China und der Westen:
Neuer Kalter Krieg?
von Marius Pletsch und Jürgen Scheffran
Vor genau 20 Jahren hatte sich Wissenschaft und Frieden zuletzt schwerpunktmäßig mit der Volksrepublik China beschäftigt. Der Titel des Beitrages von Jörn Brömmelhörster passt auch heute noch: „Partnerschaft oder Konfrontation“ (vgl. 4/2001). Es lohnt, sich die damalige Situation vor Augen zu führen, in der kritische Ereignisse ohne größere Eskalation bewältigt werden konnten. Hierzu gehört die US-Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 während des Kosovo-Krieges oder die Kollision eines amerikanischen Spionageflugzeugs mit einem chinesischen Abfangjäger 2001, wobei die US-Maschine in China notlanden musste und der chinesische Pilot nie gefunden wurde. Würden solche Situationen auch heute noch ohne militärische Eskalation enden?
Im Rahmen ihres Modernisierungsprojekts ist die Volksrepublik enorm gewachsen (siehe den Beitrag von Chunchun Hu), wie man an den Zahlen der Weltbank sieht: Das Bruttoinlandsprodukt wuchs im Zeitraum von 2001 bis 2021 von 1,34 Bio. US $ auf geschätzte 16,64 Bio. US $, in den letzten zehn Jahren hat es sich verdreifacht. Unter der fraglichen nationalen Armutsgrenze lebten 2019 weniger als 0,6 % der Bevölkerung statt 49,8 % wie noch im Jahr 2000; die Lebenserwartung stieg in diesem Zeitraum erheblich und die Bevölkerung wuchs vor allem in urbanen Räumen (vgl. Florian Thünken). Obwohl China mittlerweile die Klimaneutralität bis 2060 anstrebt, haben die CO2-Emissionen zugenommen, von 2,8 Tonnen pro Kopf im Jahr 2001 auf 7,4 (2018) (vgl. Anja Senz). Dieses Wachstum birgt in vielen Bereichen aber auch ein enormes Konfliktpotenzial, sowohl im Inneren wie im Äußeren.
Außenpolitisch ist die Situation stark von einem Antagonismus geprägt: Während die USA derzeit erneut um ihre globalpolitische Führungsrolle kämpfen, versucht China, seinen Einfluss stetig auszuweiten. Mit den »Neuen Seidenstraßen« entsteht ein Netz von Infrastrukturprojekten von Ostasien bis Europa und Afrika. Bei Schlüsseltechnologien fordert China Europa, Japan und die USA heraus (vgl. Claudia Wessling). Auch verfügt China mittlerweile über die Mittel, militärisch mitzuhalten. Laut SIPRI wuchsen die Militärausgaben zwischen 2001 und 2020 von 48,8 auf 252,3 Mrd. US $ an, etwa ein Drittel der USA, und auch eine Modernisierung der Atomwaffen ist im Gange (vgl. Lutz Unterseher).
Es zeichnen sich Konflikte und ein neues Wettrüsten zwischen China und den westlich orientierten Staaten ab. Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs (6/2021) spricht von einem neuen Kalten Krieg, nun vor allem mit China, das im Westen als doppelte Bedrohung angesehen wird: politisch-ideologisch als kommunistischer Systemrivale und wirtschaftlich-technologisch als kapitalistischer Konkurrent (vgl. Wolfgang Müller). Fokus der Konflikte ist derzeit besonders das Südchinesische Meer. Wachsende Spannungen zwischen China und Taiwan zeigen sich an der Zahl der beobachteten chinesischen Militärflüge in die Luftverteidigungsidentifikationszone Taiwans, das wie Hongkong als chinesisches Territorium angesehen wird. Dies heizt die mediale Berichterstattung im Westen über das Feindbild China an (siehe den Beitrag von Mechthild Leutner), während China der Welt seine koloniale Unterdrückung in Erinnerung ruft. Anders als Staaten wie die USA, hat China keine vergleichbare Geschichte weltweiter militärischer Interventionen. Dass die USA ihre Bereitschaft erklären, Taiwan zu verteidigen, dürfte chinesische Bedrohungswahrnehmungen noch steigern. Sieht so das Skript zum Dritten Weltkrieg aus?
Der Konflikt zwischen der aufstrebenden Macht China und der vermeintlich absteigenden Macht USA beeinflusst zunehmend die Weltpolitik, vor allem im Indo-Pazifik-Raum. Nach dem Handelskrieg Donald Trumps schmieden die USA nun unter Präsident Joe Biden Bündnisse gegen China, wie die QUAD-Allianz mit Indien, Australien und Japan oder das Militärbündnis von Australien, Großbritannien und USA (AUKUS). Die Lieferung nukleargetriebener U-Boote löste Verstimmungen mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron aus und stieß auch bei den europäischen Verbündeten auf Unbehagen. Australien provoziert damit Konflikte und könnte selbst Ziel eines Nuklearkrieges werden. Am Ende könnte die gesamte Region hochgerüstet sein. Durch die Verschiebung von US-Interessen wird der Ruf nach europäischer Autonomie lauter, zugleich entwickelt die NATO Ambitionen weit außerhalb des Bündnisgebiets. Einen Überblick über die verschiedenen Akteure und Konflikte im Indo-Pazifik gibt der Beitrag von Uwe Hoering, und Andreas Seifert skizziert die unklar ambivalente Einstellung europäischer Institutionen und Staaten zu China.
Vieles in China deutet auf eine Konfrontation im Verhältnis USA-China hin, obwohl doch die Zusammenarbeit für die Bewältigung gemeinsamer globaler Herausforderungen wie Pandemie, Flucht und Klimawandel in der multipolaren Welt dringlicher denn je ist. Welche Rolle die Zivilgesellschaft dabei spielen kann, ist eine offene Frage (vgl. Joanna Klabisch und Christian Straube), ebenso wie stabil China gegenüber den rasanten Entwicklungen ist.
Marius Pletsch und Jürgen Scheffran