W&F 1996/1

Castor neues Symbol der Anti-Atom-Bewegung

von Wolfgang Ehmke

Gab es in den Anfängen der Anti-AKW-Bewegung Standorte mit hohem symbolischen Wert (Wyhl, Brokdorf, Gorleben oder Wackersdorf), mobilisiert heute der »Castor« Tausende. Die Anti-Atom-Bewegung erlebt einen neuen Frühling. Der Name Castor steht für »Cask for Transport and Storage of Radioactive Materials«. Ein solcher Behälter für Transport und Lagerung hochradioaktiver abgebrannter Brennelemente wurde am 25. April 1995 zum ersten Mal aus dem AKW Philippsburg nach Gorleben transportiert. Der »Tag X« war von massiven Protesten nicht nur im Landkreis Lüchow-Dannenberg begleitet. Im Mai 1996 sollen zwei weitere Transporte auf der Schiene bis Dannenberg rollen. Dort müssen die Behälter – der eine aus Gundremmingen, der andere aus der Wiederaufarbeitungsanlage im französischen Cap de la Hague – umgeladen werden. Auf den letzten 18 km geht es über die Straße in das »Brennelementezwischenlager« nach Gorleben. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mobilisiert deshalb für den »Tag X hoch 2«. Dem Doppelpack soll auch mit doppeltem Widerstand begegnet werden.

Zweifelhafter Entsorgungsbeitrag

Die Kritik am Castor-Konzept ist sehr facettenreich. Grundsätzlich wird bestritten, daß die »zwischenzeitliche Lagerung« in einer Lagerhalle ein veritabler Entsorgungschritt ist. Angesichts eines fehlenden Endlagers ist absehbar, daß die angestrebte Lagerzeit von 40 Jahren weit überschritten wird. Deshalb muß eine solche Lagerung auch unter dem Gesichtspunkt der Langzeitsicherheit betrachtet werden. In Gorleben sollen 420 Behälter auf engstem Raum gelagert werden. Werden alle Stellplätze in Gorleben – und das gleiche gilt analog für Ahaus oder Greifswald mit einer vergleichbaren Lagerkonzeption – genutzt, so wird dort grob geschätzt das radioaktive Inventar von 40 Atomkraftwerken der Biblis-Klasse konzentriert. Die Lagerhallen bieten nicht nur ein Ziel für terroristische Aktivitäten, sie sind auch gegen Flugzeugabsturz nur unzureichend geschützt. Natürlich – und dagegen richten sich auch die Proteste – sind die Atommülltransporte ein zusätzliches Sicherheitsrisiko. Die Aktionen der Castorgegner münden deshalb immer wieder in die zentrale Forderung: Schluß mit der Atommüllproduktion! Geht es um die Kokillen aus der Wiederaufarbeitung, so zielt die Blockade dieser Tranporte auf die Kündigung der Wiederaufarbeitsverträge zwischen deutschen Atomstromproduzenten und der französischen Plutoniumschmiede in Cap de la Hague bzw. dem britischen Sellafield.

Kritik am Castor

Das Behälterkonzept selbst steht in der Diskussion. Mit der Nutzung des Castors als Transport- und Lagerbehälter (TB) für abgebrannte Brennelemente sollen folgende Schutzziele im sogenannten „bestimmungsgemäßen Betrieb“ erreicht werden:

1. Verhinderung einer Kettenreaktion

2. Strahlenabschirmung

3. Abfuhr der Nachzerfallswärme

4. Dichter Einschluß des radioaktiven Behälterinventars. 

Möglichkeit einer Kettenreaktion

In einem TB sind 4, 9 oder 19 Brennelemente (BE) aus Druckwasserreaktoren auf dichtem Raum gepackt. Je nach Auslegung des Behälters gibt es auch unterschiedliche Typenbezeichnungen (Castor Ia, Castor IIa, Castor V/19). Ein Castor V/19 kann z.B. bei mittlerem BE-Abbrand ca. 10 t Uran enthalten, davon ca. 80 kg spaltbares U-235.

Eine Kettenreaktion würde ausgelöst, wenn von den durch spontane Spaltung freigesetzten Neutronen lawinenartig neue Spaltungen ausgelöst würden. Dies kann nach heutigem Erkenntnisstand auch nach Ansicht atomkritischer Wissenschaftler vermieden werden, vorausgesetzt, daß von den Vorschriften z.B. bei der Beladung des Behälters nicht abgewichen wird. Eine Kettenreaktion wäre das Verheerendste, was man sich vorstellen kann, da dann – nehmen wir den Castor IIa als Referenzbeispiel – ein Zehntel des radioaktiven Potentials freigesetzt würde, das in Tschernobyl austrat.

Abschirmung

Radioaktiver Zerfall von Kernen ist auch immer von radioaktiver Strahlung begleitet. Sie wird unterteilt in Alpha-, Beta-, Gamma- und Neutronenstrahlung.

Alpha-Strahler, z.B. Plutoniumstaub, sind Teilchenstrahler. Sie sind leicht abschirmbar, da sie nicht einmal durch ein Blatt Papier dringen. Gefährlich wäre die Freisetzung der radioaktiven Teilchen, würden sie eingeatmet oder verschluckt, nisten sie sich im Körper (z.B. Lunge) ein und verursachen Krebs.

Beta-Strahler sind ebenfalls Teilchenstrahler, nämlich die bekannten Elektronen. Auch diese Strahler sind nicht sehr durchdringend, aber biologisch sehr schädlich, wenn sie in die Haut eindringen oder inkorporiert werden. Das ist immer dann von Bedeutung, wenn die TB undicht werden und somit auch die Teilchenstrahler freigesetzt werden. Besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang haben die gasförmigen Radionuklide Tritium (H-3), Krypton-85 und Jod-129.

Ich unterstelle – was weiter unten zu erläutern sein wird –, daß das Schutzziel „dichter Einschluß…“ nicht in jedem Falle einzuhalten sein wird. Damit ist auch eine Abschirmung der beta-Strahlung nicht hinreichend gewährleistet.

Gamma-Strahlung ist keine Teilchenstrahlung, sondern eine elektromagnetische Welle wie das Licht, aber wesentlich energiereicher und durchdringender. Durch die Abschirmung von 45 cm der TB-Behälterwände (Gußeisen) wird sie nur abgeschächt. Vor allem die Isotope Kobalt (Co-60) und Cäsium (Cs-137) bestimmen über Jahrzehnte die Gammastrahlung. Dieses Schutzziel, die Rückhaltung der Gammastrahlung, ist nicht einzuhalten, da machen uns die Behörden auch gar nichts vor. Es wird lediglich per Genehmigung festgeschrieben, welcher Schaden für die weitere Atomenergienutzung akzeptabel ist.

Das gleiche gilt auch für die Neutronenstrahlung. Die ganz schweren Kerne (Uran, Transurane) haben die Eigenschaft, daß sie auch ohne ein auslösendes Neutron in zwei oder mehr Bruchstücke unter Aussendung von Neutronen zerplatzen (Spontanspaltung). Die Neutronenstrahlung soll durch Bohrungen und Aussparungen im Deckel- und Bodenbereich der TB, die mit Kunststoff ausgelegt werden, gebremst werden. Trotz dieser Absorber durchdringt ein Teil der Neutronen die Behälterwand.

Nach der Genehmigung für das Castorlager in Gorleben darf die Dosisleistung an der Behälteroberfläche für Gamma-Strahlung maximal 0,1 mSv/h und für Neutronenstrahlung 0,15 mSv/h betragen.

Wird diese genehmigte Dosisleistung von den Betreibern voll ausgeschöpft, so hat das folgende Konsequenzen:

Ein Mensch, der sich vier Stunden lang in unmittelbarer Nähe eines TB aufhält, hat damit bereits die nach Strahlenschutzverordnung »zulässige« Jahresdosis erhalten. Für einen Atomarbeiter gelten aber andere Grenzwerte. Dieser hätte nach 200 Stunden Arbeit in unmittelbarer Nähe zum Behälter seine Jahresdosis abgekriegt. Als besonders strahlenexponiert sind anzusehen: Transportbegleiter (Fahrer von Atomtransporten, Rangierer bei der Bahn, Polizei) und natürlich die Arbeiter im AKW bzw. in Gorleben.

Über die biologische Wirksamkeit der Neutronenstrahlung ist durch den Marburger Nuklearmediziner Prof. Horst Kuni ein heftiger wissenschaftlicher Streit entfacht worden, der das gesamte Castorkonzept ins Wanken gebracht hat. Kuni hat nachgerechnet, daß die Bewertung der Schadwirkung von Neutronenstrahlung um den Faktor 30 höher liegen müßte, als es der heutigen Norm entspricht (gegenüber der Gammastrahlung wird heute als »RBW-Faktor« 10 angenommen, d.h. die Gefahr einer Schädigung durch Neutronenstrahlung liegt nur 10fach höher).

Nachzerfallswärme

Von den in einem Castor V/19 befindlichen Brennelementen darf in der Lagerhalle insgesamt eine Wärmeleistung von 39 kW (zur Veranschaulichung: ca 20 Haushaltsradiatoren) erzeugt werden. Um zu verhindern, daß die Brennstabhüllen platzen, muß die Brennstabtemperatur unter 390o bleiben. Die Temperatur der TB-Außenwand beträgt zwischen 65 und 80 Grad Celsius, im Einzelfall bis zu 100 Grad. Die Umgebungsluft in der Halle wird auf über 50 Grad aufgeheizt und mittels Konvektion abgeführt.

Zwei Probleme möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen. Damit die Luftkühlung funktioniert, darf es keinen „Wärmestau“ geben. Daraus erklärt sich auch das Konzept, einfache Leichtbauhallen (sogenannte »Kartoffelscheunen«) als Lagerhallen zu wählen. Da es keine Rückhaltemöglichkeit, keine Filtersysteme oder dergleichen gibt, ist zugleich klar, daß Radioaktivität ungehindert aus dem Lager austreten kann.

Dichter Einschluß

Nicht alles, aber vieles hängt also vom dichten Einschluß der Brennelemente ab. Nicht alles, denn die Gamma- und Neutronenstrahlung, aber auch die Nachzerfallswärme mit der Gefahr des Hüllrohr-Berstens wurde schon thematisiert. Betroffen sind aber in erster Linie die »strahlenexponierten« Personen; nur wenige Menschen kommen mit den TB in Berührung.

Schon anders stellt sich die Lage für Menschen dar, die mit einem Atommülltransport kollidieren, die entlang der Transportestrecken wohnen oder Anwohner der Atommülldeponie sind, vor allem wenn man die Annahmen der Betreiber in zwei weiteren Punkten in Zweifel zieht:

a) hinsichtlich der Hüllrohrschäden,

b) hinsichtlich der Dichtigkeit und des Werkstoffverhaltens des Deckelsystems.

zu a) In punkto Hüllrohrschäden wird in den Sicherheitsberichten in Gorleben eine geschätzte Schadensquote von 10% eingeräumt. Dagegen stehen andere Zahlen und Annahmen: Im Störfallbericht AKW Gundremmingen 1970 heißt es, beim BE-Wechsel sei bei 33 von 143 BE ein Schaden anzunehmen, 1971 bei 38 von 91 BE. Das sieht heute natürlich nicht mehr so schlimm aus. Trotzdem kann die Schadensquote von 10% keinesfalls als real angesehen werden, wenn ein Unfall unterstellt wird.

Bei einem Bruch der BE-Hülle werden in erster Linie die gasförmigen Nuklide Kr-85, J-129 und H-3 freigesetzt.

Was das im Hinblick auf eine Undichtigkeit der Deckel heißt, kann man sich leicht ausmalen.

Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: werden die BE-Behälter nach Jahren, z.B. nach Ablauf der Lagerzeit von 40 Jahren, einmal umkonditioniert (in der »Heissen Zelle« einer Konditionierungsanlage), so können enorme Freisetzungsgrade auftreten.

Im Gegensatz zum Reaktorbetrieb, wo der Innendruck der BS den Kühlmitteldruck von ca. 160 bar teilweise kompensiert, besteht bei der Trockenlagerung ein Überdruck von 80 bis 90 bar im Innern des Hüllrohres. Dieser Druck ist temperaturabhängig. Bei zu hohen Temperaturen kommt es zur Kriechdehnung bis hin zum Bruch. Die Crash-Tests, bei denen BE-Behälter umkippen, vom Kran rutschen oder ein Transport in einen Unfall verwickelt werden, sollen demonstrieren, daß die Behälterwände extreme Belastungen aushalten. Nur: die Tests werden mit leeren Castorbehältern durchgeführt, die Hüllrohre im Innern würden nämlich zu Bruch gehen.

Korrosionsmechanismen werden außer acht gelassen:

In der Fachliteratur ist nachzulesen, daß Wasser z.B. aus dem Abklingbecken durch Mikrorisse ins Innere der BE eindringen kann. Z.B. ist das Alkalimetall Rubidium, ein Folgeprodukt des Zerfalls von Kr-85, in Verbindung mit Wasser chemisch sehr aggressiv.

zu b) Die entscheidende Schwachstelle der Castorbehälter liegt m.E. aber an anderer Stelle: trotz des ausgeklügelten Deckelsystems ist damit zu rechnen, daß Undichtigkeit auftritt, und zwar im Normalbetrieb. Mit anderen Worten, man braucht nicht einmal die Unfallszenarien zu bemühen (was wäre z.B., wenn der Deckel und nicht die Behälterwand aus Gußeisen auf einen Dorn stürzt?).

Die Castorbehälter werden im Innern mit einer Nickelschicht gegen Korrosion versehen. Es ist fraglich, wie diese Nickelschicht auf dem Gußeisen haftet. Die Behälterdichtung ist aber auf dem Nickel und nicht auf dem Gußeisen aufgebracht. Wenn eine solche Nickelschicht im Behälterinneren bricht oder Risse bekommt, nützt die schönste Dichtung nichts, weil die radioaktiven Gase zwischen Gußeisen und Nickelbeschichtung unter der Dichtung nach außen dringen können. Prof. Elmar Schlich, einst Projektleiter der »Nukem« zur Entwicklung eines alternativen Brennelementbehältertyps (»TN 1300«) hat im Rahmen seiner Entwicklungsarbeiten aus diesem möglichen Störfall – der im übrigen nicht einmal feststellbar ist (!) – die Konsequenzen gezogen. Seine Alternativentwicklung »TN 1300« wurde aber ad acta gelegt, weil sie 50% teurer wäre und einen neuen Stand von Technik definiert hätte, die die Zwischenlagerplanungen in Ahaus und Gorleben über den Haufen geschmissen hätte. Prof. Schlich, der heute an der TU Aachen lehrt, gab zu bedenken: selbst bei einem simplen Dampfdrucktopf sitzt die Gummidichtung auch bei emaillierten Töpfen in einem Edelstahldeckel und nicht auf der Emaille.

Am Ende muß der aufgeschweißte Deckel (Fügedeckel) mit einer Stärke von 30 mm die Dichtigkeit garantieren. Das kann er aber nicht. Hier gilt wieder einmal: Wirtschaftlichkeit geht vor Sicherheit.

Grundrechte in Gefahr

Schon der erste Castortransport von Philippsburg nach Gorleben war von einem weitreichenden Demonstrations- und Versammlungsverbot begleitet. Entlang der Transportstrecke und rund um das Brennelementezwischenlager in Gorleben war das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit außer Kraft gesetzt. Für die nächsten Transporte ist mit erneuten Einschränkungen der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit zu rechnen. Obwohl die Veranstaltungen der Bürgerinitiative Umweltschutz (BI) in der Vergangenheit überwiegend friedlich verlaufen sind, unterstellt die Bezirksregierung Lüneburg einen kollektiv unfriedlichen Verlauf. Eine derartige Verbotspraxis ist bereits im Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1985 verworfen worden. Die Bürgerinitiative klagt deshalb vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg gegen die verfassungswidrigen Versammlungsverbote. Die Annahme, daß ein elementares Grundrecht polizeitaktischen Erwägungen geopfert wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Welches Dilemma entsteht, wenn Demonstrationen in unmittelbarer Nähe eines stark radioaktiv verstrahlten Objekts stattfinden, hatte Prof. Jürgen Seifert (Hannover) in einer Expertise für das niedersächsische Innenministerium in April 1992 festgehalten: Die Demonstrationen unterliegen schon aus Gründen der Gefahrenabwehr Restriktionen! Der Atomstaat, wie ihn Robert Jungk prophezeite, tritt nunmehr in Erscheinung:

  • als Demonstration staatlicher Gewalt (14.000 Beamte waren im vergangenen Jahr entlang der Transportestrecken im Einsatz);
  • in Form eines die Grundrechte verletzenden Versammlungsverbots und einer „Güterabwägung“ zugunsten des ungehinderten Transports radioaktiven Materials.

Zu welchen Kapriolen sich die bedrängte Landesregierung in Hannover hinreißen läßt, zeigt die aktuelle Debatte um die Änderung des niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes. Die SPD-Landtagsfraktion hat dazu einen Entwurf vorgelegt, der Aufenthaltsverbote von Personen für Gemeinden vorsieht, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß diese Person dort Straftaten begehen oder zu ihrer Begehung beigetragen wird“. Der Katalog vermeintlicher Straftaten wird flexibel gestaltet, um entsprechend flexibel reagieren zu können. Die Castorgegner/innen gehen davon aus, daß sich diese Gesetzesänderung nicht nur – wie stets behauptet – gegen Veranstaltungen wie die der alljährlichen »Chaostage« in Hannover richtet. Die „Chaoten von morgen“ sind mit Sicherheit wir!

Der Kampf gegen Atomtransporte und für den Ausstieg aus der Atomenergie ist von daher unweigerlich auch ein Kampf gegen den Abbau demokratischer Rechte.

Wolfgang Ehmke ist Pressesprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Danneberg

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/1 Am Tag als der Regen kam, Seite