W&F 2023/2

Blutiger Boden

Zur Rolle von Territorium im Russisch-Ukrainischen Krieg

von Jonas J. Driedger

Im Laufe seines andauernden Angriffskrieges annektierte Russland weite Teile des südöstlichen Staatsgebietes der Ukraine. Im Gegenzug hat Kyiv sich der Rückeroberung dieser Gebiete verschrieben. Dieser Artikel wendet Forschungserkenntnisse zur Rolle von Territorium in Militärkonflikten auf zentrale Aspekte des Russland-Ukraine-Kriegs an. Die Befunde erhellen langfristige Muster der russischen Politik, helfen beim Verständnis der Brutalität und Vehemenz des Konflikts, und weisen darauf hin, dass Friedensoptionen zumindest kurzfristig extrem eingeschränkt sind.

Ein umfangreiches Forschungsprogramm hat in den letzten Jahrzehnten eine starke Verzahnung zwischen Territorialdisputen und politischer Gewalt aufgezeigt, gerade im Vergleich mit Disputen über andere Güter, wie etwa Regimetyp oder Ideologie (zur Übersicht: Toft 2014). Demnach eskalieren Territorialdispute besonders häufig zu Militärkonflikten und solche territorialen Militärkonflikte eskalieren besonders häufig zu Kriegen.

Die meisten Kriege werden über den Konfliktgegenstand »Territorium« ausgefochten. Dies gilt, mindestens ab 1945, sowohl für Bürger- als auch zwischenstaatliche Kriege. Territorialdispute korrelieren mit verstärkten Rüstungswettläufen, kompetitiven Bündnisbildungen und gegenseitiger Bedrohungswahrnehmung. Territorialkriege dauern vergleichsweise lang und sind schwerer beizulegen. Wenn Territorialkriege enden, tendieren die Konfliktparteien dazu, gegenseitige Bedrohungswahrnehmungen besonders lange aufrecht zu erhalten.

Darüber hinaus befördern Territorialdispute innerstaatliche Repression. Staaten, deren Territorium bedroht ist, neigen dazu, weniger demokratisch zu sein (Karreth, Tir und Gibler 2022) und von Militärregimen regiert zu werden (Kim 2018). Wenn diese territoriale Bedrohung von außerhalb der Staatsgrenzen erfolgt, verringert sich zwar die Wahrscheinlichkeit von Konflikten innerhalb des Staatsgebietes, gleichzeitig sind diese Gesellschaften aber auch häufig militarisierter und die Regierungen haben oft mehr Eingriffsrechte (Gibler und Miller 2014).

Ursachenforschung

Untersuchungen zu den Ursachen der engen Verzahnung von Territorialdisputen und politischer Gewalt verweisen häufig auf die Organisation der globalen Politik in Staaten, da moderne Staaten sich maßgeblich über ihr Territorium definieren und in sich enorme Potenziale politischer Zwangsgewalt vereinigen. Diese Ursachenforschung konzentriert sich vor allem auf vier Kategorien (zur Übersicht: Toft 2014, S. 187-191):

(1) Erstens kann Territorium strategischen Wert haben, also nützlich für den Einsatz oder die Abwehr von Zwangsgewalt sein, beispielsweise durch Ressourcen, als natürliches Hindernis, oder als geographischer Zugang.

(2) Zweitens wird Territorium, gerade im modernen Diskurs von Nationen und Nationalstaaten, häufig ein ideeller Wert zugesprochen, der eng an die kollektive Identität sozialer Gruppen geknüpft ist. Im Laufe von Gewaltkonflikten erhöht sich diese ideelle Bedeutung von Territorium häufig noch mehr: Tote und Schäden der eigenen Seite werden oft als »Opfer« für das Territorium empfunden, während die Handlungen der anderen Seite als andauernde Ungerechtigkeit gegen das eigene »Heimatland« und damit das eigene Selbst wahrgenommen werden.

(3) Die ideelle Aufwertung von Territorium befördert, drittens, das Problem von Unteilbarkeit: wie das Beispiel von Jerusalem veranschaulicht, erschweren ideell aufgeladene Gebietsansprüche eine friedliche Konfliktlösung.

(4) Da Territorium für Staaten wesentlich ist, kommt hierzu, viertens, häufig noch die Reputation ins Spiel: Entscheidungsträger*innen sehen territoriale Zugeständnisse oft als Risiko, da sie Präzedenzfälle schaffen können, wodurch sich Ansprüche der anderen Seite weiter erhöhen könnten, womit dann wiederum die eigenen Interessen noch mehr gefährdet wären.

Umgekehrt trägt die Beilegung von Territorialkonflikten stark zu Frieden bei. Zum Beispiel befördert die Beendigung von Territorialdisputen das Ende von zwischenstaatlichen »Rivalitäten«, also andauernden gegenseitigen Bedrohungswahrnehmungen (Owsiak und Rider 2013). Ein Beispiel hierfür sind Deutschland und Frankreich nach 1945. Gibler (2012) hat sogar argumentiert, dass der »demokratische Frieden« darauf zurückzuführen sei, dass die Abwesenheit von Territorialdisputen sowohl für Frieden als auch für demokratische Entwicklung förderlich ist.

Nicht zuletzt korreliert die langfristige Abnahme zwischenstaatlicher Kriege mit der Errichtung der Vereinten Nationen. Dies ist wohl zumindest teilweise darauf zurückzuführen, dass VN-Mitgliedschaft die Norm territorialer Unverletzlichkeit von Mitgliedstaaten stärkt (Goldstein 2012).

Russlands territoriale Politik

Russland ist das größte Land der Welt und ist aus dem Zerfall der noch deutlich größeren Sowjetunion entstanden. Viele verschiedene ethnische und religiöse Gruppen leben im postsowjetischen Raum, oft getrennt durch nationale Grenzen. Im Lichte der oben besprochenen Erkenntnisse überrascht es daher nicht, dass sich Territorialkonflikte wie ein blutroter Faden durch die jüngere Geschichte Russlands ziehen. Sie sind auch eng mit der russischen Innenpolitik sowie Russlands fragilem Großmachtstatus verwoben.

Noch während des Zerfalls der Sowjet­union zeichnete sich ein Sezessionskonflikt um Tschetschenien ab. Im November 1991 rief Präsident Dschochar Dudajew die Unabhängigkeit Tschetscheniens von der Russischen Sowjetrepublik aus. Die Zentralregierung in Moskau versuchte erfolglos, diesen Bestrebungen sowohl durch Waffengewalt als auch Diplomatie Herr zu werden. Dieses Staatsversagen war ein zentrales Element der kontinuierlichen Krisen, die Russland in den turbulenten 1990ern durchlebte. 1994 beschloss der russische Präsident Jelzin, die Teilrepublik mit Waffengewalt unter die Kontrolle Moskaus zu bringen, um mitunter dadurch seine innenpolitische Position zu festigen. Das Gegenteil trat ein: Trotz eines brutalen Bürgerkriegs von 1994 bis 1996, zahlreicher Kriegsverbrechen und wohl über 100.000 Kriegstoten blieb Tschetschenien faktisch unabhängig (vgl. zu den Tschetschenienkriegen Galeotti 2014). Die Präsidentschaftswahl im Jahre 1996 gewann Jelzin wohl nur durch intensive Unterstützung des Westens sowie mit Hilfe einer Reihe von Oligarchen, die große Teile der russischen Medienlandschaft kontrollierten. In Tschetschenien breiteten sich derweil zunehmend organisiertes Verbrechen und Korruption aus. Wahhabistisch-radikale Gruppen gewannen immer mehr an Einfluss.

Um dem immer unbeliebteren Jelzin einen sicheren Ruhestand zu gewährleisten und gleichzeitig die Interessen seiner Unterstützer zu sichern, bauten diese seit 1999 den Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB rasant zum Nachfolger auf: Ein bisher quasi unbekannter Mann, Wladimir W. Putin.

Ein zentraler Bestandteil der Machtfestigung Putins war eine bewusst kalkulierte Wiederaufnahme des Tschetschenienkonflikts. Durch eine brutale, aber in den russischen Medien weitgehend als erfolgreich dargestellte Kampagne steigerte sich Putins Bekanntheit und Beliebtheit rasant. Nach der Verkündung eines militärischen Sieges trieb das Putin-Regime die »Tschetschenisierung« des Konfliktes durch die Einsetzung und Unterstützung der Kadyrow-Familie voran.

Auch in anderen russischen Föderalgliedern mit ethnisch »nicht-russischen« und islamischen Gruppen zeigt sich die evidente Sorge des Putin-Regimes vor militantem Separatismus. Gemäß derselben Logik werden dann auch ähnliche Politik­elemente zu deren Vorbeugung genutzt: Repressionen und Zwangsmaßnahmen, aber auch wirtschaftliche Unterstützung und Förderung dieser Regionen sowie Kooption »moderater« islamischer Personen und Gruppen. Diese Politik hat aber auch zu Korruption und Radikalisierung von Gruppen in diesen Regionen beigetragen (Dannreuther 2010; Böhlke und Driedger 2014).

Diese Versicherheitlichung von Territorium und Islam wirkt sich auch auf die russische Außenpolitik aus. Beispielsweise hat die gewaltsame Bekämpfung internationaler islamistischer Netzwerke eine Rolle in der zuerst permissiv-unterstützenden russischen Politik gegenüber der westlichen Präsenz in Afghanistan in den frühen 2000ern gespielt. Auch diente Russlands Unterstützung des Assad-Regimes und seine wiederholten Interventionen in Syrien teilweise diesem Ziel (Driedger 2014).

Die russische Außenpolitik ist darüber hinaus schon lange stark mit Territorialdisputen in Nachbarländern verknüpft.

Anfang der 1990er brachen in verschiedenen postsowjetischen Staaten separatistische Konflikte und Bürgerkriege aus. Sowjetische, später dann oft russisch kommandierte Truppen halfen dabei, diese Konflikte zumindest »einzufrieren«.

Allerdings nutzte die russische Politik diese schwelenden Konflikte auch immer wieder, um diese Konflikte zu verstetigen und damit Einfluss sowohl auf die jeweiligen separatistischen Bewegungen als auch die »Elternstaaten« auszuüben (Coyle 2017): das gilt für Transnistrien und die Republik Moldau, für Südossetien und Abchasien in Georgien und für das von Armenien unterstützte Arzach auf Aserbaidschans Staatsgebiet. Dabei zeigten sich in der Vergangenheit unterschiedliche Erfolgsgrade dieser Politik: Russland rechtfertigte den Krieg gegen Georgien 2008 mit dem Schutz separatistischer Entitäten wie Südossetien und von dort stationierten russischen »Friedenstruppen« (Allison 2008), konnte aber 2020 nicht verhindern, dass Aserbaidschan durch einen Krieg gegen Armenien und Arzach weite Teile von Bergkarabach wieder unter seine Kontrolle brachte.

Territorium und der Russisch-Ukrainische Krieg

Territorialfragen haben schon lange eine wichtige Rolle in den russisch-ukrainischen Beziehungen gespielt. In den 1990ern kamen die beiden postsowjetischen Länder mehrmals an den Rand militärischer Konfrontationen. Russland verhängte jahrelange Sanktionen gegen die Ukraine. Dabei ging es vor allem um strategische Fragen wie die sowjetischen Atomwaffen auf ukrainischem Staatsgebiet und den sowjetischen Flottenstützpunkt in Sewastopol auf der Krim. Aber auch ideelle Faktoren spielten eine Rolle: Diverse neo-sowjetische und ultra-nationalistische Fraktionen in der russischen Duma drängten auf Grenzrevidierungen, insbesondere auf der Krim (Wolczuk 2003).

Als Anfang 2014 die ukrainische Maidanrevolution das Kreml-freundliche Janukowytsch-Regime absetzte, reagierte die russische Führung mit zwei Militäroperationen, um Kontrolle über ukrainisches Territorium zu erlangen. Erstens verschaffte die Krimannexion Russland langfristigen Zugang zum strategisch wichtigen Marinestützpunkt Sewastopol. Zweitens führte Russland im Donbass eine semi-verdeckte Militäroperation gegen Kyiv durch und unterstützte dort mit der Ausrufung der »Demokratischen Volksrepubliken« zwei Marionettenregierungen (Hosaka 2019). Hierdurch war die russische Führung nach Vorbild der postsowjetischen »eingefrorenen Konflikte« jederzeit in der Lage, die Ukraine gezielt zu destabilisieren, um ihre außenpolitische Orientierung weiterhin zu beeinflussen. Diese Einflussnahme wurde mitunter durch die so genannten Minsk-Abkommen gestärkt, da sie offiziell die »Volksrepubliken« diplomatisch aufwerteten und die russische Rolle minimierten (Åtland 2020).

Auf ukrainischer Seite entstand schnell ein breiter Konsens für die Wiederinbesitznahme der Krim und des Donbass (Åtland 2020; zu den russischen Militäroperationen gegen die Ukraine: Driedger 2023).

Mit der Eskalation des Konflikts im Jahre 2022 verschärfte Russland auch seine Territorialdispute mit der Ukraine. Zwei Tage vor Angriffsbeginn erkannte Russland offiziell die separatistischen »Volksrepubliken« in der Ostukraine an, einschließlich ihrer Gebietsansprüche auf die noch unbesetzten Teile der ukrainischen Oblaste Donbass und Luhansk. Damit brach Russland unverhohlen die Minsk-Abkommen (Driedger 2023, S. 11). Es gibt bisher keinen Forschungskonsens über die genauen (territorialen) Ziele, welche die russische Führung bei Invasionsbeginn verfolgt hatte.

Nach maßgeblichen Erfolgen der ukrainischen Streitkräfte verlagerte sich der Schwerpunkt der russischen Kriegsführung zunehmend auf die Behauptung des neu eroberten Territoriums. Dies mündete im Herbst 2022 in der Entscheidung, durch Staatsbeschlüsse und Scheinreferenden Gebiete in den ukrainischen Oblasten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson offiziell zu annektieren, wohl auch um die Glaubwürdigkeit nuklearer Drohungen gegenüber der Ukraine und dem Westen sowie die Legitimität der gleichzeitig ausgerufenen Teilmobilisierung der russischen Bevölkerung zu erhöhen (Driedger 2022).

Frieden auf »Erden« – aber wie?

Ein beidseitig einvernehmlicher Verhandlungsfrieden zwischen Russland und der Ukraine ist im Lichte der Forschung zu Territorialkonflikten wohl kurz- und auch mittelfristig sehr unwahrscheinlich: für beide Seiten sind die umstrittenen Gebiete strategisch und ideell wichtig; die Reputation von Eliten auf beiden Seiten ist eng an diese Besitzansprüche geknüpft. Eine »Teilbarkeit« scheint daher nicht gegeben.

Die russische Position

Die russische Führung hat seit 2014 zunehmend ihre innenpolitische Position mit der Annexion der »heiligen« Krim sowie des Schutzes der Menschen im Donbass vor vermeintlich ukrainisch-faschistischer Aggression gerechtfertigt. Noch dazu hat das russische Regime seit 2022 weitere Gebiete annektiert und die Propaganda über eine russische (territoriale) Selbstverteidigung weiter verschärft. Es ist unwahrscheinlich, dass das russische Regime territoriale Zugeständnisse machen wird, da es seine eigene Reputation stark an den Erhalt dieser Gebietsbesatzungen geknüpft hat und, trotz steigender Risikoakzeptanz, weiterhin stark den eigenen Machterhalt priorisiert (Driedger 2023).

In der Tat gibt es wenig Hinweise darauf, dass die russische Bevölkerung eine Aufgabe der russisch besetzten Gebieten akzeptieren würde. Obgleich Umfragen im russischen Kontext nicht besonders verlässlich sind, zeigen auch die vergleichsweise robusten Erhebungen des Levada-Zentrums im Februar 2023, dass über zwei Drittel der russischen Befragten nicht einmal die Aufgabe der gerade erst eroberten und annektierten Gebiete Saporischschja und Cherson akzeptieren würde (Levada Center 2023).

Die ukrainische Position

Auch auf ukrainischer Seite gibt es keinen Hinweis auf eine Bereitschaft für territoriale Zugeständnisse. Die vollständige Wiederherstellung ukrainischer Souveränität über ihr völkerrechtlich verbrieftes Staatsgebiet ist offizielles Kriegsziel.

Auch haben die unverhohlene russische Aggression, wiederholte Verletzung von Abkommen, Gräueltaten gegen Zivilist:innen und die Annexionen die Meinungen hinsichtlich der ukrainischen Kriegsziele geeinigt und verhärtet: Im Dezember 2022 sprachen sich nur acht Prozent der befragten Ukrainer:innen dafür aus, Territorium an Russland abzugeben, wenn damit Frieden erreicht und Unabhängigkeit gewahrt werden könnte. 85 Prozent sagten, dass Territorialkonzessionen inakzeptabel seien, selbst wenn sich dadurch der Krieg verlängern würde (Kyiv Independent 2023).

Internationale Meinungsunterschiede

Angesichts dieser Interessenskonstellation ist auch eine schnelle Beendigung des Konflikts durch Druck von außen unwahrscheinlich. Seit dem russischen Angriff Anfang 2022 besteht im globalen Nordwesten ein starker Konsens dafür, die Ukraine wirtschaftlich und militärisch zu unterstützen, auch wenn es Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang dieser Hilfen gibt.

Viele Staaten üben Druck auf Russland aus, auch jenseits der Wirtschaftssanktionen durch den globalen Nordwesten. Große Mehrheiten der Mitgliedsstaaten stimmten 2014 und 2022 Resolutionen der Vereinten Nationen zu, die die russischen Handlungen scharf verurteilten und die volle Wiederherstellung der ukrainischen (territorialen) Souveränität forderten. Obgleich nur wenige Länder gegen die Resolution stimmten, enthielten sich aber auch einige wichtige Länder der Abstimmung. In China und Indien bevorzugen Mehrheiten, dass der Konflikt schnell, und, wenn nötig, auch auf Kosten ukrainischen Territoriums beendet werden sollte (Krastev, Leonard und Garton Ash 2023). Es gibt wenig Anzeichen dafür, dass Sanktionen und Ächtungen Russland in naher Zukunft zum Einlenken bewegen werden.

Frieden durch territorialen Siegfrieden?

Auch die Befriedung des Krieges durch einen »Siegfrieden« ist kurzfristig unwahrscheinlich. Zwar können Territorialdispute durch einen militärischen Sieg gewaltsam beendet werden, so etwa bei der chinesischen Inbesitznahme Tibets, der amerikanischen Eingliederung von Texas oder der Eroberung Südvietnams durch Nordvietnam.

Das Zusammenspiel mehrerer Faktoren macht es aber unwahrscheinlich, dass kurzfristig eine Seite militärisch siegt: in der Ukraine scheint der Kampfeswille ungebrochen und die westliche Wirtschafts- und Militärunterstützung dauert an. Jedoch verbleiben dem russischen Regime Eskalationsoptionen, die es wohl nutzen wird, wenn es durch ukrainisches Vordringen den eigenen Machterhalt gefährdet sieht (Driedger 2022).

Wie wird es weitergehen?

Mittel- und langfristig deuten sich mindestens zwei mögliche Verläufe des Krieges an. Zum einen könnte es zu radikalen innenpolitischen Wechseln bei einer der Konfliktparteien kommen, gerade in der komplexen, informellen und personalisierten Machtarchitektur Russlands. Je nachdem, wie ein solcher Machtwechsel aussähe, könnte dies den Konflikt weiter eskalieren oder auch befrieden.

Zweitens könnten sich beide Seiten an immer starreren Fronten festkämpfen. Wenn dann beide Seiten weitere Vorstöße für kontraproduktiv hielten, würde der Konflikt in einen kalten Krieg transformiert.

Für beide Szenarien ist es wahrscheinlich, dass es auf beiden Seiten enorme Widerstände gegen eine Aufgabe oder »Teilung« des umstrittenen Territoriums geben wird, da es stark an strategischer, ideeller und reputativer Bedeutung gewonnen hat. Gesellschaft, Wissenschaft und Politik sollten sich daher jetzt schon ernste Gedanken über zukünftige Verlaufsszenarien und Politikoptionen machen, die zentrale Forschungsbefunde über Territorium als Konfliktgegenstand angemessen berücksichtigen.

Literatur

Allison, R. (2008): Russia resurgent? Moscow’s campaign to ‘coerce Georgia to peace’. International Affairs 84 (6), S. 1145-1171.

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Böhlke, E.; Driedger, J. J. (2014): Der aufmüpfige Vasall. ADLAS – Magazin für Außen- und Sicherheitspolitik 8 (1), S. 51-58.

Coyle, J. J. (2017). Russia’s border wars and frozen conflicts. New York: Springer.

Dannreuther, R. (2010). Islamic radicalization in Russia: An assessment. International Affairs 86 (1), S. 109-26.

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Dr. Jonas J. Driedger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK/PRIF) sowie beim Regionalen Forschungszentrum »Transformations of Political Violence« (TraCe). Davor arbeitete er mehrere Jahre in Kyiv, Moskau und Washington, D.C. Er forscht zu zwischenstaatlichen Kriegen, internationaler Sicherheitspolitik und Russland.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/2 Klimakrise, Seite 50–53