W&F 2006/3

Mehr als nur Energie:

Das Konfliktpotenzial von Großstaudämmen

von Heike Drillisch und Evelyn Ebert

Wasserkraft gilt als saubere Energie und damit als gute Alternative zu fossilen Energieträgern und Atomkraftwerken. Bei dieser Betrachtungsweise werden jedoch oft die ökologischen, kulturellen und sozialen Auswirkungen von Staudammbauten vernachlässigt, die ein enormes Konfliktpotenzial in sich bergen. In Ghana, Uganda, Chile, China und Sudan – in allen diesen Ländern führten Staudammbauten zu massiven Auseinandersetzungen. Auch das geplante Ilisu-Wasserkraftwerk in der Türkei verdeutlicht die mit Großstaudämmen verbundenen Konflikte auf drastische Weise, wie die Autorinnen im folgenden Artikel aufzeigen.

Der Ilisu-Staudamm ist das derzeit größte Wasserkraftprojekt der Türkei. Er soll den Tigris kurz vor der Grenze zu Syrien und Irak aufstauen und einen 313 km² großen See schaffen. Das geplante Wasserkraftwerk soll eine Kapazität von 1.200 MW haben und eine Leistung von 3.833 Gigawattstunden erbringen. Ein internationales Konsortium wurde von der türkischen Regierung mit dem Bau beauftragt. Mit dabei ist die deutsche Baufirma Ed Züblin1. Staatliche Exportkreditversicherungen wie die deutschen Hermesbürgschaften sollen das Risiko des Projekts absichern. In den Jahren 2001/02 war ein erster Versuch, das Projekt zu realisieren, gescheitert, da der Großteil der damals beteiligten Firmen sich aufgrund der ungelösten ökologischen und sozialen Probleme aus dem Projekt zurückzog.

Durch die Talsperre werden 50-80.000 Menschen ganz oder teilweise ihre Existenzgrundlage verlieren. Profitieren werden etliche Großgrundbesitzer in der von extrem ungleicher Landbesitzverteilung geprägten Region, da sie hohe Entschädigungszahlungen erhalten werden. Des weiteren werden Tausende von Kulturgütern, die nicht einmal ansatzweise erforscht sind, darunter die 10.000 Jahre alte Stadt Hasankeyf mit ihrem hohen Symbolwert für die Bevölkerung, in den Fluten untergehen. Aus ökologischer Sicht wird die Aufstauung des Tigris zu einer dramatischen Verschlechterung der Wasserqualität, zu gravierenden Veränderungen der Flusshydrologie und zur Abnahme der Biodiversität in der Region führen.

Der Ilisu-Staudamm ist Teil des Südostanatolienprojektes GAP (Güneydogu Anadolu Projesi), das 22 Staudämme und 19 Wasserkraftwerke an den grenzüberschreitenden Flüssen Euphrat und Tigris umfasst. Sind alle Dämme und Kraftwerke errichtet, sollen jährlich 27 Mio. kWh Strom erzeugt2 und damit der wachsende Energiebedarf der Türkei gedeckt werden. Das GAP soll nach Aussage der türkischen Regierung einen Beitrag zur gesellschaftlichen Stabilität und zu wirtschaftlichem Wachstum leisten und den Anschluss des rückständigen Südostanatolien an den Rest des Landes unterstützen. Bisher wurden allerdings vor allem die Staudammbauten vorangetrieben, von einer wirklichen Entwicklung der Region ist wenig zu spüren. In einem geostrategisch brisanten Gebiet, in dem die Interessen wasserarmer und wasserreicher Staaten aufeinander treffen, führt dieses Megaprojekt zu inner- und zwischenstaatlichen Konflikten.

Innerstaatliche Konflikte

Das GAP-Projekt liegt in einem Gebiet, dessen kurdischer Bevölkerung seit Jahrzehnten die Anerkennung ihrer eigenen Identität verweigert wird, was zu einem 16jährigen Bürgerkrieg zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und dem türkischen Militär und Paramilitärs geführt hat. Trotz Waffenstillstand kommt es in der Region, die noch stark vom Krieg gekennzeichnet ist, immer wieder zu Repressionen gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Ende März 2006 kam es z. B. im Zusammenhang mit Militäroperationen zu mehreren Todesfällen von Zivilisten, was zu Massendemonstrationen führte, gegen die wiederum Militär eingesetzt wurde. In einem derartigen Klima der Gewalt ist es für die Betroffenen schwer, ihre Meinung zu äußern und ihre Interessen zu vertreten. Vom Projektbetreiber durchgeführte Befragungen der Bevölkerung dienten offensichtlich vor allem dazu, die internationalen Finanziers zufrieden zu stellen; an internationalen Standards gemessen, waren sie so mangelhaft, dass von einer wirklichen Beteiligung der – häufig uninformierten – Bevölkerung nicht die Rede sein kann. Der im Herbst 2005 vorgelegte Umsiedlungsplan lässt erwarten, dass die große Mehrheit der vom Verlust ihrer Lebensgrundlagen Betroffenen keinen ausreichenden finanziellen Ausgleich bekommen wird. Armut und Entwurzelung sind das zu erwartende Schicksal für die meisten Umzusiedelnden. Von einem Teil der Betroffenen werden die im Rahmen des GAP geplanten Dämme, darunter der Ilisu-Staudamm, deshalb auch als ein Mittel empfunden, mit dem der türkische Staat seine Kontrolle über die Region erhöhen will.

Zwischenstaatliche Konflikte

Das Ilisu-Projekt verschärft darüber hinaus die Auseinandersetzungen um die kostbare Ressource Wasser in der Region. Die türkische Regierung setzte die bestehenden GAP-Dämme am Euphrat bereits als Waffe ein. Sie forderte z. B. von Syrien ein Ende der Unterstützung der PKK mit der Drohung, dass die Wasserfließmenge geändert werden könnte. Als der Atatürk-Stausee gefüllt wurde, musste Syrien einen Monat ohne Euphratwasser auskommen. Während des Golfkrieges 1991 reduzierte die Türkei, NATO-Mitglied und jetzt in der »Koalition der Willigen«, kurzzeitig den Wasserabfluss des Euphrats um 40%. Der ehemalige türkische Staatspräsident Demirel begründet die Anwendung dieses Machtmittels wie folgt: „Mit dem Wasser ist es so wie mit dem Öl: wer an der Quelle des Wassers sitzt, hat ein Recht darauf, das ihm niemand streitig machen kann.“3 Mit dem Bau des Ilisu-Staudamms erhielte die türkische Regierung nun die Möglichkeit, auch den Wasserlauf des Tigris zu unterbrechen oder umgekehrt gezielt Überflutungen herbei zu führen.

Auch in spannungsfreien Zeiten wird der Staudamm gravierende Auswirkungen auf die Wasserqualität und –quantiät der Unteranlieger haben und die Nutzungsmöglichkeiten des Tigriswassers erheblich einschränken. Da die Abwässer aus der Landwirtschaft und den umliegenden Städten und Dörfern großenteils ungeklärt in den Tigris fließen, wird das Wasser des Stausees mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr giftig sein, was große Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung mit sich bringt. Diese machen naturgemäß an den Staatsgrenzen nicht halt. Zudem ist unterhalb von Ilisu ein weiterer Staudamm für Bewässerungszwecke geplant, der Cizre-Staudamm, so dass zu befürchten ist, dass in trockenen Sommermonaten kaum noch Tigriswasser die Grenze passieren wird. Die Planungen für den Ilisu-Staudamm lassen keinerlei Bemühungen von türkischer Seite erkennen, einen Interessenausgleich mit den Nachbarstaaten Syrien und Irak herbeizuführen. Weder die irakische noch die syrische Regierung wurden offiziell informiert, noch wurden sie konsultiert, um ihre Anliegen in die Projektplanung einzubeziehen. Beide Staaten haben beim ersten Projektanlauf vor fünf Jahren bereits gegen das Projekt protestiert.

Wie der Fall des Ilisu-Staudamms zeigt, sollen Staudammprojekte zwar häufig nach Aussage der sie planenden Regierungen durch Bewässerung und/oder Stromgewinnung zum Wohlstand der Bevölkerung beitragen, können aber sowohl interne Konflikte als auch – im Falle grenzüberschreitender Flüsse – Spannungen mit den Nachbarländern verschärfen. So führen sie keineswegs immer zu den erhofften Wohlstandszuwächsen. Die mit ihnen verbundenen Konflikte und Probleme stehen aber meist im Schatten der ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen der Projektbetreiber.

Internationale Regulierungsmechanismen

Als Reaktion auf die zunehmende Kritik an Großstaudämmen und zur Vorbeugung von Konflikten rund um Staudämme entstand 1998 die Weltstaudammkommission (WCD), in der Staudammbefürworter und -gegner die reichhaltigen Erfahrungen gemeinsam auswerteten. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass zur Lösung und Vermeidung der mit Staudammbauten verbundenen Konflikte ein viel breiterer Rahmen als bisher betrachtet werden muss. Die WCD entwickelte einen Ansatz, der auf der Anerkennung von Rechten und der Bewertung von Risiken beruht. Risiken bedeuten dabei nicht nur das Risiko der Betreiber und Investoren, sondern auch die unfreiwilligen Risiken, die die Bevölkerung des Projekts zu tragen hat und die sich unmittelbar auf ihre Existenzgrundlage und ihr persönliches Wohlbefinden auswirken. Aus diesem Ansatz heraus hat die Kommission sieben strategische Prioritäten für die Entscheidungsfindung entwickelt, deren Anwendung zu einer faireren Regulierung der aus dem Staudammbau resultierenden Konflikte führen würde:

  • die Gewinnung öffentlicher Akzeptanz,
  • die umfassende Prüfung von Optionen,
  • die Verbesserung bestehender Staudämme,
  • der Erhalt von Flüssen und Existenzgrundlagen,
  • die Anerkennung von Ansprüchen,
  • die gerechte Teilung des Nutzens,
  • die Einhaltung von Verpflichtungen und Vereinbarungen.

Als grundlegende Werte, die die Entscheidungsfindung bei Staudammprojekten leiten sollen, werden Gerechtigkeit, Effizienz, partizipative Entscheidungsfindung, Nachhaltigkeit und Rechenschaftspflicht genannt. Dies bedeutet für die Projektplanung:

  • alle Interessengruppen werden in den Entscheidungsprozess einbezogen;
  • soziale und umweltrelevante Aspekte erhalten das gleiche Gewicht wie technische, wirtschaftliche und finanzielle Faktoren;
  • allseitig annehmbare, formale und rechtlich bindende Vereinbarungen werden getroffen;
  • über gemeinsam genutzte Flussbecken werden Abkommen geschlossen, die auf dem Prinzip der gerechten und angemessenen Nutzung, der Vermeidung größerer Schäden, der vorherigen Unterrichtung der Partner und den strategischen Prinzipien basieren.

Kommt es zu unüberwindbaren Streitigkeiten, sollen diese in letzter Distanz dem internationalen Gerichtshof vorgetragen werden. Wenn ein Staat einen Staudamm plant oder baut, ohne Verhandlungen auf der Basis von Treue und Glaube durchzuführen, sollen externe Finanzorganisationen ihre Unterstützung zurückziehen.

Ein Teil der von der WCD vorgeschlagenen Verfahrenspunkte ist bereits in internationalen Konventionen verankert. Zu diesen gehören z. B. die UN-Konvention über die nicht-schiffbare Nutzung internationaler Wasserläufe und die Konvention über den Schutz und die Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen der UN-Wirtschaftkommission für Europa.4 Diese schreiben die frühzeitige Information und Konsultation der Anrainerstaaten bei Projekten an grenzüberschreitenden Flüssen vor. Bezeichnenderweise hat die türkische Regierung die Unterzeichnung dieser Konventionen abgelehnt. Deutschland gehört jedoch zu den Unterzeichnern. Zudem ist das Prinzip der Konsultation von Flussanliegerstaaten als Teil des Völkergewohnheitsrechts anzusehen, so dass auch die Türkei daran gebunden ist.

Auch die Richtlinien der Weltbank spiegeln einige der später etablierten WCD-Kriterien wider. So sollen z. B. sowohl die Nachbarstaaten als auch die im eigenen Land betroffene Bevölkerung konsultiert werden, ihre Positionen sollen in die Projektplanung einfließen. Die Richtlinien der Weltbank sind angesichts der bei großen Infrastrukturprojekten auftretenden Probleme sehr unzureichend, und sie sind auch in den letzten Jahren mehrfach aufgeweicht worden. Aber immerhin lehnt die Weltbank seit 1984 eine Finanzierung der GAP-Staudämme ab. Obwohl die am Ilisu-Staudamm beteiligten Unternehmen angegeben haben, das Projekt nur durchführen zu wollen, wenn internationale Standards eingehalten werden, wurde eine ganze Reihe von Weltbankrichtlinien bereits in der Planung des Dammes verletzt. Andere, darunter diejenige zur Staudammsicherheit, wurden überhaupt nicht berücksichtigt.

Dies alles zeigt, dass es diverse Ansätze gibt, um die beim Bau von Staudämmen entstehenden Konflikte im Vorfeld zu minimieren. Den Ansätzen fehlt jedoch bisher eine einklagbare Verbindlichkeit, um den Betroffen Rechtssicherheit zu bieten. Gleichzeitig mangelt es den Projektbetreibern, beteiligten Unternehmen und Finanzinstituten am Willen, diese zu befolgen. Im Falle des Ilisu-Staudamms bedeutet dies, dass die europäischen Firmen und – sollten die Bürgschaften bewilligt werden – die Regierungen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands die Verantwortung für die zu erwartenden friedenspolitischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen mit übernehmen müssen. Denn Staudämme sind nicht zwingend umwelt- und sozialverträgliche Energieträger: sie produzieren weit mehr als Energie.

Anmerkungen

1) Die Federführung obliegt dem österreichischen Unternehmen VA Tech Hydro, das kürzlich von dem ebenfalls österreichischen Unternehmen Andritz aufgekauft wurde. Aus der Schweiz sind zudem Alstom, Stucky, Maggia und Colenco dabei.

2) Vgl. Homepage des GAP: http://www.gap.gov.tr/gap_eng.php?sayfa=English/Ggbilgi/gnedir.html (31.05.2006).

3) Zit. nach Dietziker (1998): Wasser als Waffe. Türkische Dämme und Schweizer Helfer. Zürich.

4) UN Convention on the Law of the Non-Navigational Uses of International Watercourses (New York 1997); UN/ECE Convention on the Protection and Use of Transboundary Watercourses and International Lakes (Helsinki 1992).

Heike Drillisch, Ethnologin, und Evelyn Ebert arbeiten bei WEED – Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung e.V. in der Kampagne zur Reform der Hermesbürgschaften. In diesem Rahmen leitet Heike Drillisch in Deutschland die europäische Kampagne gegen den Ilisu-Staudamm. Weitere Informationen: www.weed-online.org/ilisu.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2006/3 Konfliktherd Energie, Seite