W&F 1993/1

Das Gespenst lebt noch …

Einbettung des Rechtsextremismus in Deutschland

von Elke Rottgardt

Der Rechtsextremismus in Deutschland hat in den letzten Jahren Ausmaße angenommen, die immer beängstigender werden. Viele Menschen stehen fassungslos davor und können es nicht verstehen, wie es passieren kann, daß massiv braunes Gedankengut und neonazistische Gewalt flächendeckend im ganzen Land wieder aufbrechen können.

„Der Nationalsozialismus lebt noch, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, oder ob es gar nicht erst zu Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“

Theodor Adorno

1992 habe ich im Rahmen einer psychologischen Dissertation eine Untersuchung abgeschlossen, in der ich mich damit beschäftige, wie nach 1945 in den Familien mit dem Thema Nationalsozialismus umgegangen worden ist. Die Ergebnisse dieser Untersuchung lassen eine psychodynamische Erklärung für den wiederaufkeimenden Rechtsradikalismus zu. Sie zwingen weiterhin zu dem Schluß, daß wir alle den Nationalsozialismus noch lange nicht überwunden haben und somit den Rechtsradikalen keine eindeutigen Grenzen setzen können.

Zunächst fordere ich den Leser und die Leserin auf, sich auf folgende Überlegungen einzulassen:

Niemand, der die NS-Zeit bewußt miterlebt hat, kann ohne Berührung zu den nationalsozialistischen Verbrechen geblieben sein: Juden wurden in aller Öffentlichkeit beschimpft, gedemütigt, verhetzt, bedroht, geschlagen. Sie wurden weitgehend aus dem Berufsleben, dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben verdrängt. In der sogenannten Reichskristallnacht wurden ihre Synagogen angezündet, Geschäfte verwüstet und geplündert. Die Vernichtung der Juden wurde öffentlich angekündigt. Mit Beginn der Deportationen 1941 rollten zunehmend mehr Züge durch das gesamte Reich, vollgestopft mit Menschen unter erbarmungswürdigen Umständen.

Der Terror richtete sich nicht nur gegen die Juden. Politische Gegner, Menschen, die sich unangepaßt verhielten (z.B. Schwule, Prostituierte, »Asoziale«, »Bibelforscher«) wurden erbarmungslos verfolgt. Körperlich und geistig Behinderte wurden zu »lebensunwertem Leben« erklärt und viele von ihnen ermordet. Ein dichtes Netz von Konzentrationslagern zog sich über das gesamte Reich. Fremdarbeiter, meist gegen ihren Willen nach Deutschland verschleppt, lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern. An der gesamten Ostfront fand ein Völkermord unvorstellbaren Ausmaßes gegen Juden und andere statt, unter Mithilfe der Wehrmacht.

Niemand, der 1945 noch ein kleines Kind war, bzw. erst danach geboren wurde, kann von vornherein davon ausgehen, daß seine Eltern bzw. Großeltern an den eben beschriebenen Menschenverletzungen und Verbrechen nicht beteiligt waren. Bitte stellen Sie sich jetzt folgende Fragen:

Wissen Sie, ob Ihre (Groß)Eltern eingeschritten sind, wenn Juden in ihrer Gegenwart gedemütigt wurden? Haben Sie ernsthaft überprüft, ob Ihre (Groß)Eltern wirklich nicht zu den vielen Tätern gehören? (Täter gab es in allen Lebensbereichen, nicht nur in den Konzentrationslagern.) Haben Sie bei dieser Überprüfung Ihre eigenen Kriterien zugrunde gelegt, unabhängig von dem, was Ihre Eltern sagen? Haben Sie nachgeforscht, was in dem Ort passiert ist, in dem Ihre Familie damals lebte? Wissen Sie, was Ihre (Groß)Eltern von allem mitbekommen haben? Ob sie sich dagegen gestellt haben? Und wenn ja, wie sah das konkret aus? Haben Ihre (Groß)Eltern Trauer, Reue oder Scham über die NS-Vergangenheit gezeigt? (Ich meine nicht die allgemeine Äußerung: „Das ist ja schrecklich, was die Nazis gemacht haben“, sondern ich meine Scham darüber, in dieser Zeit gelebt und sich nicht anders verhalten zu haben.) Haben Ihre (Groß)Eltern durchblicken lassen, daß sie sich so nicht wieder verhalten wollen? Kennen Sie die Haltung Ihrer (Groß)Eltern zu dem Unrecht, das den ganzen nationalsozialistischen Alltag mitbestimmte? Wissen Sie, wo Ihr (Groß)Vater an der Front war und welche NS-Verbrechen dort passierten, unabhängig von den »normalen« Kriegshandlungen? Wissen Sie, was Ihr (Groß)Vater gesehen bzw. mitgetragen hat? Sind Sie schon einmal dem Gedanken nachgegangen, daß Ihr Denken, Fühlen und Ihre Wahrnehmung von Ihren Eltern geprägt wurde und daß deren Haltung zum Nationalsozialismus somit auch Sie beeinflußt? (Es sei denn, Sie kennen diese Anteile an sich und können sich deshalb davon distanzieren.) Ich vermute, die meisten Leserinnen und Leser müssen diese Fragen mit „nein“ beantworten.

Kein persönlicher Bezug zum Nationalsozialismus

In 23 mehrstündigen Tiefeninterviews mit Gesprächspartnern, die nach 1945 geboren wurden und deren Eltern beim Zusammenbruch des »Dritten Reichs« erwachsen waren, habe ich u.a. die Fragen untersucht: Was wurde in den Familien über den Nationalsozialismus gesagt und wie wurde darüber gesprochen? Welche Haltungen der Eltern und anderen Verwandten wurden sichtbar? Welches Bild haben sich die Kinder von ihren Eltern gemacht, bezogen auf die NS-Vergangenheit? Wie setzen die Kinder sich mit dem Nationalsozialismus auseinander?1

Zusammenfassend erbrachte die Befragung folgende Ergebnisse:

In keiner Familie hatte man sich eindeutig vom Nationalsozialismus distanziert. Im Gegenteil, in der Mehrheit der Familien herrscht immer noch eine pronationalsozialistische Haltung vor. Entsprechend gab es nirgendwo eine offene, aufarbeitende Auseinandersetzung. Dort, wo Familienmitglieder sich wegen des Nationalsozialismus stritten, ging es lediglich um Beziehungskonflikte. Man warf sich vor, Nazi zu sein, spielte das Wissen über den anderen aus, ohne daß es tatsächlich um die Vergangenheit ging. Über NS-Verbrechen wurde weitgehend nicht gesprochen. Wenn die Eltern von sich aus zu dieser Zeit etwas sagten, stellten sie sich als Opfer oder unschuldige und unpolitische Menschen dar.

Die Kinder haben sich kein unabhängiges und in sich stimmiges Bild von ihren Eltern gemacht. Dieses Ergebnis ist durchgängig. Z.T. lehnen sie es ab, sich ein Bild zu machen, weigern sich, Stellung zu beziehen zum Verhalten der Eltern, sind erbost über meine Fragen nach Mitverantwortung oder Mitschuld der Eltern. („Das ist Anmaßung“, „Das interessiert mich nicht“) Manche verstehen einfach nicht meine Fragen nach Bewertung und Einschätzung des Verhaltens der Eltern oder sie blocken sie ab. Oder die Aussagen über die Eltern sind widersprüchlich: die Eltern werden gleichzeitig als Nazis und Antinazis bezeichnet, für schuldig und unschuldig gehalten. Innere Konflikte ersparen sich einige Kinder, deren Eltern deutliche Affinitäten zum Nationalsozialismus haben, indem sie diese idealisieren. Durch zahlreiche Entschuldigungen werden die Eltern von ihren Kindern auffällig in Schutz genommen.

Das Bedürfnis, die Eltern zu schützen, ist bei allen Kindern vorhanden. In diesem Zusammenhang fallen Denkhemmungen auf, die alle Kinder bezüglich ihrer Eltern haben. Am häufigsten kommt es vor, daß Kinder die Beschreibungen ihrer Eltern als Anhänger des Nationalsozialismus später nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Ein anderer Schutzmechanismus sind die Entschuldigungen, die ebenfalls alle Kinder für ihre Eltern haben und durch die denen die Verantwortung für ihr Handeln abgenommen wird. Häufigste (ungeprüfte) Entschuldigungen waren: „Sie konnten nicht anders“ und „Sie waren hilflos“. In etlichen Fällen wurden, hauptsächlich den Müttern, Dummheit, Naivität und mangelndes Bewußtsein attestiert. „Ich bin auch nicht besser als meine Eltern“ war für jedes zweite Kind eine Entschuldigung, mit der Stellungnahmen zu den Eltern verweigert oder entkräftet wurden.

Einen Grund für das ausgeprägte Schutzverhalten der Kinder sehe ich in den Konflikten mit dem Elternbild, die bei fast allen Kindern mehr oder weniger stark spürbar werden. Die Eltern werden mit Schuld in Verbindung gebracht, was aber gleichzeitig wieder verdrängt wird. Der Gedanke an eine mögliche Schuld ist nicht zu ertragen bzw. schwer zu Ende zu denken.

Sehr beschränkte Auseinandersetzung

Das Wissen der Kinder über die NS-Lebensgeschichte der Eltern, auch über die private, ist auffällig gering und beschränkt sich weitgehend auf die unpolitischen Anteile. Wenn den Kindern Fakten über das politische Leben der Eltern bekannt sind, beschränkt sich das auf punktuelles Wissen über Parteizugehörigkeit, SS-Zugehörigkeit, Zugehörigkeit zu Arbeitsdienst, BDM, HJ. Keines der Kinder weiß etwas über Haltung und Verhalten der Eltern bezüglich des Terrors, keines weiß definitiv, ob die Eltern in Verbindung zu NS-Verbrechen standen oder nicht. Wenn Vermutungen über die Eltern vorhanden sind, werden sie nicht konkretisiert und es wird ihnen nicht weiter nachgegangen. Niemand hat versucht, sich eindeutige Informationen über die Eltern zu beschaffen. Die »heiklen« Bereiche der NS-Geschichte der Eltern werden weitgehend ausgeklammert. Z.T. werden Wissenslücken mit eigenen, beschönigenden Vorstellungen gefüllt, die nicht zu dem passen, was sonst über die Eltern berichtet wird. Nur ein Sohn ist genauestens über die SS-Karriere seines Vaters informiert, über die in der Familie immer noch voller Stolz gesprochen wird. Die Frage nach Beteiligung an NS-Verbrechen läßt der Sohn allerdings ebenfalls nicht an sich heran.

Auch über die Kriegsgeschichte der Väter wissen die Kinder wenig, z.T. kennen die Kinder noch nicht einmal die Länder, in denen der Vater an der Front war. Niemand kann genauere Ortsangaben machen, wo der Vater gekämpft hat, Einheiten, Aufgaben der Väter und ihre Ränge in der Militärhierarchie sind weitgehend unbekannt.

Die Art und Weise, wie die Kinder sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen, zeigt eine deutliche Abhängigkeit von den Eltern. Zum Teil reproduzieren sie ungebrochen, was sie im Elternhaus gehört haben, zum größeren Teil finden sich Parallelen zu der Art, wie dort mit der Vergangenheit umgegangen worden ist.

In einigen Fällen habe ich den Eindruck, daß die Kinder durch ihr besonderes Engagement bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Schuld der Eltern tilgen wollen. In allen diesen Familien gibt es Hinweise auf Bezüge der Eltern zu NS-Verbrechen. Die Kinder sehen allerdings keine Verbindung zwischen ihrem Engagement und der Vergangenheit der Eltern.

Eine Auseinandersetzung der Kinder mit der Frage, welche Auswirkungen der Nationalsozialismus auf die eigene Person hat, gibt es kaum. Sie sehen sich weitgehend unabhängig von diesem geschichtlichen Zusammenhang. Auch hier zeigt sich die Parallele zum Elternverhalten, die über eigene Bezüge zum Regime geschwiegen haben.

Diese Ergebnisse zeigen, daß innerhalb der Familien der Nationalsozialismus verdrängt wird. Eltern und Kinder verhalten sich, als ob die NS-Vergangenheit mit ihnen persönlich nichts zu tun hätte. Aus der psychoanalytischen Theorie und Praxis aber ist bekannt, daß alles Verdrängte wirksam bleibt und jederzeit wieder auftauchen kann. Bei den von mir befragten Kindern wird das deutlich in einer mangelnden Abgrenzung vom Nationalsozialismus. Sie verharmlosen ihn oder legitimieren ihn sogar, genau wie die Eltern. Ich höre rassistische und antisemitische Bemerkungen. Es wird auch Faszination spürbar. Speziell in die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen mischt sich bei einigen Kindern Faszination für Leid und Tod mit hinein.2

Mit den Ergebnissen meiner Untersuchung bin ich auf heftige Abwehr gestoßen. Häufigste Kritik war, die Ergebnisse seien nicht verallgemeinerbar. Aber auch andere machen die gleichen Feststellungen: Die österreichische Journalistin Nadine Hauer hat mit 150 Österreichern und Deutschen Gespräche geführt, in denen sie die Schuldtraumatisierung der NS-Nachfolgegeneration beleuchtet. Die Eindrücke, die sie gewinnt, decken sich mit meinen Untersuchungsergebnissen. Auch sie stellt fest, daß die Elterngeneration sich mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus nicht auseinandergesetzt hat und die Kinder ihnen gegenüber erschreckend unkritisch sind.3 Peter Sichrowski kam in 40 persönlichen Interviews und zahlreichen weiteren Telefonkontakten mit Kindern sowohl prominenter Nazis als auch von Mitläufern zu der Erkenntnis, daß niemand die Eltern in der Rolle von Tätern gesehen hat.

Mangelnde Abgrenzung vom Rechtsextremismus

Wenn aber der persönliche Bezug zum Nationalsozialismus geleugnet und verdrängt wird, kann es keine oder nur eine schwache Sensibilität für Wiederholungsmechanismen geben, sowohl individuell als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Für die aktuelle politische Situation bedeutet das folgendes:

Von der älteren Generation, die damals und auch später nie „nein“ gesagt hat zum Nationalsozialismus, kann man ein ernst gemeintes Aufbegehren gegen den Rechtsextremismus heute nicht erwarten. Aber auch für die jüngere Generation gilt, daß ein verbal geäußertes „nein“ zum Rechtsextremismus nicht ungebrochen ist. Wer es nicht für möglich hält, daß der Nationalsozialismus auf ihn persönlich Auswirkungen hat, kann sich nicht oder nicht spontan gegen nationalsozialistische Tendenzen wenden.

Nicht nur Politiker, Bürokratie und Polizei sind auf dem rechten Auge blind, unsere gesamte Gesellschaft ist es. Der Rechtsextremismus ist eingebettet in eine Atmosphäre von Schweigen bis Billigung. Rechtsextreme müssen nicht damit rechnen, auf ernsthaften Widerstand in der Bevölkerung zu stoßen.4

Folgende Situation erscheint mir (noch) unmöglich in Deutschland: Eine Gruppe von Skins besteigt eine Straßenbahn und sofort entsteht eine allgemeine Stimmung des Widerstands bei den Fahrgästen mit dem Tenor: „Hier wird niemand angegriffen.“ Ich bin sicher, daß es ruhig bliebe. Angst bei den Fahrgästen, die dann das Startsignal für die Skins ist, kann nur deshalb um sich greifen, weil nicht mit allgemeiner Solidarität für das Opfer zu rechnen ist.

Viele Menschen verurteilen die Auswüchse der rechtsextremen Gewalt. Was aber tun dieselben Leute, wenn sie mit den Vorformen der Gewalt in Kontakt kommen? Wenn z.B. ihr Handwerker (der so sorgfältig arbeitet), der Kaufmann (der sonst immer so freundlich ist), der Nachbar (von dem man sich sowieso lieber fernhält) eine ausländerfeindliche, bzw. menschenverachtende Bemerkung macht? Mit den Eltern oder anderen Verwandten wird ja oft noch heftig diskutiert in solchen Situationen, obwohl das längst als fruchtlos erkannt wurde. Aber soll man sich mit jedem anlegen deshalb?

Um Kampf geht es m.E. auch nicht. Es geht darum, eine andere Atmosphäre zu schaffen. Eine Bemerkung wie: „In meiner Gegenwart keine solche Äußerung“ reicht aus, ein Gegengewicht zu setzen, ohne daß man sich gleich auf eine Diskussion einlassen muß. Kampf gegen den Rechtsextremismus beginnt auf der individuellen Ebene. Erst wenn die Stimmung in der Bevölkerung gegen rechte Unmenschlichkeit stark genug ist, werden Politiker und Bürokraten reagieren.5 Jeder muß sich mitverantwortlich fühlen für das, was passiert. Jeder ist mitverantwortlich für die Atmosphäre, die in unserem Land herrscht. Ein Nicht-Verhalten gibt es nicht, Schweigen bedeutet Zustimmung.

Man kann sich vornehmen, nicht passiv zu bleiben und sich innerlich auf die Situation vorbereiten, wie man reagieren will, wenn man z.B. sieht, wie Neonazis einen Ausländer angreifen. Aus meiner therapeutischen Arbeit und eigener Erfahrung weiß ich, daß diese innere Vorbereitung funktioniert. Wenn ich etwas wirklich nicht haben will, kann ich reagieren. Voraussetzung für diese Reaktionsfähigkeit ist allerdings eine ungebrochene Ablehnung rechtsextremen Denkens und Handelns. Diese Eindeutigkeit erfordert aber auch, daß man seine eigenen nationalsozialistischen Anteile kennt. Jeder muß sich darüber im klaren sein: wenn er in einer Familie aufgewachsen ist, die sich nicht eindeutig vom NS-Regime abgegrenzt hat, übernimmt er Anteile der elterlichen Affinität zum Nationalsozialismus. Erst, wenn man diese Seiten an sich kennt und sich darüber erschreckt, kann man sich von ihnen distanzieren.

Gewaltpotentiale sind immer noch wirksam

Der Grund, warum es schwer ist, nationalsozialistische Gewalt zu erkennen und darauf zu reagieren, läßt sich noch von einer weiteren Seite her beleuchten. In vielen deutschen Nachkriegsfamilien herrschte bis weit in die 60er Jahre hinein ein Erziehungsstil, der auf Härte, Disziplin, unbedingten Gehorsam und damit Rechtlosigkeit der Kinder basierte. Es ist der gleiche Erziehungstil, den auch die Elterngeneration und die Generationen davor über sich ergehen lassen mußten.

Dieser Umgang mit Kindern bringt Menschen hervor, die abgestumpft sind gegenüber Schmerz, Trauer, Mitleid und die bereit sind, die erlittenen Demütigungen, Disziplinierungen und Züchtigungen an anderen, Schwächeren, zu wiederholen. Ihren Höhepunkt hat die aus diesem Erziehungsstil resultierende Gewaltbereitschaft in der NS-Zeit gefunden, als Gewalt gegen Unerwünschte bis hin zu Mord legitim war und den nationalsozialistischen Alltag stark mitbestimmte. Die Menschen konnten unter dem Deckmantel der nationalsozialistischen Rassen- und Herrenmenschenideologie ihre destruktiven Seiten voll ausleben.

Diese Gewalterlebnisse der Elterngeneration haben die Atmosphäre in den Familien auch nach 1945 bestimmt. Die Menschen, die die NS-Zeit miterlebt und mitgetragen haben, konnten nicht auf einmal liebevoll und weich sein. Im Gegenteil, die NS-Zeit hat Gewaltpotentiale geweckt und ausgelöst, welche die aus der Zeit vor 1933 wahrscheinlich überstiegen und die auch nach Ende der NS-Zeit im Raum standen und stehen.

Sowohl in meiner Untersuchung als auch in meiner klinischen Arbeit als Psychotherapeutin werde ich mit diesen Gewaltpotentialen immer wieder konfrontiert. Elternverhalten erinnert oftmals an nationalsozialistische Gewalt. Für die betreffenden Kinder ist das nur auszuhalten, wenn sie eigene Gefühle und den wahren emotionalen Gehalt des Elternverhaltens leugnen. Nicht selten kommt es vor, daß Kinder6 vom Desinteresse und z.T. schlimmer psychischer und physischer Brutalität ihrer Eltern erzählen und gleichzeitig behaupten: „Die meinen es nicht so. In Wirklichkeit lieben meine Eltern mich.“

Folge dieser Leugnung von elterlichem Desinteresse am Schicksal der Kinder und von Gewalt in der eigenen Familie ist eine Duldung von Gewalt auf gesellschaftlicher Ebene. Die Ziele der Rechtsextremen, nämlich Deutschland von den, wie sie meinen, belastenden Ausländern zu befreien, werden von erschreckend großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen. Schicksale und Gründe, weshalb die Menschen hier sind, finden dabei wenig Beachtung. Zwar gibt es viele Formen von Gewalt (z.B. linke), die eindeutig verurteilt und verfolgt werden, rechte Gewalt scheint aber nicht dazuzugehören. Wie sonst ist es zu erklären, daß Polizei, Bürokratie und Politiker immer noch schleppend reagieren auf rechte Ausschreitungen? Wer innerhalb der Familie rechte Gewalt nicht erkennen, bzw. sich davon nicht distanzieren kann, wird sich auch außerhalb der Familie nicht spontan dagegen wehren.

Ich befürchte, daß der Rechtsrextrmismus in Deutschland aufgrund unserer Geschichte eine andere Qualität hat als der in anderen Ländern. Auch wenn Ende der 60er Jahre durch die Idee der antiautoritären Erziehung bei jungen Eltern ein Umdenken stattfand, und sie begannen, sich vom Prinzip des unbedingten Gehorsams zu distanzieren, so fehlte ihnen doch das Modell für partnerschaftliches Verhalten ihren Kindern gegenüber. Denn was man nicht in eigener Erfahrung kennengelernt hat, kann man nicht praktizieren. Antiautoritäre Erziehung entglitt zu Mangel an Orientierungshilfe und zu seelischer Verwahrlosung der Kinder. Manche dieser Eltern sind heute erschreckt darüber, daß ihre Kinder sich zu den Großeltern hin orientieren und sich autoritäre, rechte Haltungen zu eigen machen. Und auch da muß man kritisch hinterfragen, ob die fortschrittlichen jungen Eltern der 70er Jahre sich wirklich mit der eigenen Familie und deren Verknüpfung zum Nationalsozialismus auseinandergesetzt, oder ob sie unbewußt nicht doch die autoritären, rechten Haltungen ihrer eigenen Eltern reproduziert haben.

Wiedervereinigung und Rechtsextremismus

Daß der Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR stärker wiederaufgebrochen ist als in den alten Bundesländern, läßt sich psychologisch auf zwei Ebenen erklären. Zum einen neigen Menschen dazu, sich in Zeiten von Verunsicherung nur noch auf sich selbst zu beziehen und sich nach außen hin abzuschotten. Jeder kennt wahrscheinlich Zustände, in denen er sich mies fühlt und deshalb mit niemandem etwas zu tun haben will. Der Andere wird dann als störend empfunden. Diesen Prozeß findet man sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Das Andere, das Fremde verunsichert noch stärker und wird deshalb bekämpft, oftmals sogar als Grund der Verunsicherung interpretiert. Ohne die Realität zu überprüfen, werden Ausländer zum Grund allen Übels erklärt. Die Verunsicherung der Bevölkerung in den neuen Bundesländern ist erheblich größer als die in den alten und damit die Tendenz, sich abzuschotten und sich ein Feindbild zu schaffen, entsprechend größer.

Den anderen Grund für den stärkeren Rechtsextremismus in Ostdeutschland sehe ich darin, daß der persönliche Bezug zum Nationalsozialismus dort noch stärker verdrängt wurde als im Westen. Mit dem Pachten der »antifaschistischen« Haltung und dem Verweisen darauf, alle Nazis befänden sich im Westen, hat die gesamte DDR-Bevölkerung sich davon befreit, sich individuell mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Eine Verunsicherung wegen der NS-Vergangenheit haben die Menschen im Osten sich noch mehr erspart als die im Westen. Verantwortung für ihr Verhalten haben sie nicht übernommen. Damit war die psychologische Voraussetzung für die Fortführung eines diktatorischen Systems gegeben. Antiautoritäre Erziehungsgedanken und ein Aufbegehren gegen die Elterngeneration wie in der Achtundsechzigerbewegung im Westen waren unmöglich. Mit der Leugnung von Verantwortung für die NS-Vergangenheit haben die Menschen sich einem gigantischen Selbstbetrug hingegeben und gleichzeitig den Nährboden für eine Wiederkehr des Verdrängten gebildet.

Einer der Gesprächspartner aus meiner Untersuchung hat mir diese Verdrängung sehr plastisch vor Augen geführt: Er ist Kind aus einer politischen Widerstandsfamilie. Seine Eltern sind seit den 30er Jahren Kommunisten und bezeichnen sich als Verfolgte des Naziregimes. Mein Gesprächspartner hatte bis zum 13. Lebensjahr in der DDR gelebt, bevor er mit seinen Eltern in den Westen zog. Im Laufe des Gesprächs mit ihm wurde mir immer klarer, daß es sich bei den Eltern, obwohl Kommunisten, gar nicht um Widerstandskämpfer handelte. Im Gegenteil, sie erschienen mir eher wie Mitläufer und der junge Mann, mit dem ich sprach, zeigte Identifizierungen mit dem Naziregime, wie ich sie bei Kindern aus Nazi- und Mitläuferfamilien erlebte. (Bei anderen Kindern aus Widerstandsfamilien gab es das eindeutig nicht.) Auffällig war, daß er nichts Konkretes über seine Eltern in der NS-Zeit wußte, trotzdem war er vollgestopft mit antifaschistischen Sprüchen, die er nicht nur in der Schule, sondern auch von seinen Eltern gehört hatte. Das Elternbild, das er sich gemacht hatte, basierte lediglich auf diesen Sprüchen, die er wie Formeln aufsagte.

M.E. ist es kein Zufall, daß der Rechtsextremismus gerade nach der deutschen Vereinigung so massiv wieder aufgetaucht ist. Der Nationalsozialismus, für die meisten Deutschen eine sehr intensive Zeit, war die letzte Gemeinsamkeit zwischen Ost- und Westdeutschen vor der Teilung. Durch die Vereinigung ist der »alte« Zustand wiederhergestellt und emotional wird an diese Zeit angeknüpft. Das gilt auch für die nach 1945 geborenen Menschen, was sich z. B. daran zeigt, daß bei der Maueröffnung auch die jungen Leute nicht emotionslos waren. Meine Untersuchung hat ebenfalls gezeigt, daß sich die Gefühle der Eltern zum Nationalsozialismus an die Kinder vermitteln. Da Verdrängtes so lange wiederkommt, bis man es zur Kenntnis nimmt und bearbeitet, sollten wir die Welle des Rechtsextremismus nutzen, unser ganz persönliches Verhältnis zum Nationalsozialismus, daran erinnernde Verhaltensweisen und Haltungen zu überprüfen. Wenn man in einer pronationalsozialistisch denkenden Familie aufgewachsen ist, ist es keine Schande, solche Anteile auch bei sich zu finden, denn den Einflüssen der Familie kann niemand entgehen. Es gibt aber die Chance, sich wirklich davon zu distanzieren, wenn man diese Einflüsse nicht leugnet und im täglichen Alltagsgeschehen darauf achtet, sich demokratisch zu verhalten.

Literatur

Bettelheim, Bruno (1969): Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. Kindler, München.

Giordano, Ralph (1987): Die zweite Schuld oder die Last Deutscher zu sein. Rasch und Röhrin, Hamburg.

Gruen, Arno (1987): Der Wahnsinn der Normalität. dtv, München.

Hauer, Nadine (1990): Schuldtraumatisierung der NS-Nachfolgegeneration. Unveröffentlichtes Manuskript.

Miller, Alice (1983): Am Anfang war Erziehung. Suhrkamp, Frankfurt.

Müller-Hohagen, Jürgen (1988): Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Die seelischen Auswirkungen der Nazizeit. Kösel, München.

Richter, Horst-Eberhard (1986): Die Chance des Gewissens. Hoffmann und Campe, Hamburg.

Rottgardt, Elke (1993): Elternhörigkeit. Nationalsozialismus in der Generation danach. Kovac, Hamburg.

Sichrowski, Peter (1987): Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien. Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Wiesenthal, Simon (1988): Recht, nicht Rache. Ullstein, Frankfurt – Berlin.

Anmerkungen

1) Meine Gesprächspartner habe ich folgendermaßen gefunden: In meinem Bekanntenkreis habe ich von meinem Vorhaben erzählt und gebeten, deren Freunde und Bekannte zu fragen, ob sie an einem Gespäch mit mir interessiert sind. Ich habe nicht bewußt selektiert, sondern mich eingelassen auf die Personen, die von sich aus auf mich zukamen. Zurück

2) Alle meine Gesprächspartner gaben sich fortschrittlich und eher links eingestellt. Keiner machte auch nur im geringsten den Eindruck, als würde er sich in der Tradition des Nationalsozialismus sehen. Zurück

3) Hauer hat ihre Gesprächspartner über Zeitungsanzeigen gefunden. Zurück

4) Die zahlreichen Demonstrationen nach den Morden von Mölln waren spontan und geben damit Anlaß zu Hoffnung. Trotzdem bilden sie m.E. nur eine dünne Decke des Widerstands, verbal geäußert. Zurück

5) Das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten wurde zwar nicht ganz, aber weitgehend, gestoppt, weil es deswegen Unruhe in der Bevölkerung gab. Zurück

6) Gemeint ist hier der Standort als Kind. Tatsächlich sind die Menschen erwachsen, mit denen ich arbeite. Zurück

Dr. Elke Rottgardt ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin in Köln.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1993/1 Zivil und militärisch, Seite