könnten etwas Vergleichbares wie ein international wirksames Konfliktmanagement etablieren, zerstoben sind. Die friedensethischen Positionen beharren auf einer Mäßigung militärischer Gewalt, obwohl das gegenwärtige Scheitern von politischen, gewaltfreien Lösungen eher darauf drängt, doch wieder Zuflucht bei militärischen Mitteln in der Politik zu suchen. Zu dem Unzeitgemäßen gehört auch, jene Traditionen und Konflikte nicht zu leugnen, die in die Herausbildung der heutigen Konsense eingegangen sind.

  • Der friedensethische Diskurs spiegelt den gesellschaftlichen Wandel:

In der Gesellschaft wird zwar die Legitimation von Streitkräften generell nicht in Zweifel gezogen. Bezweifelt werden aber die Begründungen eines Wozu und Ob der Streitkräfte in ihrer bisherigen Form. Die zunehmende Distanz zwischen institutionalisierter Politik und gesellschaftlichen Veränderungen erreicht auch den militärischen Sektor. Sie trifft ihn umso härter, als gerade ihm aufgetragen ist, staatliche Souveränität zu repräsentieren. Die Schuld dafür, daß die Zustimmung in der Gesellschaft zu Sinn und Auftrag der Streitkräfte schwindet, kann diesen nicht allein angelastet werden, sondern ist der fehlenden Fähigkeit der politisch verantwortlichen Personen und Gremien geschuldet, einsichtige Begründungen zu vermitteln und mit anderen Politikfeldern zu verbinden. Wenn hier von protestantischer Seite der Mut aufgebracht wird, gegen die Resignation und gegen die Flucht in kurzfristigen Opportunismus anzugehen, werden ihr auch alle Lasten der Begründung aufgebürdet, wie zum Beispiel mit der Forderung, parallel zu dem geplanten IFOR II-Einsatz auch die Tätigkeit von Friedensdiensten im ehemaligen Jugoslawien zu fördern.

  • Der friedensethische Diskurs stellt sich in supranationale Zusammenhänge:

Die Argumentationsmuster im friedensethischen Diskurs reflektieren selbstverständlich den spezifischen Horizont der deutschen Geschichte. Kirchen und Christen erleben belastend und anregend zugleich, wie sich aus den Traditionen von Deutschland-West und Deutschland-Ost neue Konturen und Inhalte eines öffentlichen Bewußtseins herausbilden. Gleichzeitig nimmt die Friedensethik den ökumenischen Horizont auf, der seinerseits die Spannungen zwischen Arm und Reich, aber auch die Verknüpfung von Frieden, Gerechtigkeit und Erhalt einer von Gott gewollten Schöpfung in die Debatte hineinträgt. Wenn die These zutrifft, daß die Politik in zunehmendem Maße vergesellschaftet wird (Beck, 1993), dann sind die Kirchen einer der Orte, die dies als erste zu spüren bekommen. Sie entwinden sich den Fesseln einer Diskussion, die sich auf einen nationalen Zusammenhang beschränkt, und entfalten jene nationale Grenzen überschreitenden Perspektiven am ehesten, die sich an den Anforderungen einer »Gesellschaftswelt« in Abgrenzung von der »Staatenwelt« orientieren.

Nun stellen sich dem friedensethischen Diskurs mit der Neuen Sicherheitspolitik neue Herausforderungen. Es wird argumentativer Anstrengungen bedürfen, dem Primat des Friedens gegenüber dem Drängen militärgestützter Politik endgültig Vorrang einzuräumen. War man bisher auf die Dilemmata des Atomzeitalters fixiert, so kommt es nun darauf an, die früheren Polarisierungen hinter sich zu lassen und die Engführung auf die Alternative zwischen ethisch akzeptablen und ethisch nicht-akzeptablen Möglichkeiten, militärische Mittel einzusetzen, aufzugeben. Die Entscheidung der EKD-Synode in Borkum vom 4.11.96, die Konfliktprävention und Aggressionssteuerung im Rahmen der praktischen Friedensarbeit zu fördern, weist bereits in diese Richtung. Dies wird immer in der Spannung stehen, das Doppelgesicht von Gerechtigkeit auszuhalten, einerseits das geschehene Unrecht zu sühnen und andererseits Zeichen der Versöhnung zu setzen. Bei allem darf die zentrale Aufgabe, stets zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, angesichts der Zwänge des politischen Pragmatismus nicht aus dem Blick verloren werden.

Literatur

Beck, U. (1993). Die Erfindung des Politischen, Frankfurt a.M.

Berger, P. L. (1994). Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Frankfurt am Main/New York.

Buchbender, O. & Kupper, G. (1996). Spurensuche Frieden. Friedensethische und friedenspolitische Erklärungen der christlichen Kirchen seit dem zweiten Golfkrieg, Bonn.

Bundesministerium der Verteidigung (1994a). Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, Bonn.

Bundesministerium der Verteidigung (1994b). Konzeptionelle Leitlinie zur Entwicklung der Bundeswehr, verabschiedet vom Bundeskabinett am 8.7.94, in: Reader „Sicherheitspolitik“, Ergänzungslieferung 9/94, VIII, S. 17 – 24, Bonn.

Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.) (1981). Frieden wahren, fördern und erneuern. Denkschrift der EKD, Gütersloh.

Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.) (1994). Schritte auf dem Weg des Friedens. Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hannover 1994. EKD-Texte 48, Hannover.

Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (1993). Der Gerechtigkeit Frucht wird Frieden sein. Texte zur aktuellen Friedensdiskussion, Frankfurt am Main.

Jüngel, E. (1992). Das Evangelium und die Evangelischen Kirchen Europas. Christliche Verantwortung für Europa in Evangelischer Sicht. Vortrag vor der Europäischen Evangelischen Versammlung, Budapest 24. bis 30.März 1992. epd-dokumentation, Nr. 17., S. 43 – 66.

Meiers, F.-J. (1996). Keine deutsche Sonderrolle mehr: Die Zukunft der Bundeswehr liegt nicht in der Vergangenheit. Frankfurter Allgemeine vom 27.9.96.

Reuter, H.-R. (1994). Friedensethik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Zeitschrift für Evangelische Ethik, 38, S.81 – 99.

Schoch, B. (1996). Die schillernde Rede von der Normalisierung Deutschlands. Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (Hrsg.). Friedensgutachten 1996, S. 79 – 90, Münster.

Tödt, H. E. (1979). Versuch einer Theorie ethischer Urteilsfindung. In: H. E. Tödt, Der Spielraum des Menschen. Theologische Orientierungen in den Umstellungskrisen der modernen Welt, S. 31 – 80, Gütersloh (Original 1977).

Dr. Bernhard Moltmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt am Main

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/4 Weltweit im Kommen: Die neue Bundeswehr, Seite