W&F 2020/3

COVID-19 und Frieden

Wie sich die Pandemie auf den Frieden auswirkt

von Institute for Economics & Peace

Das in Sydney ansässige Institute for Economics & Peace (IEP) erstellt seit 2008 jährlich einen »Global Peace Index« und versucht darin, eine Bemessungsgrundlage für die Friedfertigkeit von Ländern auf der ganzen Welt aufzustellen. Außerdem wurde ein »Positive Peace Index« entwickelt, um Haltungen, Institutionen und Strukturen zu vermessen, die nötig sind, um friedliche Gesellschaften zu schaffen und zu bewahren. Außerdem werden Peace-­Indizes zur Verfügung gestellt für Mexiko, das Vereinigte Königreich und die USA und zum globalen Terrorismus. Im Juni 2020 wurde zusätzlich ein Peace Index zusammengestellt, um die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den globalen Frieden abzuschätzen.1 W&F dokumentiert aus diesem Bericht die Zusammenfassung (S. 2) sowie eine Übersichtstabelle (S. 4), um einen Eindruck zu vermitteln, wie friedensrelevante Bereiche von COVID-19 betroffen sind.

  • Der sozioökonomische Faktor, der am unmittelbarsten mit der Anzahl von COVID-19-Infektionen korreliert, ist das Ausmaß des Flugverkehrs. In Frankreich, Italien, Spanien, dem Vereinigten Königreich und den USA gibt es mit die höchsten Flugverkehrsraten weltweit.
  • Die Pandemie hat die Spannungen zwischen den USA und anderen Ländern, wie China, erhöht; dabei geht es um die Rolle der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Handelskonflikte und die Herkunft des Virus. Die Spannungen werden angesichts der anhaltenden Konjunkturschwäche wahrscheinlich weiter zunehmen.
  • Die meisten Indikatoren im Global Peace Index werden sich voraussichtlich verschlechtern. Der Bereich, der sich [unter Friedensgesichtspunkten; R.H.] positiv entwickeln könnte, sind die Militärausgaben, wenn die Länder Finanzmittel umlenken, um ihre Wirtschaft zu stützen.
  • Es steht zu erwarten, dass in Europa die politische Instabilität wächst, einschließlich Unruhen und Generalstreiks, die bereits im vergangenen Jahrzehnt zunahmen.
  • Kürzungen bei der Entwicklungs­hilfe werden fragile und von Konflikten betroffene Staaten zusätzlich belasten, z.B. Liberia, Afghanistan, Burundi und Südsudan, die in hohem Maße auf internationale Hilfsgelder angewiesen sind.
  • Länder mit schlechter Bonität, wie Brasilien, Pakistan, Argentinien und Venezuela, können möglicherweise nicht mehr genug Geld leihen, um die konjunkturelle Erholung zu unterstützen, was zu einem Anstieg von politischer Instabilität, Unruhen und Gewalt führt.
  • Bei schrumpfender Wirtschaft wird es den Ländern schwerer fallen, ihre vorhandenen Schulden zurückzuzahlen. Die Kombination von Verschuldung und schwacher Wirtschaft führt absehbar zu einem Anstieg von Armut, politischer Instabilität und gewalttätigen Demonstrationen. Libanon kann seine Anleihen nicht mehr bedienen, was zum Zusammenbruch der Wirtschaft und zu gewalttätigen Straßenkämpfen führt.
  • Der Welt fehlt ein glaubwürdiges Konzept für den Umgang mit dieser Krise. Die Folgen schärfen voraussichtlich den Blick auf andere sozioökonomische Faktoren, die schon länger gären, wie die wachsende Ungleichheit der Vermögensverteilung, schlechtere Arbeitsbedingungen in entwickelten Ländern und die zunehmende Entfremdung vom politischen System.
  • Der massive Sturz der Ölpreise wird sich auf politische Systeme im Nahen Osten auswirken, insbesondere in Saudi-Arabien, Irak und Iran, was zu einem Zusammenbruch der Schieferölindustrie in den USA führen kann, sofern die Ölpreise nicht zum vorherigen Niveau zurückkehren.
  • Die Pandemie könnte Iraks Fähigkeit beschränken, Aufstände des »Islamischen Staates« zu bekämpfen.
  • Viele Länder werden Schwierigkeiten haben, teure Interventionen zu finanziert. Beispiele sind Saudi-Arabiens Unterstützung der Regierung des benachbarten Jemen, die türkische und russische Unterstützung in Syrien oder Irans Unterstützung für Milizen, wie die Hisbollah.
  • Iran hat gewarnt, die Pandemie sei eine Bedrohung für seine innere Sicherheit, da sie die Folgen der von den USA angeführten Sanktionen verstärke.
  • Die Pandemie und der schwache Ölmarkt verschlimmern die humanitäre Krise und die innere Sicherheit in Venezuela. Pandemiebedingt schlossen außerdem Kolumbien, Brasilien und andere Länder ihre Grenzen zu Venezuela, was für schutzbedürftige Venezolaner*innen zusätzliche Härten mit sich bringt.
  • Mit schrumpfender Wirtschaft in den OECD-Ländern2 werden voraussichtlich mehr Regierungen ihre Beiträge für UN-Peacekeeping-Missionen kürzen.
  • Der Wirtschaftsabschwung wird sich negativ auf die Ernährungssicherheit auswirken. Schon vor Beginn der Pandemie waren 113 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. In Ländern wie Venezuela, Burundi und Jemen wird die Nahrungsmittelknappheit zunehmen.
  • In den USA, Deutschland, Frankreich und Polen gibt es Proteste gegen die Lockdown-Regeln. Millionen Brasilianer*innen demonstrierten in Sao Paulo und Rio de Janeiro gegen den Umgang ihrer Regierung mit der Pandemie.
  • Gefängnisausbrüche wurden aus Venezuela, Brasilien und Italien berichtet, wo Häftlinge mit Gewalt auf die neuen Einschränkungen reagieren, die wegen COVID-19 verhängt wurden.
  • Drogenhandel und andere Formen von Kriminalität sanken vorübergehend aufgrund der Distanzregeln überall in der Welt. Dafür steigen die Fälle von häuslicher Gewalt, Selbstmord und psychischen Erkrankungen.
  • OECD-Länder, die aufgrund funktionierender Regierungen im »Positiver-Frieden-Index« weiter oben rangieren, sind in der Lage, einen höheren Anteil ihrer Bevölkerung auf COVID-19 zu testen.
Index Bereich Indikator Erwartete Auswirkung Anmerkung
Globaler Friedensindex Sicherheit [Safety und Security] Zugang zu Kleinwaffen Verschlechterung Waffenkäufe in den USA steigen während der Pandemie.
Politische Instabilität Verschlechterung Wachsende wirtschaftliche Unsicherheit führt zu Druck auf die Regierungen. In Europa ist ein Anstieg von Unruhen und Generalstreiks zu erwarten, die bereits im vergangenen Jahrzehnt erheblich zugenommen haben. In Libanon kam es zu gewalttätigen Demonstrationen aufgrund der Nahrungsmittelknappheit und der Unfähigkeit der Regierung, Anleihen zu bedienen.
Politischer Terror Voraussichtliche Verschlechterung Die politische Instabilität aufgrund der Wirtschaftskrise wird dazu führen, dass manche Regierungen die Repression verschärfen; andere werden die Lockdowns nutzen, um persönliche Freiheiten gesetzlich einzuschränken.
Gewalttätige Demonstrationen Verschlechterung Proteste gegen Lockdown-Maßnahmen gibt es bereits in der EU, in den USA, in Brasilien und im Nahen und Mittlere Osten.
Bestehender Konflikt Intensität von internem Konflikt Unsicher Bei sinkender humanitärer Hilfe wird es wahrscheinlicher, dass das entstehende Machtvakuum zu Spannungen führt oder diese verstärkt.
Beziehungen zwischen Nachbarländern Unsicher Wachsende Spannungen zwischen den USA und China und Abhängigkeiten bei den Lieferketten werden andere Länder dazu veranlassen, ihre bisherigen internationalen Kooperationen zu überprüfen. Der Handel wird sinken.
Militarisierung Finanzierung von UN-Peacekeeping-Missionen Deutliche Verschlechterung Mit schrumpfender Wirtschaft in den OECD-Ländern werden voraussichtlich mehr Länder ihre Beiträge für UN-Peacekeeping-Missionen kürzen.
Militärausgaben in Prozent des BIP Unsicher Der Anteil der Militärausgaben wird vermutlich sinken, wenn Regierungen, besonders in OECD-Ländern, Finanzmittel umlenken, um ihre Wirtschaft zu stützen.
Gute Beziehungen zu Nachbarländern Besucher pro 100.000 Einwohner*innen Deutliche Verschlechterung Es wird viele Jahre dauern, bis der globale Tourismus wieder das Niveau von 2019 erreicht.
Positive wirtschaftliche Rahmenbedingungen BIP pro Kopf Deutliche Verschlechterung Die globalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen werden bei schrumpfender Wirtschaft leiden. In einigen Ländern wird die Wirtschaft zusammenbrechen aufgrund von Kreditausfällen (Libanon), fehlenden Kreditmöglichkeiten (Brasilien) oder hoher Inflationsrate (Argentinien).
Positiver Friedensindex Hohes Niveau an Humankapital Jugend nicht in Arbeit, Schule oder Ausbildung Deutliche Verschlechterung Unmittelbar wurden die Sektoren am stärksten von der schrumpfenden Wirtschaft getroffen, in denen junge Menschen arbeiten. Hohe Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Gewalt.
Gerechte Verteilung der Ressourcen Armutsquote bei 5,50 US$ pro Tag Deutliche Verschlechterung Die global sinkende Wirtschaft und die Unterbrechung der Handelsströme wird in den meisten entwickelten und Schwellenländern die Armutsquote erhöhen.
Akzeptanz der Rechte anderer Gruppenbezogene Beschwerden Deutliche Verschlechterung In vielen Ländern wächst die Feindseligkeit gegen Minderheiten, insbesondere gegen Menschen chinesischer Herkunft.

Tab. 1: Voraussichtliche Entwicklung beim Globalen Friedensindex und beim Friedensindex durch die COVID-19-Pandemie

Anmerkung

1) Die »Peace Index«-Berichte stehen auf ­visionofhumanity.org online.

2) OEDC = Organisation for Economic Co-oper­ation and Development; dt. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Übersetzt von Regina Hagen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/3 Der kranke Planet, Seite 11–12