W&F 2021/4

China auf der Überholspur?

Wie die Innovationsoffensive die Welt verändern könnte

von Claudia Wessling

China will bis 2049 – dem 100. Geburtstag der Volksrepublik – die weltweit führende Wissenschaftsnation sein. In Digitalisierung, Anwendungen der Künstlichen Intelligenz oder auch Biotechnologie hat das Land bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Die bisherigen technologischen und wissenschaftlichen Spitzenreiter in den USA und Europa müssen sich auf diese neue Konkurrenz einstellen. Beijings rigides Vorgehen gegen die der Regierung zu groß gewordenen Tech-Konzerne im eigenen Land stellt die chinesische Innovation im Inneren vor Herausforderungen.

Xi Jinping ist ein Mann der starken Worte: China solle das weltweit wichtigste Zentrum der Wissenschaft und die Hochburg der Innovation“ werden, sagte er im Frühjahr 2021 in einer Rede.1 Während andere Staaten mit der Bewältigung der Corona-Pandemie beschäftigt waren, konnte Chinas Staats- und Parteichef schon wieder weitreichende Zukunftspläne schmieden. Einheimische Innovation sowie die Unabhängigkeit von ausländischer Hochtechnologie und ausländischem Know-How in Industrie und Forschung zu erreichen, lautet das nunmehr von Chinas Führung ausgegebene, langfristige Ziel.

Der Aufstieg zur Technologie-Supermacht ist für Beijing zentral (vgl. Drinhausen et al. 2021, S. 45). Vier Jahrzehnte nach dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping, nach Jahren zweistelligen Wirtschaftswachstums und einem beispiellosen Wirtschaftswunder will China weg von seinem Status als Werkbank der Welt und Forschungs-Entwicklungsland. Erfolge wie die geglückte Entsendung eines Erkundungsfahrzeugs auf den Mars im Mai 2021 oder Jubelmeldungen über Rekord-Berechnungen des Quantensupercomputers »Zuchongzi« zeugen von diesem Anspruch und dem Druck, der diesen begleitet.

Notwendige Innovation für die Wohlstandsziele

Wissenschaftlicher Fortschritt und Innovationserfolge (etwa in der Digitalwirtschaft) sind für Xis Kommunistische Partei (KPCh) auch Legitimation der eigenen Herrschaft. Die KPCh verspricht der Bevölkerung, bis 2035 das Wachstum der Wirtschaft zu verdoppeln und einen »gemeinsamen Wohlstand« zu verwirklichen. Mit Billigproduktion allein ist dies nicht zu realisieren angesichts steigender Einkommen, einer alternden Bevölkerung und drängender Umweltprobleme. China braucht, so sieht es die KPCh, qualitativ hochwertige Wertschöpfung.

Umfassend angelegte Strategien wie »Made in China 2025« von 2015 zielen auf grundlegende Modernisierung der chinesischen Industrie, fokussiert auf zehn Schlüsselbereiche (vgl. Abbildung S. 35). Dazu gehören Biomedizin und -technologie, IT der nächsten Generation, Robotik, Erneuerbare Energien und Schienentransporttechnik. Durch die Einrichtung von »Pilotzonen« im ganzen Land, hohe finanzielle Zuschüsse vor allem für Staatsunternehmen und günstige regulatorische Bedingungen schafft der Staat die Voraussetzungen. Solche Wirtschaftslenkung von oben nach unten ist auch in China nicht immer unmittelbar erfolgreich. Doch Zentralregierung und Provinzen haben durch flexible Nachjustierung der Fehlallokation von Ressourcen mitunter durchaus wirksam entgegengesteuert.

Zu Beijings Strategien gehört auch, die heimische Industrie vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Ein Beispiel ist die chinesische Automobilindustrie, insbesondere bei E-Autos und den dazugehörigen Batterien. Chinesischen Unternehmen wurde durch Marktbeschränkungen ermöglicht, in einem geschützten Umfeld heranzureifen und über Joint Ventures mit ausländischen Herstellern Technologien zu erwerben.

Wissenschaftszusammenarbeit und Talentgewinnung

Industrie- und Wissenschaftspolitik ­sollen zur Umsetzung von Chinas Innovationsambition Hand in Hand gehen. Nach den Angaben im aktuellen 14. Fünfjahresplan hat Beijing 2020 2,5 % des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Entwicklung (F&E) aufgewendet. Das ist prozentual weniger als die meisten Industriestaaten, doch dieser Anteil soll weiter steigen. Dass F&E-Investitionen in China vor allem vom Staat und Staatsunternehmen getätigt werden, verdeutlicht ebenfalls, wie eng Forschung und nationale Entwicklungspläne verknüpft sind (vgl. Abbildung 2, S. 35).

Ausländische Forschende und Forschungsinstitutionen spielen für Chinas Ambitionen ebenfalls eine zentrale Rolle, da dem Land in vielen Bereichen das Know-How noch fehlt. Erfolgsmeldungen stützen sich häufig auf Kooperationen mit renommierten Forschenden im Ausland oder gehen auf im Ausland ausgebildete chinesische Wissenschaftler*innen zurück.

Massive finanzielle Förderung steckte China daher auch in das sogenannte »1.000-Talente«-Programm und andere Förderformate, durch die begabte chinesische, aber auch ausländische Forschende in die Volksrepublik gelockt werden sollten. Zwischen 2008 und 2016 kamen nach Schätzungen eines US-Senatskomitees etwa 60.000 ins Land (zurück). Die Ausgewählten erhalten hohe Gehälter, Boni und Visumsprivilegien.

China hat sich auch oder gerade wegen der hohen Innovationsdynamik in naturwissenschaftlich-technischen Forschungsbereichen (wie Biotechnologie oder ITC), ungeachtet aller politisch-systemischen Differenzen und Kritik an Forschungsdatensicherheit sowie Herausforderungen in der Zusammenarbeit, zu einem interessanten Forschungsstandort entwickelt.

Digitale Innovationen auch für Kontrolle und Überwachung

Es sind vor allem »Privatunternehmen«, die zum Beispiel in der Digitalisierung China an die Weltspitze haben vorrücken lassen: Huawei etwa ist bei der Entwicklung des aktuellen Telekommunikationsstandards 5G weltweit führend. Der frühere Internethändler Alibaba hat sich binnen 20 Jahren zu einem Digitalriesen mit einem Jahresumsatz von 72 Mrd. US$ gemausert. Das von der Gruppe betriebene Online-Bezahlsystem Alipay hat mehr als eine halbe Milliarde Nutzer*innen und ist aus Chinas Geschäftsleben nicht mehr wegzudenken.

Auf Alibaba geht auch das Bonitätsbewertungssystem »Sesame Credit« zurück, das der chinesischen Regierung als eine Art Blaupause für das im Aufbau befindliche »Social Credit System« dient. Ein digitales Werkzeug, mit dem Beijing seine Bürger*innen und Unternehmen nach eigenem Bekunden zu wirtschaftlichem, aber auch gesellschaftlichem Wohlverhalten lenken will.

Das System ist nach Beobachtung von China-Expert*innen noch lange nicht so umfassend verfügbar wie von Beijing gewünscht. Eher gibt es viele voneinander getrennte, von Städten oder Provinzen oder auch Unternehmen betriebene Systeme. Doch auch wenn diese noch nicht ineinandergreifen: Der Vergleich mit einem Orwellschen Überwachungsstaat liegt kritischen Beobachter*innen auf der Zunge. Auch andere Digitalprodukte chinesischer Firmen, etwa Gesichtserkennungs- oder Tracking­software, werden vom Staat für Überwachung eingesetzt; die viel diskutierte staatliche Überwachung in der Provinz Xinjiang scheint davon zu profitieren.

Das zeigt: Auch in China ist das Vorantreiben der Entwicklung digitaler Technologien verbunden mit den daraus erwachsenden Möglichkeiten der Kontrolle. Mit Blick auf China haben Expert*innen den Begriff des „digitalen Autoritarismus“ geprägt (Yaybroke 2020). Mehr als 980 Mio. Internetnutzer*innen gibt es heute in China, das sind etwa 70 Prozent der Bevölkerung. Die Informationsströme in diesem Raum zu kontrollieren, liegt klar erkennbar im Interesse der chinesischen Führung. China, so formulieren es offizielle Vertreter*innen immer wieder, brauche ein „gesundes Internet“, das „positive Energie“ verbreitet (vgl. Zhang 2021).

Staatliche Regulierung als Wohlfahrts- oder Machtpolitik?

Von ausländischen Einflüssen ist Chinas Internet schon seit den frühen 2000er Jahren durch eine »Great Firewall« abgeschottet: Westliche Plattformen wie Facebook, What’s App oder Twitter sind nicht zugelassen. Chinesische Netizens nutzen Wechat, Weibo und andere einheimische Tools. Diese werden streng zensiert. Es ist nicht zuletzt diese konsequente Abschottung von ausländischer Konkurrenz – gepaart mit einer langjährig schwachen Regulierungspolitik – die Chinas Digitalwirtschaft ermöglichte, ihre eigenen Ökosysteme aufzubauen.

Ob die Innovation in diesem Bereich in China allerdings weiter so voranschreiten wird wie im vergangenen Jahrzehnt, ist derzeit fraglich: Nachdem Beijing die Digitalkonzerne wie Alibaba, Tencent oder Baidu lange ohne strenge Regulierung gewähren und wachsen ließ, hat die Regierung von Xi nun eine Kampagne gegen deren „irrationale Kapitalexpansion“ und „barbarisches Wachstum“ gestartet (vgl. Shen 2021). Xi will soziale Spannungen angesichts der Kluft zwischen immer noch weit verbreiteter Armut und dem enormen Reichtum von Self­made-Milliardär *innen wie Alibaba-Gründer Jack Ma auflösen. Gleichzeitig ist auch zu vermuten, dass dem Staats- und Parteichef manche Wirtschaftsgrößen einfach zu mächtig werden und es sich bei der Regulierung mehr um Machtpolitik handelt.

In der Bevölkerung kommt Xis Ver­sprechen eines gemeinschaftlichen, gleichmäßiger verteilten Wohlstands laut offiziellen Medien gut an. Ob allerdings stärker unter der Kontrolle der Partei stehende Digitalunternehmen noch so innovative Ideen hervorbringen werden, dass sie zu diesem Wohlstand beitragen können, ist eine große Unbekannte in Chinas wirtschaftlicher Innovations­formel.

Globale Konkurrenz unter Zugzwang

Obwohl die Stärke der chinesischen Digitalwirtschaft bislang in der schnellen Umsetzung von der Idee zur Anwendung lag, holt Chinas Digitalwirtschaft auch im Highend-Segment auf: So hat erst in diesem Jahr das Staatsunternehmen BOE den Zuschlag bekommen, faltbare Displays für das neueste iPhone von Apple zu produzieren – und macht damit den koreanischen Platzhirschen von LG und Samsung Konkurrenz (Li et al 2021). Nicht nur deswegen steigt Chinas Interesse an der Sicherung globaler Wertstoffe und Seltener Erden – der globale Wettlauf hat begonnen (vgl. Raimondi 2021).

Ähnlich ergeht es der globalen Autoindustrie: Chinas Unternehmen setzen, unterstützt von der Regierung, in diesem Segment auf neue emissionsarme und energiesparende Technologien (vgl. u.a. Dittmer 2021). Dazu gehört die Batterie- und Ladetechnik, bei der China künftig auch auf dem europäischen Markt mitwirken und Standards setzen will. Noch stecken diese Ambitionen in den Kinderschuhen, doch können sich chinesische Hersteller auf einen riesigen einheimischen Markt stützen. 20 Mio. PKW wurden allein 2020 verkauft.

Es ist nicht zu leugnen: Die hiesige Autoindustrie, die zu lange allein auf Verbrennungsmotoren setzte, muss auch wegen der Dynamik in China ihre veralteten Konzepte überdenken. Positiv gewendet entsteht durch den Druck aus China eine Chance. Allerdings stellt sich neben der Zukunft des Individualverkehrs auch schlicht die Frage, ob es den traditionellen Autobauern noch rechtzeitig gelingen kann, hier wieder aufzuschließen, oder ob chinesische Hersteller schon in nicht allzu ferner Zukunft im Bereich E-Mobilität auch die europäischen Märkte maßgeblich mitbestimmen.

Innovative Technologien für globalen Einfluss

Chinas zielgerichtete Strategie, Schlüsseltechnologien selbst zu entwickeln und global zu vermarkten, hat mitunter erhebliche sicherheitspolitische Implikationen. So wurde in Institutionen für Cybersicherheit weltweit mit Sorge betrachtet, dass Huawei und andere chinesische Hersteller sich in der Telekommunikation mit ihren Hardwareprodukten und ihren Beiträgen zu Standards wie 5G tief in globalen sensiblen Infrastrukturen verankern. Dies führte, neben anderen Befürchtungen um eine zu starke wirtschaftliche Abhängigkeit von chinesischen Produkten, zur Eskalation des Technologie- und Handelskonflikts mit den USA.

Es wird bis auf weiteres schwierig bleiben, eine Manipulation von chinesischer Technologie mit dem Ziel der Zensur oder Spionage eindeutig nachzuweisen. Zu denken geben muss in diesem Kontext allerdings das 2017 verabschiedete Nationale Geheimdienstgesetz. Mit diesem machte Beijing, nach Ansicht von Expert*innen, jede Bürger*in und jedes Unternehmen für die Staatssicherheit mit verantwortlich und verpflichtet diese, relevante Daten – auch aus dem Ausland – an die chinesische Regierung zu übergeben (vgl. Hoffman und Kania 2018).

Doch auch für den direkten Einsatz in der IT-Spionage hat China offenkundig in den vergangenen Jahren erhebliche und gefährliche Expertise aufgebaut: Die weltweite und bis heute nachwirkende Attacke auf Microsoft Exchange Server von zehntausenden Organisationen Anfang diesen Jahres geht nach Angaben aus Sicherheitskreisen der USA, der EU und Großbritanniens auf eine vermutlich mit der chinesischen Regierung verknüpfte Hackergruppe zurück.

Auch die in den letzten Jahren viel mit Blick auf westliche Industriestaaten diskutierte Einflussnahme auf Wahlen hat ihren traurigen Platz gefunden: Taiwan, das die Volksrepublik China als abtrünnige Provinz betrachtet, muss sich seit Jahren gegen chinesische Desinformationskampagnen zur Wehr setzen, die immer wieder bei anstehenden Wahlen durch die sozialen Medien der Inselrepublik rollen (vgl. Krumbein 2002, S. 5f.).

Was bleibt? Konkurrenz und Konfliktpotential

Der Ausbau und die sich neu entwickelnde Selbstständigkeit Chinas bei der (digitalen) Innovation in Schlüsseltechnologien hat spürbare Effekte auf die restliche Welt: neuer Konkurrenzdruck auf den Märkten, das Ringen um Köpfe in Wissenschaft und Forschung, Einflussnahme in verschiedener Hinsicht. Dies bestärkt die nicht nur ideologisch, sondern auch von wirtschaftlichen Motiven getriebene Konkurrenz zwischen dem Westen und China.

Dies offenbart sich derzeit auch militärisch im Indopazifik: Um Chinas geostrategischen Ambitionen ein Gegengewicht zu bieten, haben die USA, Großbritannien und Australien gerade das Sicherheitsbündnis AUKUS geschlossen. Das vermag zwar der Innovationsinitiative nicht viel entgegenzusetzen, kann aber als unverhohlenes Zeichen verstanden werden, dass China klar als »systemischer Konkurrent« und »Bedrohung« wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite rüstet das chinesische Militär (und gerade seine Marine) langsam zwar, aber stetig auf. Die Spannungen wachsen sichtbar.

Anmerkung

1) Vgl. Xi Jinping: Danach streben, ein weltweites Zentrum der Wissenschaft und eine Hochburg der Innovation zu werden (习近平:努力成为世界主要科学中心和创新高地, 来源). Erschienen in »Qiushi« (qstheory.cn), 15. März 2021.

Literatur

Drinhausen, K.; Huotari, M.; Lee, J.; Legarda, H. (2021): The CCP‘s next century. Expanding economic control, digital governance and national security. MERICS Studie 10/2021 (Juni 2021).

Kang, J. (2020): The Thousand Talents Plan is part of China’s long quest to become the global scientific leader. The Conversation, 01.09.2020.

Li, L. et al. (2021): “Apple taps China’s BOE for premium displays for iPhone 13”. Nikkei Asia, 13.10.2021

Raimondi, P. P. (2021): The Scramble for Africa’s Rare Earths: China is not Alone. Italian Institute for International Studies, Juni 2021.

Shen, X. (2021): Xi Jinping says Big Tech crackdown is making progress, calls for Communist Party to ‚guide‘ companies. South China Morning Post, 31.08.2021.

Dittmer, D. (2021): Setzt China den neuen Standard in der E-Mobilität? n-tv, 08.10.2021.

Hoffman, S.; Kania, E. (2018): Huawei and the ambiguity of China’s intelligence and counter-espionage laws. ASPI, 13.09.2018.

Zhang, W. (2021): For Party Centenary, China Wants More ‘Positive Energy’ Online. Sixth Tone, 01.02.2021.

Yaybroke, E. (2020): Promote and Build: A Strategic Approach to Digital Authoritarianism. CSIS Briefs, 15.10.2020.

Krumbein, F. (2020): Taiwan’s Threatened Democracy Stays on Course. SWP-Comment, 07.02.2020.

Claudia Wessling leitet Kommunikation und Publikationen am Mercator Institute for China Studies (MERICS). Die Wissenschaftsjournalistin und Übersetzerin beschäftigt sich thematisch u.a. mit der Digitalisierung in China und der »Neuen Seidenstraße«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/4 Chinas Welt? – Zwischen Konflikt und Kooperation, Seite 34–37