W&F 2020/1

Das Ende der »Frist«

Die atomare Abschreckung im Licht der römisch-katholischen Soziallehre

von Heinz-Günther Stobbe

Kaum präsent ist die Ablehnung der Atombewaffnung durch die römisch-katholische Kirche schon seit Ende der 1940er Jahre. Überlagert wurde sie durch die Missinterpretation der so genannten Fristsetzung, also der Zeit, die gegeben wurde, um Atomwaffen vollständig abzurüsten. Diese Zeit ist nun abgelaufen.

Am 10./11. November 2017 organisierte die von Papst Franziskus neu geschaffene Zentralbehörde, das »Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen«, in Rom ein Expertensymposium über »Perspektiven für eine atomwaffenfreie Welt und für eine umfassende Abrüstung«. Während der Konferenz lud der Papst die Teilnehmer*innen zu einer Audienz ein. In seiner dort verlesenen Botschaft begrüßte er, dass „kürzlich der größte Teil der Mitglieder der Internationalen Gemeinschaft durch eine historische Abstimmung am Sitz der UNO festgelegt“ habe, „Atomwaffen nicht nur als unmoralisch, sondern auch als illegitimes Mittel der Kriegsführung zu betrachten“. Dadurch werde „eine wichtige juristische Lücke geschlossen“, noch wichtiger sei aber, so der Papst weiter, „die Tatsache, dass diese Resultate in erster Linie einer »humanitären Initiative« zu verdanken sind, gefördert von einer wertvollen Allianz zwischen Zivilgesellschaft, Staat, internationalen Organisationen, Kirchen, Akademien und Expertengruppen“.

Diese Haltung bekräftigte Franziskus, wie allgemein erwartet, im Zusammenhang mit seinem Japan-Besuch Ende November 2019. Beim Rückflug erklärte er in einer Pressekonferenz: „Hiroshima war ein echter Ethik-Unterricht über die Grausamkeit. Er fügte hinzu, die moralische Verurteilung von Anwendung und Besitz von Atomwaffen muss in den Katechismus der Katholischen Kirche kommen“. Im Ton immer drängender, in der Sache aber ohne weitere Zuspitzung gab der Papst damit zu erkennen, dass er eine stärkere Verbindlichkeit in der ablehnenden Haltung der römisch-katholischen Kirche anstrebt, vergleichbar der Entwicklung in Bezug auf die Todesstrafe. Das hat, wie er in seiner Botschaft vom Friedenspark in Nagasaki ausführte, seinen entscheidenden Grund in der kirchlichen Tradition: „Die katholische Kirche ist unwiderruflich engagiert im Entschluss, den Frieden zwischen den Völkern und Nationen zu fördern; es ist eine Aufgabe, zu der sie sich vor Gott und vor allen Männern und Frauen dieser Erde verpflichtet fühlt. Wir dürfen nie müde werden, unverzüglich dafür zu arbeiten und darauf Nachdruck zu legen, die wichtigsten internationalen Rechtsmittel für die Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen, einschließlich des Atomwaffenverbotsvertrags, zu unterstützen.

Zur Vorgeschichte

Für manche*n mag das starke Engagement des Papstes und des Heiligen Stuhls für die Ächtung der Atomwaffen und für Abrüstung überraschend sein. Doch bereits in der ersten päpstlichen Friedensnote des 20. Jahrhunderts vom August 1917, »Dès les débuts«, gerichtet „an die Staatsführungen der kriegführenden Länder“, legte Papst Benedikt XV. eine Reihe von Punkten als „Grundlagen für einen gerechten und dauerhaften Frieden“ vor. Dort heißt es: „Vor allem muss der erste und zentrale Punkt sein, dass an die Stelle der physischen Gewalt die moralische Macht des Rechtes tritt. Es braucht daher eine allgemein akzeptierte Übereinkunft über die gleichzeitige und allseitige Abrüstung, deren Regeln und Garantien festzusetzen sind, unbeschadet der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in den einzelnen Staaten notwendigen und ausreichenden Verbände. Dieses Anliegen bildet fortan ein beständiges Leitmotiv der römisch-katholischen Friedenslehre.

Das kirchliche Lehramt begegnet den Rüstungsbemühungen der Staaten durchweg mit unüberhörbarer Skepsis, auch wenn kein allgemein-pazifistischer Anspruch gegenüber den Staaten erhoben wird. Diese Grundhaltung verschärft sich deutlich im Fall der Atomwaffen. Bereits in der wohl ersten Stellungnahme zu dieser neuen Waffengattung betont Papst Pius XII. in dem Lehrschreiben »Fulgens radiatur« vom März 1947 die direkte Verknüpfung zwischen der Existenz von Atomwaffen und der moralischen Verwerflichkeit einer bestimmten Form der Kriegsführung einerseits und dem daraus resultierenden zwingenden Erfordernis, die entstandene Situation durch vertragliche Vereinbarungen zu entschärfen: „Die Atomwaffenfrage stellt noch einen Bestandteil eines viel allgemeineren Problems dar. Die Entwicklung der modernen Angriffsmittel ist ihrerseits durch die Technik bedingt und diese selbst ist wieder vollständig in den Dienst des totalen Krieges gestellt worden. Die dabei maßgebliche verhängnisvolle Auffassung macht keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern und daraus sind die so schmerzlichen Wirkungen des letzten Weltkrieges erwachsen. Ein Ausweg aus der dadurch entstandenen furchtbaren Lage wird nur möglich, wenn die Lenker der Nationen ihre Pflicht erkennen, solche Verträge zustande zu bringen, die der Welt wirklich den Frieden sichern. Es ist, wie der Papst bereits in seiner Weihnachtsansprache ausführt, die Entwicklung der Waffentechnik, die nach einer neuen internationalen Ordnung ruft, in der „kein Platz [ist] für einen totalen Krieg und für eine hemmungslose Aufrüstung. Man darf nicht zulassen, daß das Grauen eines Weltkrieges mit seiner wirtschaftlichen Not, seinem sozialen Elend und seinen sittlichen Verirrungen zum dritten Mal über die Menschheit komme.

Wichtig ist sich zu vergegenwärtigen, dass sich bis heute die ethische Diskussion über Sicherheits- und Rüstungspolitik sowohl auf Ebene des päpstlichen Lehramts als auch in weiten Teilen der katholischen Moraltheologie im Rahmen der überkommenen Lehre vom Gerechten Krieg bewegt. Dementsprechend wird auch die Problematik der nuklearen Abschreckung im Licht der dort entwickelten Kriterien erörtert.

Das Motiv der »Frist«

Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) erneuerte das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche und viele ihrer Lehren grundlegend. Doch keine der Neuerungen fiel gleichsam vom Himmel, sie hatten sich in Kirche und Theologie bereits angebahnt. Auch mit Blick auf die Friedenslehre nahm das Konzil die Kernelemente der mit den Weltkriegen verbundenen Einsichten auf, besonders indem es seine Aufmerksamkeit auf die nunmehr verfügbaren Massenvernichtungswaffen richtete: „Die Anwendung solcher Waffen im Krieg vermag ungeheure und unkontrollierbare Zerstörungen auszulösen, die die Grenzen einer gerechten Verteidigung weit überschreiten. Dem Konzil zufolge wohnt den Massenvernichtungswaffen eine Tendenz zum totalen Krieg inne, den es wegen seiner verbrecherischen Qualität entschieden als „ein Verbrechen gegen Gott und gegen den Menschen“ verurteilt (Gaudium et spes Nr. 80). Um dieser Gefahr zu begegnen, sah das Konzil nur einen Weg: „Gewarnt vor Katstrophen, die das Menschengeschlecht heute möglich macht, wollen wir die Frist, die uns noch von oben gewährt wurde, nützen, um mit geschärftem Verantwortungsbewußtsein Methoden zu finden, unsere Meinungsverschiedenheiten auf eine Art und Weise zu lösen, die des Menschen würdig ist. Die göttliche Vorsehung fordert dringend von uns, daß wir uns von der alten Knechtschaft des Krieges befreien. (Gaudium et spes Nr. 81)

Das Motiv der »Frist«, die es zu nutzen gilt, um politische Alternativen zum Krieg zu schaffen, wird von da an die lehramtliche Beurteilung der nuklearen Abschreckung prägen. So erörterte die Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten in ihrem Hirtenbrief »Die Herausforderung des Friedens – Gottes Verheißung und unsere Antwort« von 1983 ihre Problematik so sorgfältig wie keine andere lehramtliche Instanz vorher und nachher. Die Bischöfe gestanden zu, sie diene dazu, einen „gewissen Frieden“ zu gewährleisten, und vermieden deshalb eine grundsätzliche Ablehnung. Ihre klare Absicht aber war, durch moralische Verbote und Vorschriften „die weit verbreitete politische Barriere gegenüber einem Griff zur Atomwaffe zu verstärken“. Und sie drängten „auf Verhandlungen, um die Erprobung, Produktion und Stationierung neuer nuklearer Waffensysteme anzuhalten. Es sollten nicht nur Schritte unternommen werden, um die Entwicklung und Stationierung von Waffen zu beenden, auch die Zahl der vorhandenen Waffen muß auf eine Weise verringert werden, die die Kriegsgefahr vermindert. Gleichfalls im Jahr 1983 zitierte die Deutsche Bischofskonferenz in ihrem Hirtenwort »Gerechtigkeit schafft Frieden« das Konzilswort von der »Frist«, die genutzt werden müsse, um eine nukleare Bewaffnung im Sinne einer „Notstandsethik“ „vorübergehend“ tolerieren zu können.

Die Rede von der Frist sollte offenkundig die Dringlichkeit der politischen Aufgabe unterstreichen. Sie förderte allerdings ein Missverständnis: Die Fristsetzung wurde nicht als eine zeitliche Dimension verstanden, sondern als ethische Zustimmung oder Duldung der nuklearen Abschreckung unter bestimmten Bedingungen. Die Stellungnahmen von Papst Franziskus beruhen nun offenkundig auf seiner Überzeugung, diese Bedingungen seien nicht mehr gegeben und deshalb müsse ihre ethische Akzeptanz aufgekündigt werden.

Das Ende der »Frist«

Die Absage in Bezug auf die ethische Duldung der nuklearen Abschreckung ist als Gedanke schon seit Langem in der päpstlichen Verkündigung präsent und von Anfang an dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt zugeordnet. Bereits 1965 hatte Paul VI. in seiner Botschaft zum 20. Jahrestag des Abwurfs der Hiroshima-Bombe dazu aufgerufen, für die Ächtung der Atomwaffen zu beten. 1978 bekräftigte er in seiner Botschaft an die Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen das Ziel, „ das Arsenal der Atomwaffen völlig zu beseitigen“. Der jetzige Papst setzt diese Linie konsequent fort und konkretisiert sie, indem er die Atomwaffen grundsätzlich verurteilt.

Die Deutsche Kommission Justitia et Pax als Organ der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sah sich durch ihn veranlasst, mit Blick auf die gegenwärtige Lage der internationalen Politik die Frage zu prüfen, ob sie die Position des Papstes teilen kann. Die Kommission hatte sich schon ein Jahrzehnt zuvor ausführlich mit der Problematik beschäftigt und 2008 in der Studie »Die wachsende Bedeutung nuklearer Rüstung – Herausforderung für Friedensethik und Politik« grundsätzlich festgestellt: „Vor dem Hintergrund, dass das tolerierende »Noch« der 1980er Jahre, das stets mit Abrüstungsappellen an alle Seiten verbunden war, seitens der Politik zu oft entweder überhört oder als friedensethisch gerechtfertigte Akzeptanz umgedeutet und die kirchliche Position dadurch instrumentalisiert wurde, kommt dabei einer Klarstellung der friedensethischen Position der Kirche eine große Bedeutung zu. Die Rede vom »Noch« war und ist nicht als Legitimation zur einfachen Fortschreibung der Abschreckung zu verstehen. Sie soll lediglich den notwendigen politischen Spielraum zur deutlichen Verringerung der Abhängigkeit der Kriegsverhütung von Mitteln nuklearer Abschreckung, zur angestrebten vollständigen Überwindung atomarer Rüstungen und damit auch der mit ihnen verbundenen Einsatzszenarien erhalten. An der konkreten Nutzung dieses Spielraums ist die Politik zu messen. (Nr. 3.1) Schon 2008 wurde der Trend zur Unterhöhlung der Rüstungskontrollverträge gesehen, und die Kommission erklärte: „Blickt man auf die tatsächlich beobachtbaren Trends im Bereich der Nuklearrüstung, so gewinnen die Argumente dafür, dass dieses »Noch« seine Geltung zunehmend einbüßt, immer mehr an Gewicht. (Nr. 3.1)

In ihrer aktuellen Stellungnahme »Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung« von 2019 analysierte die Kommission ein weiteres Mal, ob die Strategie der nuklearen Abschreckung den ethischen und völkerrechtlichen Kriterien genügen kann, die für eine Fortschreibung der »Frist« maßgeblich sind. Ihr Urteil fällt eindeutig aus: Es überwiegen mittlerweile die Gründe dafür, dem »Noch« jede weitere Geltung abzusprechen. Nicht nur erodieren die vertraglichen Pfeiler der Rüstungs- und Kontrollpolitik, auch die Abrüstungserfolge hatten erkennbar ihre Grenze in dem Willen der Nuklearmächte, die Strategie der nuklearen Abschreckung aufrecht zu erhalten. Die mehrfach wiederholte Versicherung der NATO, nukleare Abschreckung bleibe der Grundsatz ihrer Politik, solange es Atomwaffen gebe, bringt deren innere Widersprüchlichkeit auf den Punkt. Eine atomwaffenfreie Welt zu wollen, zugleich aber die Abwesenheit von Atomwaffen zur entscheidenden Bedingung für das Ende der nuklearen Abschreckung zu erklären, ist glaubwürdig nur dann, wenn die Überwindung der Strategie der nuklearen Abschreckung mit der Ächtung der Atomwaffen beginnt. Hatte Justitia et Pax 2008 noch vergleichsweise unbestimmt festgehalten, „Ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur Abschaffung von Nuklearwaffen ist ihre internationale Ächtung“ (Nr. 3.2), so legt die Kommission sich jetzt in der Reihenfolge der notwendigen Schritte fest: Die internationale Ächtung der Nuklearwaffen kann nicht am Ende eines Prozesses stehen, der in ihrer faktischen Beseitigung mündet, sondern muss dessen Anfang markieren (vgl. Nr. 6).

Von der Ächtung zur Abschaffung der Atomwaffen

Die Soziallehre der römisch-katholischen Kirche richtet sich keineswegs nur an ihre Mitglieder, sondern – gemäß einer häufig benutzten Formel – „an alle Menschen guten Willens“. Anders ausgedrückt: Ihre Argumente sollen auch für Menschen einsichtig sein, die zwar nicht den Glauben der Kirche teilen, sich aber dem Anspruch der sittlichen Vernunft unterstellen, mit dem sie auf Grund ihres Menschseins konfrontiert sind. Dementsprechend wenden sich die Päpste immer wieder an Politik und Öffentlichkeit, mahnend an die gemeinsame menschliche Verantwortung. Die Tatsache, dass trotz aller Risiken der atomaren Abschreckung kein Atomkrieg stattgefunden hat, mag – wie die Abschreckungsbefürworter geltend machen – ein Stück weit ihrer Abschreckungswirkung zuzuschreiben sein. Aber sie unterschätzen, dass die Menschheit mit den Atomwaffen erstmals die Möglichkeit ihrer Selbstauslöschung geschaffen hat.

Papst Franziskus baut auf das vorbildhafte Engagement all der Menschen, die für die Abschaffung der Atomwaffen eintreten: „Eine Welt in Frieden und frei von Atomwaffen ist das Bestreben von Millionen von Männern und Frauen überall auf der Erde. Dieses Ideal Wirklichkeit werden zu lassen erfordert die Beteiligung aller: Einzelne, Religionsgemeinschaften, die Zivilgesellschaft, die Staaten im Besitz von Atomwaffen und atomwaffenfreie Staaten, private und militärische Bereiche sowie die internationalen Organisationen. Unsere Antwort auf die Bedrohung durch Nuklearwaffen muss gemeinsam und konzentriert sein und auf dem mühsamen, aber beständigen Aufbau gegenseitigen Vertrauens beruhen, das die Dynamik des gegenwärtig vorherrschenden Misstrauens durchbricht. (Botschaft über die Atomwaffen, Nagasaki, 24.11.2019)

In der römisch-katholischen Kirche hat ein neues Nachdenken über die Strategie der atomaren Abschreckung eingesetzt, und einige Bischofskonferenzen schlossen sich bereits der Position des Papstes an. Als Weltkirche, die alle nationalen Kontexte umfasst und übergreift, könnte sie ein Laboratorium sein, in dem sich modellhaft die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung abspielt, ohne die ein wirkmächtiger weltweiter Konsens und damit ein Erfolg des Kampfes gegen die Atomwaffen nicht erreichbar sind.

Prof. i.R. Dr. Heinz-Günther Stobbe ist Moderator für den Sachbereich Frieden der Deutschen Kommission Justitia et Pax und Leiter der AG Gerechter Friede der Kommission. Er war an verschiedenen Universitäten, vor allem in Münster und Siegen, tätig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/1 Atomwaffen – Schrecken ohne Ende?, Seite 34–36