W&F 2023/2

Bürger*innen üben sich in Diplomatie

Friedenspolitische Chancen neuer Beteiligungsformate in der Außenpolitik

von Hanna Pfeifer, Anna Geis und Christian Opitz

Die Außen- und Sicherheitspolitik ist notorisch bürgerfern. Staatliche Eliten schirmen den Politikbereich unter Verweis auf seine Sensibilität und Komplexität ab; Bürger*innen selbst lassen sich auf diesem Feld kaum mobilisieren oder zur gewünschten Wahlentscheidung locken. In der deutschen Außenpolitik gibt es zudem eine seit vielen Jahren festgestellte, oft beanstandete, aber erst seit Kurzem aktiv bearbeitete Diskrepanz zwischen den Präferenzen der Bürger*innen einerseits und außenpolitischer Eliten in Deutschland und Partnerstaaten andererseits. Im vorliegenden Beitrag diskutieren wir Bemühungen zur Überbrückung dieser Kluft und fragen nach ihrem friedenspolitischen Potenzial.

Die Debatte der 1990er und 2000er Jahre in der Friedens- und Konfliktforschung über den »demokratischen Frieden« hat die wichtige Rolle der Bürger*innen für eine friedliche Außenpolitik hervorgehoben. So argumentierte etwa Ernst-Otto Czempiel (unter Rekurs auf Immanuel Kants Werk „Zum Ewigen Frieden“) in einem viel zitierten Aufsatz, dass das friedenspolitische Potenzial von Demokratien nur dann ausgeschöpft werden könne, wenn die Bürger*innen auch umfassender an der Diskussion und Gestaltung von Außenpolitik beteiligt würden. Die real existierenden Demokratien ähnelten bislang eher „kollektivierte(n) Monarchien“, die Demokratisierung der westlichen Staaten sei „noch nicht weit genug vorangeschritten (Czempiel 1996, S. 86, 97).

Dieser Gedanke ist heute aktueller denn je. Diplomatie als das staatliche außenpolitische Instrument wurde lange Zeit als eine elitäre und bürgerferne Institution betrachtet. Gleichzeitig sind die Bürger*innen weder aus der diplomatischen Praxis noch aus akademischen Analysen wegzudenken. Sie spielen beispielsweise eine Rolle als aggregierte »öffentliche Meinung«, als Wähler*innen oder auch als Zielscheibe von Propaganda. Zusehends werden Bürger*innen zudem als Akteure und Subjekte und nicht mehr nur als »Adressat*innen« oder Schützlinge staatlicher Außenpolitik betrachtet. Das Konzept der »public diplomacy« etwa sensibilisiert für die Relevanz ausländischer Öffentlichkeiten, um außenpolitische Ziele durchzusetzen. Aber auch die Einbindung der eigenen Bevölkerung in den außenpolitischen Prozess und die Diplomatie hat in jüngster Zeit an akademischer und politisch-praktischer Relevanz gewonnen (Huijgh 2019).

Man könnte solche Phänomene als eine »Vergesellschaftung« der Diplomatie bezeichnen, insofern deren Praktiken stärker in die Gesellschaft eingebettet würden. Ob sie aber in Richtung einer – normativ gehaltvollen – Demokratisierung weisen, wie sie Czempiel gefordert hat, ist aus unserer Sicht eine offene Frage und nur im konkreten Fall zu beantworten. In Deutschland jedenfalls scheint sich die Innenseite der Diplomatie tatsächlich in einem Wandlungsprozess zu befinden. Seit knapp zehn Jahren beobachten wir hier eine »Öffnung« des Auswärtigen Amtes (AA), im Rahmen derer Berufsdiplomat*innen die Gesellschaft in die außenpolitische Debatte einbeziehen. Bemerkenswert erscheinen uns vor allem diejenigen Dialog- und Beteiligungsformate, die einzelnen Bürger*innen die Möglichkeit eröffnen bzw. die Aufgabe stellen, Empfehlungen für die Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln.

Beteiligung auch als Reaktion

Die »Öffnung« des Auswärtigen Amtes für Dialogverfahren und Beteiligung kann als Reaktion auf die Häufung von Krisen­erfahrungen interpretiert werden (siehe auch Opitz, Pfeifer und Geis 2022):

  • Die Formate bieten außenpolitischen Eliten erstens die Möglichkeit, zu verstehen, wie die Bürger*innen in außenpolitischen Fragen »ticken«. Wie wir aus unserer eigenen Forschung feststellen können1, betonen Entscheidungsträger*innen häufig diesen erkenntnisfördernden Wert der Formate. Sie haben den Eindruck, dass insbesondere seit dem Erstarken populistischer Einstellungen die »Tuchfühlung« mit bestimmten Segmenten der Bevölkerung verloren gegangen sei, auch in außen- und sicherheitspolitischen Fragen.
  • Gleichzeitig sind die Deutschen zweitens mit den Folgen außenpolitischer (Nicht-)Entscheidungen immer stärker im Alltag konfrontiert: Energiekrise, Geflüchtete aus Kriegsgebieten, Klimawandelfolgen, Versorgungsengpässe mit bestimmten Gütern – all dies sind direkt spürbare Phänomene globaler Krisen und transnational wirksamer Konflikte. Daraus folgt auch, dass Außenpolitik zusehends mehr der Legitimierung bedarf und sie in Konsequenz seitens der Entscheidungsträger*innen gegenüber den Bürger*innen mehr und besser erklärt werden muss.
  • Dies gilt drittens gerade in einer Situation, in der die breite Bevölkerung weiterhin skeptisch ist gegenüber der Anwendung »harter« außenpolitischer Mittel und, breiter gesprochen, einer bewusst angestrebten »aktiven« deutschen Rolle in der Welt oder gar Führungsansprüchen innerhalb Europas. Die Dialog- und Beteiligungsformate sind deshalb auch als Versuch des AA zu verstehen, Bürger*innen und Eliten in ihrer außenpolitischen Haltung anzunähern. Naheliegend ist es, dass Erstere an Letztere herangeführt werden sollen. Allerdings sind die von uns beobachteten Prozesse nicht unidirektional; es gibt – ob nun geplanten oder ungeplanten – Raum für das (Ein-)Wirken der Bürger*innenaktivität.

Die Beteiligungsreihe für die Nationale Sicherheitsstrategie 2022

Gezeigt hat sich dies etwa in der jüngsten Beteiligungsserie im Zuge der Entwicklung der ersten deutschen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSiS). Einzelne Empfehlungen der beteiligten Bürger*innen werden voraussichtlich in das Abschlussdokument aufgenommen – die so nicht von Fachkreisen eingebracht worden wären.2 Die breite öffentliche Beteiligung an der Entwicklung der NSiS war indes ursprünglich nicht geplant gewesen. Nach dem Ausrufen der »Zeitenwende« in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in Folge des russischen Einmarschs in die Ukraine im Frühjahr 2022 wurde das Thema Sicherheit jedoch gesellschaftlich im Alltag so allgegenwärtig, dass es den Verantwortlichen in Berlin nunmehr undenkbar erschien, die Diskussion über sicherheitspolitische Herausforderungen und Bedrohungen allein hinter verschlossenen Türen zu führen.

Aufgelegt wurde eine dreiteilige Bürgerbeteiligungsserie. Zunächst fanden sieben Bürgerdialoge im Sommer 2022 in verschiedenen Regionen Deutschlands statt. Für jeden Dialog wurden jeweils 50 »normale« Bürger*innen auf Basis einer Zufallsauswahl rekrutiert. An zwei dieser Workshops schloss sich zudem ein »Bürgerforum« mit der Außenministerin Annalena Baerbock an, das der breiten Öffentlichkeit zugänglich war. Der zweite Teil bestand aus zwei so genannten »Open Situation Rooms« im AA, bei denen Bürger*innen mit einem fiktiven, aber realistischen außenpolitischen Szenario konfrontiert wurden und unter hohem Zeitdruck zu Handlungsentscheidungen kommen mussten. Schließlich endete die Reihe im September mit einer Abschlussveranstaltung in Erfurt mit der Außenministerin, die insgesamt an rund der Hälfte der genannten Veranstaltungen teilnahm.

Herzstück der Beteiligungsserie waren die Bürgerdialoge, deren zentraler Bestandteil eine etwa zweistündige Kleingruppenarbeit war. Dieser Teil erfolgte stets nach einem vorgegebenen, mehrstufigen Schema. Zunächst wurden die Teilnehmer*innen gebeten, individuell wahrgenommene Sicherheitsbedrohungen zu sammeln. Dann sollten übergeordnete Ziele oder Werte identifiziert werden, die durch diese Bedrohungen gefährdet sind. Abschließend sollten die Teilnehmer*innen Spannungen und Konvergenzen zwischen den drei wichtigsten ermittelten Zielen herausarbeiten. Zum Schluss wurden alle gebeten, sich in diesem Zieldreieck zu positionieren und damit ihre Rangordnung zu verdeutlichen. Am Ende kamen die Teilnehmer*innen zu einer etwa halbstündigen Plenumssitzung zusammen, in der die Ergebnisse vorgestellt wurden. Danach wurde diskutiert – manchmal mit Vertreter*innen des AA und anderer Ministerien; manchmal mit der Ministerin selbst.

Der beträchtliche Umfang der Beteiligungsreihe für die NSiS muss bereits als Ergebnis eines Lernprozesses angesehen werden. Denn sie ist ein vorläufiger Höhepunkt bereits laufender Bemühungen des AA, die Bevölkerung mehr in die Debatte über Außenpolitik einzubeziehen (siehe auch Geis und Pfeifer 2017). Bereits im sogenannten »Review-2014«-Prozess initiierte Außenminister Frank-Walter Steinmeier u.a. Gesprächsformate zwischen Diplomat*innen und Bürger*innen. Seitdem fanden regelmäßig – teils umgewandelt zu Online-Formaten während der Pandemie – verschiedene Formate statt. Die »Bürgerwerkstatt Außenpolitik« brachte etwa seit 2016 jährlich rund 120 Teilnehmer*innen zusammen, die einen Tag lang außenpolitische Themen diskutierten und Politikempfehlungen formulierten.

Friedenspolitische Potentiale

Die vielfältigen Beteiligungsformate lassen ganz unterschiedliche Ergebnisse zu – von konkreten Empfehlungen über simulierte Entscheidungen bis zu (unsichtbarem) Lernen durch Deliberation – und zeitigen daher keine einheitlichen Resultate. Es ist deshalb (noch) schwer zu beurteilen, wie sich Außenpolitik ändern würde, wenn Bürger*innen systematisch und tief in den Meinungs- und Willensbildungsprozess einbezogen würden. Wie weit ihre Empfehlungen überhaupt Berücksichtigung finden, variiert ebenfalls von Format zu Format und sollte keinesfalls überschätzt werden (Pfeifer, Opitz und Geis 2021).

In der Konsequenz gibt es auch im Hinblick auf friedenspolitische Potentiale keine eindeutig feststellbare Tendenz. Aus unserer Forschung lassen sich jedoch einige vorsichtige Einschätzungen ableiten. Wir unterscheiden hierzu zwei Weisen, in denen Bürger*innen friedenspolitisch wirksam werden könnten:

  • Sie könnten sich einerseits gegen die Anwendung militärischer Mittel und somit direkter Gewalt aussprechen. Ob Beteiligung die Einstellung der Bürger*innen grundlegend verändert, ist jedoch noch nicht zweifelsfrei belegt. Aus unseren bisherigen Beobachtungen scheint es so, als behielten sie ihre grundsätzlich skeptische Haltung gegenüber dem Einsatz militärischer Mittel bei, auch wenn sie die Komplexität der Problemlagen anerkennen. Zudem bemerkten wir die Neigung der Teilnehmer*innen, sich in den Debatten auf alltagsbezogene Dimensionen zurückzuziehen, etwa indem sie soziale und ökonomische Ungleichheit oder gesellschaftliche Spaltung thematisieren. Auch wenn diese Probleme mit Außen- und Sicherheitspolitik zusammenhängen, so sind sie nicht im engeren Sinne Gegenstand sicherheitspolitischer Entscheidungen. Von den Bürger*innen ist unseres Erachtens auch nicht zu erwarten, dass sie Entscheidungsempfehlungen für Kontexte entwickeln, die ihnen fremd sind. Allerdings lassen sie damit drängende Fragen nach Verteidigung, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und militärischer Gewaltanwendung offen.
  • Wichtig scheint uns jedoch andererseits der individuelle, aber möglicherweise auch kollektive Lernprozess, der durch Beteiligungsformate im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik einsetzen könnte. Demnach könnte die sicherheitspolitische Deliberation verbreitert und normalisiert und die Qualität der öffentlichen Debatte erhöht werden. Bürger*innen würden über ein besseres Verständnis von struktureller Gewalt auf globaler Ebene und von Konfliktursachen verfügen und den eigenen, transnationalen Beitrag zu solchen Problemlagen sowie deren Rückwirkung auf unseren Alltag erkennen. Bürgerbeteiligung in der Außen- und Sicherheitspolitik würde dann dazu beitragen, unsere Gesellschaft friedenspolitisch zu bilden. Ob dies wiederum jedoch zu einer Außenpolitik führt, die auf die Verminderung von Gewalt und Reduktion globaler Ungleichheit hinwirkt, muss in einer Demokratie notwendig offenbleiben.

Anmerkungen

1) Für mehr Informationen über unsere Forschung siehe citizens-in-foreign-policy.com.

2) Siehe dazu zum Beispiel Sarah Brockmeier im PRIF Talk vom 02.02.2023, blog.prif.org/2023/02/02/podcast-005-die-nationale-sicherheitsstrategie.

Literatur

Czempiel, E.-O. (1996): Kants Theorem. Oder: Warum sind die Demokratien (noch immer) nicht friedlich? Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3 (1), S. 79-101.

Geis, A.; Pfeifer, H. (2017): Deutsche Verantwortung in der »Mitte der Gesellschaft« aushandeln? Über Politisierung und Entpolitisierung der deutschen Außenpolitik. Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 52, S. 218-243.

Huijgh, E. (2019): Public diplomacy at home: Domestic dimensions. Leiden: Brill.

Opitz, C.; Pfeifer, H.; Geis, A. (2022): Engaging with public opinion at the micro-level: Citizen dialogue and participation in German foreign policy. Foreign Policy Analysis 18 (1), S. 1-20.

Pfeifer, H.; Opitz, C.; Geis, A. (2021): Deliberating foreign policy: Perceptions and effects of citizen participation in Germany. German Politics 30 (4), S. 485-502.

Hanna Pfeifer ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Radikalisierungs- und Gewaltforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).
Anna Geis ist Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere Internationale Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.
Christian Opitz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt »Recasting the role of citizens in foreign and security policy?« (citizens-in-foreign-policy.com).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/2 Klimakrise, Seite 54–56