W&F 1996/1

Das Risiko der Kernenergie

von Wolfgang Liebert

Die Risikodebatte mit Bezug auf die Kernenergie wird häufig auf die Reaktorsicherheit, also insbesondere die Gefahr des Eintretens großer Unfälle mit Radioaktivitätsfreisetzung, reduziert. Dementsprechend konzentriert sich auch die Hoffnung auf Verbesserungen der Kerntechnik auf neue Reaktorsicherheitskonzepte. Natürlich besteht hierin ein harter Kern der notwendigen Diskussion und es ist wesentlich, die gegenwärtige Entwicklung auf diesem Gebiet einschätzen zu können, aber es ist ebenso notwendig, auf weitere Aspekte des Gesamtrisikos der Kernenergie hinzuweisen.

Reaktorsicherheit

Wissenschaftliche Risikoabschätzungen sind erst im Gefolge der massiven Ausbaupläne der zivilen Kernindustrie entstanden. Eine Vorreiterrolle übernahm auch hier die USA mit der Rasmussen-Studie aus dem Jahre 19751. Deren Ergebnisse wurden von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) auf die bundesdeutschen Verhältnisse übertragen unter ausschließlicher Berücksichtigung von Druckwasserreaktoren, die die Masse der westdeutschen Kraftwerke ausmachen.2 Als Referenzfall gab der 1976 ans Netz gegangene »moderne« Reaktor Biblis-B das Beispiel ab. Nach der Veröffentlichung dieser Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke im Jahre 1979 ergab sich eine langanhaltende Debatte unter Beteiligung verschiedenster deutscher Kernforschungseinrichtungen mit dem Ziel, Unzulänglichkeiten und grobe Abschätzungen des ersten Versuches auszubügeln bzw. eine genauere Analyse unter Berücksichtigung aktuell denkbarer oder eingesetzter Sicherheitstechniken durchzuführen. 1989 endlich wurde das Ergebnis der GRS mit der »Risikostudie Phase B« der Öffentlichkeit vorgestellt.3 Aber auch das Öko-Institut war zunehmend zum ernstzunehmenden Diskussionspartner geworden. Dessen zahlreiche Gutachten und Studien haben die Debatte um die Reaktorsicherheit in Deutschland bereichert und zu einer transparenteren Einschätzung der »Expertendebatte« innerhalb der Öffentlichkeit geführt (vergl. beispielsweise Fußnoten 4, 5).

Ergebnisse der »Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke – Phase B« in Hinblick auf den »Größten anzunehmenden Unfall« lassen sich grob so zusammenfassen. Die Eintrittshäufigkeit von Kernschmelzunfällen wird unter der Berücksichtigung von 25 Ereignissen, die eine Unfallszenario einleiten können, mit 3 zu 100.000 pro Jahr angegeben. (Dieser Wert ist dreimal besser als von der GRS im Jahre 1979 angegeben.) Dies würde beim aktuellen Stand des Kernenergieausbaus in Deutschland bedeuten, daß im Mittel innerhalb von rund 1.600 Jahren ein Kernschmelzunfall in einem der deutschen Atommeiler erwartbar ist. Die GRS glaubt aber, daß es nur in einem von 67 Fällen dann auch zu einer erheblichen Radioaktivitätsfreisetzung in die Außenwelt kommt, da Maßnahmen des Unfallmanagements die Integrität des Reaktorsicherheitsbehälters garantieren könnten. Das Öko-Institut kritisiert diese Einschätzungen der Risikostudie Phase B5.

Die komplexen Prozesse, die bei einem Kernschmelzunfall ablaufen, werden danach falsch eingeschätzt. Das sogenannte Hochdruck-Kernschmelzen (Hochdruckbedingungen im Primärkreis) und das Niederdruck-Kernschmelzen (Niederdruckbedingungen im Primärkreis) führt ohne Eingriffe der Betriebsmannschaft in nahezu allen Fällen zu einem frühen Versagen des Sicherheitsbehälters (wenige Stunden nach Unfallbeginn) und damit zur Freisetzung von mindestens der Hälfte der Jod-, Cäsium-, Strontium- und Tellurisotope des radioaktiven Inventars. In der Umgebung des Kraftwerkes müßte dann mit weit schlimmeren Konsequenzen als bei der Tschernobyl-Katastrophe gerechnet werden, da die Bevölkerungsdichte bei uns höher und die klimatologischen Bedingungen ungünstiger sind.

Überlegungen darüber, was dies für die betroffene Bevölkerung bedeuten würde und ob überhaupt Evakuierungsmaßnahmen schnell genug greifen könnten, sind in der Riskostudie nicht enthalten. Die erste Risikostudie aus dem Jahre 1979 machte zu Unfallfolgen noch die Aussage, daß mit bis zu 14.500 Soforttoten und 104.000 Fällen von Spätfolgen zu rechnen sei, des weiteren könnte eine Fläche von bis zu 5.600 Quadratkilometern so stark kontaminiert werden, daß 2,9 Millionen Menschen evakuiert werden müßten.

Übertriebene Hoffnungen auf das Unfall-Management kritisiert das Öko-Institut mit dem Hinweis, daß „Maßnahmen bereits berücksichtigt werden, über deren Voraussetzungen, Randbedingungen, Ausgestaltung und Erfolgswahrscheinlichkeit nur unzureichende Erkenntnisse vorliegen und die noch nicht implementiert sind“. Auch endete die Analyse des Niederdruckpfades, in den die Unfälle mit Hochdruckbedingungen im Primärkreis überführt werden sollen, ohne Berücksichtigung von Wasserstoffexplosionen. Die Wasserstoffproblematik wird aber wegen ihres Potentials zur frühen Containmentzerstörung als risikodominierender Effekt angesehen. Dementsprechend wird die Wahrscheinlichkeit einer frühen und massiven Freisetzung aus dem radioaktiven Inventar im Falle einer Kernschmelze weitaus höher eingeschätzt. Als besonders gefährliche Unfallsequenzen werden hervorgehoben: 1. Kernschmelzen im Hochdruckpfad, 2. Kernschmelzen im Niederdruckpfad mit Wasserstoffexplosion, 3. Dampferzeugerrohrbruch, bei dem das Containment umgangen wird und eine sofortige Inventarfreisetzung über den Dampferzeuger und Sekundärkühlkreis auftritt. Nach Ansicht des Öko-Instituts wird den Maßmahmen des »Unfall-Managements« nicht nur eine viel zu hohe Erfolgswahrscheinlichkeit zugeschrieben, sondern es bleiben auch gravierende sicherheitstechnische Konsequenzen für die Anlage und die Umgebung unberücksichtigt. Leider kann das Öko-Institut keine Aussage dazu machen (und will es vernünftigerweise wohl auch nicht), wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, einen Kernschmelzunfall wirklich zu beherrschen.

Natürlich sind solche probabilistischen Risikoabschätzungen nicht vorbehaltlos zu akzeptieren, aber für ein Rechenbeispiel nehme ich an, was die GRS für das Eintreten einer Kernschmelze errechnet, gehe aber davon aus, daß nur in einem Viertel solcher Unfälle ein Schaden begrenzendes Unfallmanagement möglich ist. Weiterhin nehme ich an, daß die von der GRS angegebene Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Kernschmelze auf alle Reaktoren in den westlichen Industrieländern übertragen werden kann – nicht aber auf Reaktoren, wie sie beispielsweise in Osteuropa anzutreffen sind. Für ein Viertel der weltweit installierten Reaktoren setze ich daher eine Kernschmelzwahrscheinlichkeit an, die doppelt so hoch ist wie in der ersten GRS-Studie angenommen, wobei eine Erfolgswahrscheinlichkeit für ein angemessenes Unfallmanagement nur in jedem zweiten Fall postuliert wird. Danach wäre bei den zur Zeit mehr als 400 Reaktoren weltweit mit einem schweren Reaktorunfall mit massiver Radioaktivitätsfreisetzung etwas häufiger als einmal im Jahrhundert zu rechnen.6 Ob dies eine realistische Aussage ist, wage ich nicht einzuschätzen. Wahrscheinlichkeitsaussagen sind natürlich auch nicht fehlzuinterpretieren als Voraussage für die Zeit, die bis zum Eintreffen eines möglichen Ereignisses bleibt, das durchaus bereits übermorgen Realität werden könnte. Dieses Rechenbeispiel soll nur ein mögliches Umgehen mit den letztlich nie gänzlich verifizierbaren Zahlen aus den Risikostudien verdeutlichen. Anhand dieses Zahlenspiels kann auch gelernt werden, daß bei einer Verzehnfachung der weltweit installierten Kraftwerksleistung und im Mittel gleichbleibenden Sicherheitsstandards eine Reaktorkatastrophe einmal im Zeitraum von 10 Jahren zu erwarten wäre.

Katastrophenfreiheit und »inhärente Sicherheit«

Das von entschiedenen Kernenergiebefürwortern so genannte »Restrisiko« scheint aber doch allgemein noch als so gravierend eingeschätzt zu werden, daß der Weg in eine mögliche Zukunft der Kernenergienutzung in Deutschland unter gänzlich geänderten Grundvoraussetzungen beschritten werden soll. Das deutsche Atomgesetz wurde in seinem Paragraphen 7 im Juni 1994 dementsprechend abgeändert. Danach darf die Genehmigung für ein Atomkraftwerk nur noch erteilt werden, wenn realisiert werden kann, was man salopp als »Katastrophenfreiheit« bezeichnet.

Katastrophenfreiheit im Sinne des Atomgesetztes hieße, durch die Auslegung neuer Kernreaktoren dafür Sorge zu tragen, daß die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Kernschmelze drastisch reduziert wird und in jedem erdenklichen Falle ein Radioaktivitätsaustritt in die Umgebung des Anlagengeländes hundertprozentig ausschließbar sein müßte, der Katastrophenschutzmaßnahmen, wie vorübergehende Evakuierungen, erforderlich machte. Um dies zu erreichen, müßten solche Anlagen gemäß dem Konzept der inhärenten Sicherheit ausgelegt werden, d.h. naturgesetzlich ablaufende Sicherheitssysteme oder entsprechende Barrieren müßten mit absoluter Zuverlässigkeit wirksam werden. Auf zusätzliche Maßnahmen des technischen Eingriffes durch die Betriebsmannschaft dürfte nicht vertraut werden, da diese niemals fehlerfrei funktionstüchtig gemacht werden können.

Tatsächlich werden seit Bestehen der großen Nuklearprogramme der Industrieländer Alternativen zu den dominierenden Leichtwasserreaktoren untersucht. Einige Konzepte bemühten sich tatsächlich auch um die Zielsetzung der Realisierung einer wie auch immer im Detail gearteten inhärenten Sicherheit. Die meisten solcher Konzeptideen sind aber längst wieder vom Tisch der planenden Energieversorgungsunternehmen verschwunden, so auch ein unterirdisch zu bauender kleinerer Reaktortyp, der obendrein als sein eigenes Endlager für die strahlenden Abfälle dienen sollte. Zu teuer in der Entwicklung, zu kostspielig im Bau, unter ökonomischen Kriterien nicht betreibbar; so lautet das Verdikt der Manager.

Einige neuartigere Reaktortypen werden aber auch heute noch bei Reaktorbauern entwickelt oder befinden sich in Phasen der Vorüberlegung bei Forschungsabteilungen oder nicht-industriegebundenen wissenschaftlichen Einrichtungen.7 So denkt man beispielsweise beim Forschungszentrum Karlsruhe intensiv über neuartige Sicherheitssysteme nach. Einige der von Nuklearfirmen vorgeschlagenen Reaktorkonzepte sind lediglich Fortentwicklungen bekannter Systeme ohne erheblichen Einfluß auf Sicherheitscharakteristiken. Interessant erscheint aber beispielsweise die Westinghouse-Entwicklung eines kleineren Druckwasserreaktors, des AP 600, mit einer elektrischen Leistung von 600 Megawatt. Ein passiv wirksames zusätzliches Kühlsystem (im Grunde nichts anderes als ein Wasserbassin oberhalb des Reaktordruckbehälters), das ohne aktive Pumpen oder dergleichen wirksam werden kann, vermeidet einen Teil sonst üblicher peripherer, für Redundanz sorgender aufwendiger Notkühlsysteme. Die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Kernschmelze soll – nach Angaben der Entwickler – um den Faktor 1000 verringert werden. PIUS ist die Abkürzung für Process Inherent Ultimate Safety, ein Reaktor der vom in Schweden beheimateten Atomkonzern ABB entwickelt wird. Ebenfalls nur mit der halben Leistung eines heute üblichen großen Kernreaktors ausgelegt versprechen die Ingenieure den Ausschluß von Kernüberhitzung – und dadurch letzlich die gefürchtete Kernschmelze – durch naturgesetzlich ablaufende Prozesse. Automatisch soll bei zu hoher Kerntemperatur borhaltiges Wasser, das unterhalb des Reaktorkerns in einem Spannbetonbehälter angeordnet ist, in das Innere des Reaktorkerns gesaugt werden. Das Einfangen der vorhandenen Neutronen durch das Element Bor soll die Kettenreaktion im Reaktor stoppen, bevor die Kernschmelze einsetzen kann. Ob die angekündigte technische Realisierung in ersten Prototypen tatsächlich hält, was einzelne Planungselemente erwarten lassen, bleibt abzuwarten.

In Deutschland ist die Debatte über inhärente Sicherheit bei dem letzten verbliebenen Atomtechnologieriesen, Siemens, nicht so beliebt. Der finanzielle Aspekt spielt sicher eine Rolle, denn mehr Sicherheit bedeutet in der Regel auch ein Mehr an Kosten oder eine ökonomisch weniger optimale Nutzung der Kernenergie in kleineren Reaktoreinheiten. Zwei Einschätzungen von Siemens spielen ebenfalls eine Rolle. Eine pragmatische Sicht machte der Siemens/KWU-Vorstandsvorsitzende Hüttl explizit mit dem Satz: „Inhärent sichere Reaktoren im Sinne von völlig ohne Risiko wird es nie geben, das ist technisch nicht machbar“8. Ein strategisches Argument nannte Otto Gremm, der sich gegen die Kritik wehrte, man wolle den Fortschritt in Hinblick auf ein durchaus mögliches Mehr an Sicherheit bei Siemens nicht genügend fördern, indem er warnte, daß „durch jede neue Idee ein sicherheitstechnisches Defizit bei den bestehenden Anlagen vermutet oder herausgelesen“ werde9.

Ist dies auch ein Grund, warum die deutsche Energiewirtschaft kein Interesse (mehr) am Hochtemperaturreaktor (HTR) hat? Jedenfalls gingen Siemens und die deutschen Betreiber von Kernkraftwerken in deutliche Distanz zum HTR und erklärten im September 1993, zur Zeit bestünden keine aktuellen Pläne bezüglich dieses Reaktortyps. Dazu hat aber sicher auch die zweifelhafte Geschichte des HTR in Deutschland (und den USA) beigetragen. Der weltweit einzige größere HTR (THTR Hamm Uentrop) wurde nach geringer Betriebserfahrung, die mit einer Reihe von Pannen verknüpft war, 1989 stillgelegt. Auch die Infrastruktur bei der KFA Jülich, die über etwa 30 Jahre einen kleineren Versuchreaktor (AVR) betrieb, ist inzwischen weitgehend weggebrochen. Demgegenüber beschwören Protagonisten eines HTR-Modulreaktors mit etwa 300 Megawatt Leistung seine guten Eigenschaften in Hinblick auf inhärente Sicherheit: „Beim Hochtemperaturreaktor lassen sich voraussichtlich grundsätzlich Auslegungen realisieren, bei denen die Begrenzung der nuklearen Leistung und der Brennelementtemperatur sowie der Nachwäremeabfuhr selbsttätig erfolgen 10. So soll die Kernschmelze prinzipiell vermieden werden. Durch weitere Sicherheitscharakteristiken will eine kleine Schar von verbliebenen HTR-Anhängern eine ernsthafte Alternative zu heute in Betrieb befindlichen Reaktoren aufbauen.

Es ist zu konzidieren, daß der HTR auf dem Papier zumindest beachtliche Vorteile aufweist, allerdings fehlt ein schlüssig bewertbares Gesamtkonzept und was noch schwerer wiegt: ein umfassendes sicherheitstechnisches Konzept würde voraussichtlich erst dann entwickelt, wenn die Reaktorindustrie und die Kraftwerksbetreiber Interesse signalisieren, was auch Mittelzufluß bedeuten würde. Damit ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen, auch wenn selbst die stark in Zweifel gezogene Wirtschaftlichkeit der Modulbauweise von HTR-Reaktoren in Vergleich zu heute theoretisch errichtbaren Leichtwasserreaktoren zumindest bei »Serienproduktion« behauptet wird.11 Die Industrie glaubt offenbar nicht daran. Realistischer Referenzfall für ernsthaft betriebene Neuentwicklungen in Hinblick auf Deutschland scheint für die überschaubare Zukunft nur der gemeinsam von Siemens und der französischen Framatom entwickelte Europäische Druckwasserreaktor (EPR) zu sein. Es handelt sich um einen Druckwasserreaktor besonders hoher Leistung (1.450 Megawatt) und damit um einen Reaktortyp, der prinzipiell mit den oben angeführten drei Hauptunfallszenarien mit Kernschmelze und möglicher massiver Radioaktivitätsfreisetzung belastet ist. Von inhärenter Sicherheit kann also kaum die Rede sein. So wurde auf der Straßburger Pressekonferenz zur Vorstellung des EPR am 13. November 1995 korrekt davon gesprochen, daß es sich „eindeutig“ um einen „evolutionären Reaktor (im Gegensatz zu einem revolutionären Konzept)“ handele. Eine ganze Reihe von zusätzlichen Sicherheitseinrichtungen bis hin zu einem sogenannten Core-Fänger werden diskutiert, der Folgen einer möglichen Kernschmelze eindämmen soll, die bei diesem Reaktor „noch unwahrscheinlicher“ sein soll „als bei den bestehenden“. Wie aber die nunmehr im deutschen Atomgesetz verankerte »Katastrophenfreiheit« realisiert werden soll, bleibt ein Rätsel. 1997 bis 1999 soll ein Genehmigungsverfahren bei den französischen und deutschen Sicherheitsbehörden über die Bühne gehen, so daß 1999 mit der Errichtung einer Erstanlage begonnen werden kann. Der EPR „soll die bestehenden Kernkraftwerksblöcke in Frankreich und Deutschland nach Ablauf ihrer planmäßigen Nutzungsdauer ersetzen. Außerdem wird er als Standard-Exportmodell angeboten werden“.

Daraus folgt, daß der EPR nach allem, was man bislang über ihn wissen kann, wohl kaum der angestrebte vollkommen sichere Reaktor sein wird, er ist eben doch nur ein verbesserter Druckwasserreaktor. Aber der EPR wird höchstbedeutsam zumindest für Mitteleuropa, da er nach dem Willen der beiden großen Atomriesen Siemens und Framatom das neue europäische Referenzmodell für alle Reaktoren sein wird, die man im den ersten Jahrzehnten des nächsten Jahrhundert errichten will.

Die Palette der Risiken

Auch wenn ein Reaktor theoretisch vorstellbar wäre, der viel »sicherer« sein könnte als alle bisher betriebenen, so bleibt doch ein erhebliches Risko der Kernenergienutzung, die unabhängig von der Wahl eines speziellen Reaktortyps ist. Die gesamte nukleare Spaltstoffspirale ist in das wirksame Gesamtrisiko der Kernenergie miteinzubeziehen.

Im Uranbergbau werden jährlich mehrere Millionen Tonnen von Material bewegt, um die benötigten etwa 100.000 Tonnen Uranerz zu schürfen, die den Uranbrennstoffbedarf von zur Zeit knapp 10.000 Tonnen pro Jahr befriedigen. Strahlende Abraumhalden sind die Folge und besondere Risken für die im Bergbau Beschäftigten, die zu erheblichen somatischen, aber auch genetischen Schädigungen führen. Insbesondere indigene Völker sind betroffen, wie zum Beispiel in den großen Abbaugebieten Australiens, Südafrikas und den USA. Aber dies geschieht nicht nur in fernen Ländern. Die Wismut im Osten Deutschlands produzierte nicht nur 220.000 Tonnen Uran, sondern hinterließ auch 48 Halden mit mehr als 300 Millionen Kubikmetern radioaktiv verseuchten Materials.12 Insgesamt 13 Milliarden DM will die deutsche Bundesregierung dafür aufwenden, eine »Sanierung« durchzuführen, die wegen der »Dringlichkeit« lieber erst gar nicht mit den eigentlich vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfungen verknüpft wird.

Der Umgang mit hochaktiven, strahlenden Materialien bei der Uranbearbeitung und -anreicherung sowie der Brennelementfertigung sind ebenfalls mit Risiken behaftet. Es entstehen weitere radiotoxische Abfälle. Dies ist insbesondere der Fall, wenn zur Plutoniumnutzung übergegangen wird. Durch Wiederaufarbeitung und VerMOXung, also der Wiederverwendung des in den Reaktoren entstandenem Plutoniums in Mischoxid-Brennelementen, erhöhen sich die Mengen an besonders langlebigen Aktiniden, die zu der unangenehmen Gruppe der Alpha-Strahler gehören.

Auch die Normalbetriebsrisiken können nicht vernachlässigt werden. Wie niedrige Strahlendosen tatsächlich auf die belebte Natur wirken, kann bis heute nicht mit Sicherheit angegeben werden. Die Diskussion darüber ist im Gange13 und hat am Beispielfall der überraschenden Leukämierate in der Nähe des Krümmel-Reaktors neue Nahrung gefunden. Trotz Versuchen der offiziellen Vertuschung scheint im Falle von Wiederaufarbeitungsanlagen in Großbritannien und Frankreich die Relevanz des Niedrigdosenproblems für Arbeiter in den Anlagen und für die Anwohner immer eindeutiger belegbar zu sein.

Hunderte von größeren Nukleartransporten finden jährlich in Europa statt, die jeweils ein nicht ignorierbares Risiko darstellen. Die Reaktorentsorgung wird große Geldsummen verschlingen und muß sichere Endlager über lange Zeiträume garantieren können. Noch offensichtlicher wird das Risiko am Ende der Brennstoffspirale, wenn man sich vor Augen hält, das bis heute – nach bereits jahrzehntelangem Betrieb von Kernraktoren – ein schlüssiges Entsorgungskonzept für die anfallenden radioaktiven Abfälle immer noch nirgends realisiert ist. Was zu beobachten ist, kann nur als Verschiebung des Problems auf zukünftige Generationen bei gleichzeitiger Weiternutzung existierender Reaktoren angesehen werden. Hier baut sich ein ständig wachsendes Risiko auf, das über Jahrtausende wirksam sein wird.

An verschiedensten Stellen der nuklearen Brennstoffspirale bestehen mögliche Übergänge zu militärischen Programmen: Atomwaffenprogrammen14. Der deutsche Uranbergbau im Bereich der Wismut diente beispielsweise jahrelang der Rohstoffproduktion für das sowjetische Atomwaffenprogramm. In deutschen Reaktoren produziertes und in französischen Wiederaufarbeitungsanlagen abgetrenntes Plutonium könnte sich durchaus in französischen Atomwaffen wiederfinden.

Die zivil-militärische Ambivalenz wesentlicher nuklearer Technologien und Materialien wird besonders prekär im Bereich von Urananreicherungs- und Wiederaufarbeitungsanlagen bzw. bei hochangereichertem Uran, Plutonium und Tritium. Davon sind auch Forschungsprogramme betroffen, wie das unselige Beispiel des geplanten neuen Garchinger Forschungsreaktors zeigt.15 Die offensichtlichen Probleme durch ständige Gefahr der Weiterverbreitung (Proliferation) von Kernwaffen und die fortdauernde Beibehaltung von existierenden Atomwaffenprogrammen bzw. von Kernwaffenoptionen wäre nicht mehr zu lösen durch einen unumkehrbaren Weg in die atomwaffenfreie Welt, solange eine angeblich rein zivile Plutoniumnutzung im weltweitem Maßstab erfolgt.

Es hat sich aber herausgestellt, daß die Plutoniumabtrennung aus dem nuklearen Abfall und die Vorbereitung für seine Wiederverwendung in Reaktoren so kostspielig sind, daß die Plutoniumnutzung in der zivilen Atomwirtschaft auf absehbare Zeit völlig unwirtschaftlich ist. Erst wenn die Uranpreise durch zu erwartende Verknappung in einigen Jahrzehnten wieder anwachsen, wäre vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus die Plutoniumnutzung vielleicht wieder verlockend. Eine Streckung der Ressource Uran würde aber nur beim Übergang zu einer Kernenergienutzung unter Verwendung Schneller Brutreaktoren erreicht. Deren Risikopotential ist im Vergleich zu heute betriebenen Leichtwasserreaktoren aber unvergleichlich höher einzuschätzen.

Zunehmend zeichnet sich ein wirtschaftliches Risiko der Kernenergienutzung ab. Nachdem die Investitionskosten für Kernkraftwerke so stark angewachsen sind, daß sie im Wettbewerb mit fossil befeuerten Kraftwerken – aber in Einzelfällen auch schon mit regenerativen Energiequellen – unterliegen, müssen sich die Energieversorgungsunternehmen fragen, in welche Technologien sie mit längerfristigerer Perspektive investieren wollen. Würde man alle Kosten der Kernenergie – auch die ökologischen Folgekosten an den verschiedensten Stellen der Brennstoffspirale – miteinbeziehen, so würden sich voraussichtlich schon jetzt die Nachteile der Kernenergie im Vergleich zu den meisten nicht-fossilen Energietechnologien nachweisen lassen. Die Bundesregierung hat eine Deckungssumme von elf Billionen DM im Falle einer großen Reaktorkatastrophe ausrechnen lassen. Wenn diese Zahl einigermaßen richtig die Größenordnung des anstehenden Problems im Falle einer Katastrophe – vieleicht sogar um den Faktor 10 übertrieben – beschreibt, so ist wohl nichts anderes als der völlige wirtschaftlichen Zusammenbruch zu erwarten.16

Daraus ergibt sich ein weiteres Risiko der Kernenergienutzung. Die Kernenergie bindet mit ihren unbewältigten Folgelasten zunehmend finanzielle Mittel, ohne daß ihr Beitrag zur Primärenergieproduktion in Deutschland deutlich über zehn – und weltweit über fünf – Prozent läge. Ein weiteres Setzen auf die Kernenergie in Forschung und Entwicklung, sowie beim Nachbau von auslaufenden Reaktoren wäre ein äußerst riskanter Weg in die Sackgasse.

Noch ein weiteres Risiko tritt hinzu, das zumeist unterschätzt wird: das Risiko durch Kriegs- und sonstige Gewalteinwirkungen.17 Nuklearanlagen sind tatsächlich schon dreimal Ziel militärischer Angriffe geworden. Zuerst geschah dies durch den israelischen Angriff auf den irakischen, fast fertiggestellten Tamuz-Reaktor im Jahre 1981, dann im irakisch-iranischen Krieg, als Irak iranische, im Bau befindliche Reaktoren bombardierte, und schließlich zerstörten im letzten Golfkrieg 1991 die USA einige irakische Nuklearanlagen, darunter erstmals zwei Forschungsreaktoren, von denen nicht sicher angenommen werden konnte, daß sie sich außer Betrieb befanden. Würde ein größerer Leistungsreaktor bombardiert, so könnten Unfallszenarien ausgelöst werden, die derjenigen der Tschernobyl-Katastrophe vergleichbar sind. Die direkte Wirkung und die schnell auftretenden radiobiologischen Folgen von Atomwaffen sind sicher allemal größer, aber die bewußte Verseuchung durch einen militärisch erzeugten Kernschmelzunfall mit massiver Radioaktivitätsfreisetzung hätte demgegenüber ein weit länger anhaltende Wirkung auf die betroffenenen Menschen und einen ganzen Landstrich. Es ist nicht auszuschließen, daß in konventionell geführten Kriegen in Betrieb befindliche große Reaktoren oder andere Nuklearanlagen angegriffen werden oder ungewollt in Mitleidenschaft gezogen werden – mit entsprechenden katastrophalen Wirkungen. Angesichts dieser Palette von Risiken wäre es ratsam, die gegenwärtige Kernenergienutzung bald möglichst zu beenden. Die durch den Betrieb von Kernreaktoren bereits entstandene »nukleare Hinterlassenschaft« muß durch ein vernünftiges Konzept der sicheren Lagerung bzw. Beseitigung des nuklearen Abfalls und der aktivierten Anlagenteile bewältigt werden. Ebenso muß die Sicherheit laufender Nuklearanlagen ständig überprüfbar und verbesserbar bleiben – auch wenn diese nur noch im Ausland betrieben werden sollten. Hier darf es keinen Fadenriß geben. Parallel müssen Kriterien für eine verantwortbare Verfolgung von Zukunftsoptionen im Bereich nuklearer Technologieoptionen gefunden werden, die die mögliche Entwicklung selbst mitbeeinflussen und die Konkurrenz zu den noch immer stiefmütterlich behandelten regenerativen Energieträgern explizit machen. Zu diesen Kriterien sollte meiner Meinung nach gehören:18

  • Nachweis der Machbarkeit von Katastrophenfreiheit
  • Verwirklichung von Proliferationsresistenz
  • minimale Langzeitfolgen
  • langer potentieller Nutzungshorizont
  • Gesamtinvestitionsbedarf nicht größer als für regenerative Energieträger erwartet.

Als weiteres Kriterium könnte man hinzusetzen, daß eine Entwicklungsreife in etwa 30 Jahren zu erwarten sein müßte, da der Zeitpunkt für den Start ihres Einsatzes notwendigerweiseweise rechtzeitig für das Erreichen des Klimaschutzzieles liegen muß.

Anmerkungen

1) N. C. Rasmussen, Reactor Safety Study – An Assessment of Accident Risks in U.S. Commercial Nuclear Power Plants. – WASH-1400, 1975. Zurück

2) Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), Deutsche Riskostudie Kernkraftwerke, Köln, 1979. Zurück

3) Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B. – GRS-A-1600, Köln, Juni 1989. Zurück

4) Öko-Institut, Riskountersuchungen zu Leichtwasserreaktoren, Öko-Bericht 24, Freiburg, 1983. Zurück

5) Öko-Institut, Bewertung der Phase B der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke, Gutachten im Auftrag des Ministers für Soziales, Gesundheit und Energie des Landes Schleswig-Holstein, Darmstadt, Okt. 1989. Zurück

6) Interessant ist in diesem Zusammenhang die Forderung eines Beratergremiums der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) aus dem Jahre 1992, die Wahrscheinlichkeit von Unfällen mit massiver Radioaktivitätsfreisetzung dürfe weltweit nicht größer als einmal in tausend Jahren sein – unabhängig von der weltweit installierten Kraftwerksleistung. Nur so könne gesellschaftliche Akzeptanz erreicht werden. (International Nuclear Safety Advisory Group, The Safety of Nuclear Power Plants, INSAG-5, Wien 1992). Zurück

7) Einen Überblick geben G. Rosenkranz, I. Meichsner, M. Kriener, Die neue Offensive der Atomwirtschaft, C. H. Beck, München, 1992; O. Schumacher, Neue Reaktortypen ohne Sicherheitsrisiko?, Wechselwirkung, Nr.67, Juni 1994, 26-31. Zurück

8) 13. RWE-Workshop Energie, Timmendorferstrand, Essen 1992, S.43. Zurück

9) O. Gremm, S. Jacke, Entwicklungspotential und Entwicklungsprobleme neuer Reaktorkonzepte, Atomwirtschaft 1/1992, S.22-27. Zurück

10) K. Kugeler, R. Schulten, Überlegungen zu den sicherheitstechnischen Prinzipien der Kerntechnik, KFA Forschungszentrum Jülich, Juli 1992. Zurück

11) K. Kugeler, W. Fröhling, Investitionskosten von HTR-Modulreaktoren, Atomwirtschaft, Jan. 1993, 68-70. Zurück

12) P. Diehl, Uranium Mining in Europe – The Impacts on Man and Environment, WISE News Communique 439/440, Amsterdam, Sept. 1995. Zurück

13) Anmerkungen dazu finden sich bspw. in W. Köhnlein, Wir können nicht mehr für euch tun, Wissenschaft und Frieden, 2/1995, S.95. Zurück

14) Darauf wurde in Wissenschaft und Frieden immer wieder hingewiesen. Vergl. beispielsweise Beiträge von W. Liebert und M. Kalinowski in den Heften 1/93, 1/94, 1/95, 4/95. Zurück

15) Vergl. W. Liebert, Viel Wind um HEU, Wissenschaft und Frieden, 4/1995, 42-46. Zurück

16) Jochen Benecke hat sehr eindrücklich auf die »Deckungslücke« im Katastrophenfall hingewiesen (vergl. seinen Beitrag: Der Spaß ist weg – Bemerkungen zur Kernenergiedebatte, Universitas 50 (1995), 376-390). Zurück

17) Carl Friedrich von Weizsäcker empfand dieses Argument gegen die Nutzung der Kernenergie als so schwerwiegend, daß er unter Berücksichtigung der augenblicklichen unfriedlichen Weltlage nach Jahrzehnten der nachdenklichen Befürwortung der Kernenergie schließlich, 1985, zum Lager derjenigen überwechselte, die auf Sonnenenergie statt Kernenergie setzen (vergl. seine Einleitung zu K. M. Meyer-Abich, B. Schefold, Die Grenzen der Atomwirtschaft, C. H. Beck, 1986). Zurück

18) Vergl. ausführlicher W. Liebert, Aussichten nuklearer Energieversorgung für die Zukunft, in: W. Bender/IANUS (Hrsg.), Verantwortbare Energieversorgung der Zukunft (zur Veröffentlichung vorgesehen). Zurück

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/1 Am Tag als der Regen kam, Seite