Covid-19 vor dem IStGH
Zivilgesellschaftliche Ermittlungsersuchen zur brasilianischen Gesundheitspolitik
von Tobias Römer
Zivilgesellschaftliche Akteur*innen nutzen nicht selten das Mittel der strategischen Prozessführung. Dabei werden gezielt juristische Verfahren eingeleitet, deren Wirkung über den eigentlichen Prozess hinausgeht. Jüngstes Beispiel im Völkerstrafrecht ist der Versuch brasilianischer Organisationen, Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen den Präsidenten des Landes aufgrund seiner Covid-19 Politik zu erreichen. Der folgende Artikel bemüht sich um eine rechtliche Verortung einiger mit den Vorwürfen verbundener Problematiken. Sie offenbaren das Potential strategischer Prozessführung für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts sowie das Risiko für die Initiator*innen.
Während die meisten Staaten weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19 Pandemie ergreifen, spielt die brasilianische Regierung die Gefahr bis heute herunter und spricht sich öffentlich gegen Schutzmaßnahmen aus. Nachdem die nationalen Behörden die Einleitung von Strafverfahren gegen Jair Bolsonaro ablehnten, erreichten mehrere als »Klageschriften« bezeichnete Schreiben die Chefanklägerin des IStGH. Darin heißt es, sie solle eigeninitiativ Ermittlungen aufnehmen, weil die brasilianische Justiz nicht willens oder in der Lage sei, ein entsprechendes Verfahren durchzuführen. Die Gesundheitspolitik Bolsonaros habe zu einer unkontrollierten Ausbreitung des Virus sowie zu zahlreichen Todesfällen geführt und stelle ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Die bekanntesten Schreiben stammen von der »Brazilian Association of Jurists for Democracy« (ABJD 2020) sowie einem Zusammenschluss verschiedener Gewerkschaften (UNI Global Union et al. 2020).
Formale Verfahrensvoraussetzungen
Gemäß Art. 15 Abs. 1 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGHSt) kann die Ankläger*in eigeninitiativ, auf Grundlage von Informationen über Verbrechen, die unter die Gerichtsbarkeit des IStGH fallen, Ermittlungen einleiten. Jedermann ist zur Übermittlung der Informationen berechtigt, wodurch auch solche Verbrechen vor Gericht gelangen können, deren Aufklärung nicht im staatlichen Interesse liegt. Die Ermittlungen hängen jedoch von einer richterlichen Genehmigung ab (Art. 15 Abs. 3 IStGHSt). Hierfür muss die Ankläger*in darlegen, dass ein hinreichender Verdacht für das Vorliegen von Verbrechen innerhalb der Zuständigkeit des Gerichts besteht (IStGH 2020, Rn. 34).
Brasilien ist Mitglied des Statuts, weswegen der IStGH potentiell Gerichtsbarkeit ausüben kann. Bolsonaros Immunität als Staatsoberhaupt steht dem nicht im Weg (Art. 27 Abs. 2 IStGHSt). Allerdings übt der IStGH seine Gerichtsbarkeit gegenüber allen Verantwortlichen völkerrechtlicher Verbrechen einer Situation aus und nicht bloß gegenüber vorbezeichneten Einzelpersonen (vgl. dazu Rastan 2008, S. 442). Die Bezeichnung der Informationsübermittlung durch die Gewerkschaften und den Verband der Jurist*innen als »Klageschrift« ist daher irreführend.
Ein Verfahren ist nur zulässig, wenn die Sache ausreichend schwer ist und der zur Verfolgung zuständige Staat kein Verfahren führt oder nicht willens oder in der Lage dazu ist (vgl. Stegmiller 2011, S. 279). Will ein Staat dem Vorwurf entgehen, nicht willens oder in der Lage zur Strafverfolgung zu sein, muss er selbst tätig werden. Das Übermitteln von Informationen über mutmaßliche Verbrechen an den IStGH kann auf diese Weise internationalen und innenpolitischen Druck für die betroffene Regierung erzeugen.
Nichtergreifen von Schutzmaßnahmen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Im Fall von Brasilien stellt sich die spannende Frage, ob das Verhalten der Regierung überhaupt als mögliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuordnen ist. Andernfalls kann die Chefanklägerin mangels Zuständigkeit kein Verfahren einleiten. Art. 7 Abs. 1 IStGHSt erfordert, dass eine oder mehrere dort genannte Handlungen im Rahmen eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ begangen wurden. Ein solcher Angriff kann zwar außerhalb eines bewaffneten Konflikts geführt werden (vgl. JStGH 1999, Rn. 251). Er setzt aber voraus, dass mehrere der im ersten Absatz genannten Einzeltaten vorliegen (vgl. IStGH 2014, Rn. 23). In Kurzform sind dies: »vorsätzliche Tötung«, »Ausrottung«, »Versklavung«, »Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung«, »Freiheitsentzug«, »Folter«, »sexuelle Gewalt von besonderer Schwere«, »Verfolgung«, »zwangsweises Verschwindenlassen«, »das Verbrechen der Apartheid« und »andere unmenschliche Handlungen«.
Die in den Schreiben gegen Bolsonaro erhobenen Vorwürfe beziehen sich auf die Tatbestände »vorsätzliche Tötungen«, »Ausrottung« und »andere unmenschliche Handlungen«. Ob das Nichtergreifen von Schutzmaßnahmen hierunter fällt, ist auf den ersten Blick nicht eindeutig. Nähere Informationen liefern die bei der Auslegung und Anwendung der Tatbestände heranzuziehenden »Verbrechenselemente« (Art. 9 IStGHSt). Demnach ist der Begriff des Tötens weit zu verstehen und meint „jedes Hervorrufen des Todes“ (Fn. 7 der Verbrechenselemente). Dabei kommt es aber darauf an, dass der Tod gerade durch das Verhalten der Täter*in hervorgerufen wurde und nicht etwa durch das Pandemieverhalten der Menschen selbst (vgl. Ackermann 2020). Ausrottung umfasst darüber hinaus das vorsätzliche Auferlegen von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, einen Teil der Bevölkerung zu vernichten, etwa durch das Vorenthalten des Zugangs zu Medikamenten. Ob es sich tatsächlich nachweisen lässt, dass die brasilianische Gesundheitspolitik darauf abzielt, einen Teil der Bevölkerung zu vernichten, scheint zweifelhaft.
Strategische Prozessführung
- Strategische Prozessführung ist ein Mittel zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, um über die jeweilige gerichtliche Einzelklage hinaus nachhaltige politische, wirtschaftliche oder soziale Veränderungen anzustoßen und das Recht fortzubilden (vgl. ECCHR o.J.).
- In Klagekollektiven organisierte Individuen kontrollieren im Idealfall mittels Gerichtsverfahren staatliches, wirtschaftliches und politisches Handeln (vgl. Hahn und v. Fromberg 2020, S. 14).
- Unter den Begriff fallen antidiskriminierungsrechtliche Prozesse, Schadensersatzklagen gegen Unternehmen, aber auch Verfahren, die sich mit Gesetzen oder Regierungshandeln befassen (vgl. Hahn 2019, S. 8f.).
- Besonders öffentlichkeitswirksam ist das Initiieren von Strafprozessen zur Aufklärung und Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen (vgl. auch Schüller in dieser Ausgabe, S. 23ff.).
Die vergleichsweise unbestimmten »anderen unmenschlichen Handlungen« erfassen Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder schwere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden. Dies schließt Menschenrechtsverletzungen ein, die eine zu den übrigen Einzeltaten vergleichbare Schwere aufweisen (vgl. IStGH 2008, Rn. 269). Denkbar erscheint ein Verstoß gegen die in Art. 12 Abs. 2c des »Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« (1975) genannte Verpflichtung zur Pandemiekontrolle (vgl. Ackermann 2020). Gleichzeitig ist der Tatbestand aufgrund seiner Unbestimmtheit jedoch eng auszulegen, um eine unkritische Ausweitung des strafbaren Bereichs zu unterbinden (IStGH 2012, Rn. 269). Mit Blick auf die genannten Einzeltaten ist eine juristische Beurteilung nicht eindeutig, sodass ein gerichtliches Verfahren zur Klärung dieser Frage durchaus zu einer Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts beitragen könnte.
Besonders problematisch ist die Frage, ob das sogenannte »Politikelement« des Art. 7 Abs. 2a IStGHSt erfüllt ist. Demnach muss der Angriff gegen die Zivilbevölkerung „in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staats oder einer Organisation [erfolgen], die einen solchen Angriff zum Ziel hat“. Ausnahmsweise kann das vorsätzliche Unterlassen von Maßnahmen, das bewusst darauf abzielt, einen Angriff zu fördern, eine derartige Politik darstellen (Fn. 6 der Verbrechenselemente). Solange der Angriff allerdings nicht das Ziel seiner Politik ist, hat ein Staat weite Einschätzungsprärogativen. Er ist grundsätzlich nicht verpflichtet, eine Gefahr, die er nicht als solche erkennt, mit Mitteln zu bekämpfen, von deren Wirkung er nicht überzeugt ist.
Ähnlich gestaltet sich die Frage des Vorsatzes. Art. 30 Abs. 2 IStGHSt verlangt, dass die Täter*in ihr Verhalten setzen und die Folgen des Verhaltens herbeiführen will, oder ihr zumindest bewusst ist, dass die Folgen „im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse“ eintreten werden. Das Ergebnis eines unkontrollierten Verlaufs einer erst seit wenigen Monaten bekannten Pandemie lässt sich erahnen. Erahnen stellt aber noch kein Bewusstsein über den gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse dar. Daher ist zu bezweifeln, ob der Bolsonaro unterstellte Vorsatz überhaupt ernsthaft in Betracht kommt.
Ergebnis
Bei einigen Merkmalen des Art. 7 Abs. 1 IStGHSt ist bislang unklar, ob das Nichtergreifen von Schutzmaßnahmen gegen eine Pandemie hierunter fallen kann. Dass sich die Chefanklägerin ohne Informationen aus der Zivilgesellschaft vermutlich nicht mit dieser Konstellation befassen würde, zeugt von der potentiellen Relevanz strategischer Prozessführung für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts. Die Situation in Brasilien offenbart jedoch enge Grenzen. Sind die Voraussetzungen eines für alle Begehungsvarianten erforderlichen Merkmals, wie beispielsweise das Politikelement, ersichtlich nicht erfüllt, kann die Chefanklägerin auch dann keinen hinreichenden Verdacht bilden, wenn die Rechtslage an anderen Punkten unklar ist.1 Es ist auch immer zu beachten: Bleibt strategische Prozessführung erfolglos, kann sie das Gegenteil der gewünschten Wirkung entfalten. So könnte Bolsonaros Position gestärkt werden, indem er die Ablehnung der Ermittlungen als rechtliche Legitimation seiner Politik heranzieht. Dass dem nicht unbedingt so ist, zeigen andere Versuche aus der brasilianischen Zivilgesellschaft zur Einleitung eines Strafverfahrens, bei denen es vor allem um Umweltpolitik und die Behandlung indigener Gruppen geht (vgl. Grisafi 2020, S. 46ff.).
Anmerkung
1) Ermittlungen auf Grundlage der Informationen von ABJD wurden laut Medienberichten bereits abgelehnt (vgl. UOL 2020).
Literatur
Ackermann, T. (2020): Covid-19 at the International Criminal Court – Brazil’s health policy as a crime against humanity? Völkerrechtsblog, 14.08.2020.
Brazilian Association of Jurists for Democracy (ABJD) (2020): Bolsonaro denounced for a crime against humanity before the International Criminal Court. 03.04.2020.
European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) (o.J.): Glossar: Strategische Prozessführung. ecchr.eu.
Grisafi, L. (2020): Prosecuting international environmental crimes committed against indigenous peoples in Brazil. Columbia Human Rights Law Review Online, 5, S. 26-59.
Hahn, L. (2019): Strategische Prozessführung – Ein Beitrag zur Begriffserklärung. Zeitschrift für Rechtssoziologie, 39(1), S. 5-32.
Hahn L.; von Fromberg, M. (2020): Kollektive als „Watchdogs“: Zu Chancen strategischer Prozessführung für den Rechtsstaat. Zeitschrift für Politikwissenschaft, 16.11.2020.
Internationaler Strafgerichtshof, Prosecutor v. Katanga and Chui, ICC-01/04/01/07, Confirmation of Charges, 30.09.2008.
Internationaler Strafgerichtshof, Prosecutor v. Muthara et al., ICC-01/09-02/11, Confirmation of Charges, 23.01.2012.
Internationaler Strafgerichtshof, Prosecutor v. Ntaganda, ICC-01/04-02/06, Confirmation of Charges, 09.06.2014.
Internationaler Strafgerichtshof, Situation in the Islamic Republic of Afghanistan, ICC-02/17 OA4, Judgement on the Authorization of an Investigation, 05.03.2020.
Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (JIStGH), Prosecutor v. Tadic, IT-94-1-A, Judgement, 15.07.1999.
Rastan, R. (2008): What is a ‘case’ for the purpose of the Rome Statute? Criminal Law Forum, 19(3-4), S. 435-448.
Stegmiller, I. (2011): The pre-investigation stage of the ICC – criteria for situation selection. Berlin: Duncker & Humblot.
UNI Global Union et al. (2020): Criminal complaint against Jair Messias Bolsonaro. 27.07.2020.
UOL (2020): Denúncias contra Bolsonaro são suspensas no Tribunal Penal Internacional. uol.com.br, 15.09.2020.
Tobias Römer promoviert am Institut für Kriminalwissenschaften in Marburg zu den Rechtsgrundlagen einer »Completion Strategy for Situations« am IStGH (Prof. Dr. Bock). Er ist MA Student der Friedens- und Konfliktforschung.