W&F 2015/4

Das »Weißbuch 2016«

Kontinuität oder Kurswechsel?

von Sabine Jaberg

Das »Weißbuch 2016« kommt. So lautet zumindest der Wille der Bundesregierung. Aber was soll es, was wird es bringen – Kontinuität oder Kurswechsel? Die Antwort erfordert erstens, den Trend der letzten Jahre zu rekonstruieren. Zweitens heißt es, nach möglichen Argumenten für einen Kurswechsel zu suchen. Drittens müssen Alternativen zur Kontinuität ausbuchstabiert werden. Viertens gilt es, im aktuellen Diskurs nach Indizien zu fahnden, die Auskunft über das neue Weißbuch versprechen.

Das noch gültige »Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr« markiert nur eine Etappe der umfassenden Neuausrichtung, die Anfang der 1990er Jahre mit dem Ende des globalen Macht- und Systemgegensatzes beginnt. Damals kommt der Bundeswehr ihr bisheriger Auftrag abhanden, „bei kurzer Vorbereitungszeit [...] die Verteidigungsräume zu beziehen und gegen Angriffe der Warschauer-Pakt-Truppen zu halten, dabei den Aufmarsch alliierter Streitkräfte zu decken und gleichzeitig in den Verteidigungsumfang aufzuwachsen“.1 So steht es noch im letzten Weißbuch aus der Ära der Blockkonfrontation von 1985.

Der bisherige Kurs

Zwei Schlagworte umreißen den Trend der letzten 25 Jahre: »Erweiterung des Sicherheitsbegriffs« und »Entgrenzung des Militärischen«. Beide lassen eine restriktive Interpretation des Grundgesetzes hinter sich, die den Einsatz der Bundeswehr ausschließlich zur Landes- oder auch Bündnisverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff erlaubt. Bereits die »Verteidigungspolitischen Richtlinien 1992« konstatieren, Sicherheitspolitik lasse sich „weder inhaltlich noch geographisch eingrenzen“,2 mit der Folge, dass künftig neben politischem auch „militärisches Krisen- und Konfliktmanagement im Vordergrund unserer Maßnahmen zur Sicherheitsvorsorge stehen“ 3 müssten. Dementsprechend bekennt sich das »Weißbuch 1994« zum „weiten Sicherheitsbegriff“,4 der im Einzelfall erfordere, das „gesamte Spektrum möglicher Maßnahmen“ einschließlich militärischer Komponenten zu prüfen.5

Dem fügen die »Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003« ein erweitertes Verständnis von Verteidigung hinzu. Letztere lasse sich ebenfalls „geografisch nicht mehr eingrenzen“, sondern trage „zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist“.6 Damit korrespondiert eine ausgedehnte Beistandsverpflichtung. Diese gelte nicht erst bei erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden Angriffen, sondern bereits bei „Krisen und Konflikten, die zu einer konkreten Bedrohung von Bündnispartnern eskalieren können“.7 Wenngleich die Mittel des Beistands offen bleiben, impliziert dieser Passus die Rechtsfigur »antizipatorische Nothilfe«, die zwar an die nationale Sicherheitsstrategie der USA, nicht aber an das Völkerrecht anschlussfähig ist. Das obige Zitat findet sich wörtlich im »Weißbuch 2006« wieder.8 Hinzu kommt dort das Bekenntnis zur „Sicherheitsvorsorge [...] durch Frühwarnung und präventives Handeln“, die das „gesamte sicherheitspolitische Instrumentarium einbeziehen [muss]“.9 Obwohl das »Weißbuch 2006« den weiten Verteidigungsbegriff nicht explizit übernimmt, lässt er sich dem Dokument doch in verklausulierter Form entnehmen.

Eine (schlechte) Option: Kontinuität

Was ist an dem eingeschlagenen Kurs eigentlich problematisch? Auf den ersten Blick spricht doch einiges für ihn: Sicherheit, verstanden als Abwesenheit bzw. Neutralisierung existentieller Bedrohungen, steht als legitimes Ziel nicht in Frage. Folglich erscheint es geradezu geboten, dass auch der deutsche Staat Gefahren identifiziert, um ihnen entgegenzuwirken. Dabei bringt es doch nur Vorteile, wenn er prinzipiell jederzeit über alle sicherheitsdienlichen Instrumente verfügen kann. Was aber, wenn ein für nützlich gehaltener Waffengang mit dem Völkerrecht kollidiert, zu dem sich das Grundgesetz in Artikel 25 bekennt? Nach der eben skizzierten Sichtweise obläge dem Staat die Entscheidung darüber, ob nicht auch rein zivile Mittel ausreichen, um Sicherheit zu gewährleisten. Erscheint der Streitkräfteeinsatz jedoch unumgänglich, wären Recht und Gewalthandeln eben durch kreative Interpretation in (scheinbare) Übereinstimmung zu bringen, wie beim Kosovokrieg 1999 mit der fragwürdigen Figur der »humanitären Intervention« vorexerziert.

Militärische Exzesse Deutschlands stehen ohnehin nicht zu erwarten – so die Grundannahme aus Politik und Wissenschaft. Daran ändere auch das weite Sicherheitsverständnis und der entgrenzte Streitkräfteauftrag nichts. Erstens liegen die innenpolitischen Hürden bei der Entsendung der Bundeswehr hoch, bedarf sie doch der konstitutiven Zustimmung des Parlaments. Zweitens müssen um ihre Wiederwahl besorgte Abgeordnete auf die Stimmung in der Bevölkerung Rücksicht nehmen. Und die steht militärischem Engagement eher skeptisch gegenüber.10 Hinzu kommen drittens die immanenten Grenzen, die Streitkräfte in vielen Fällen zu einem nicht oder nur bedingt geeigneten Instrument machen. Pandemien etwa lassen sich auch dann nicht mit Panzern bekämpfen, wenn das »Weißbuch 2006« sie zu den sicherheitspolitischen Herausforderungen zählt.11 Warum sollte das Militär aber nicht seinen Beitrag leisten, indem es etwa medizinische Spezialkapazitäten im Kampf gegen Ebola mobilisiert?

Gemäß dieser Betrachtungsweise erscheint ein Kurswechsel nicht nötig. Allenfalls wären problematische Spitzen, wie das verklausulierte »Recht« auf antizipatorische Nothilfe, zu kappen oder abzuschleifen. Im Wesentlichen hieße die Vorgabe für das kommende Weißbuch: Anwendung des bisherigen Trends auf neu erkannte Gefährdungen (z.B. Cyberwar, Islamischer Staat).

Wer einen Kurswechsel anmahnt, müsste also mindestens einen grundsätzlichen Defekt nachweisen, der sich nicht innerhalb des bisherigen Kurses reparieren ließe. Heißer Kandidat dafür ist das Paradigma »nationale Sicherheit«. Gemäß »Weißbuch 2006« sei Deutschlands Sicherheitspolitik vom Ziel geleitet, „die Interessen unseres Landes zu wahren“.12 Zwar erscheint diese Passage zunächst als Selbstverständlichkeit, kann deutsche Politik sich doch kaum chinesischen, russischen oder amerikanischen Interessen verschreiben. Allerdings offenbart sie auch das Kernproblem: die immanente Eigenbezüglichkeit. Wenngleich internationale Bezüge mitreflektiert werden, geht es im Paradigma nationaler Sicherheit primär um die spezifischen Anliegen eines bestimmten Staates. Dieser gilt als letzte Referenzgröße. Alle (anderen) Akteure und Probleme interessieren ihn nur soweit, als sie seine eigene Sicherheit beeinflussen. So spricht das »Weißbuch 2006« zwar sowohl hinsichtlich der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen als auch der Energieproblematik von einer Bedrohung globaler Sicherheit. In beiden Fällen betont es aber besonders die Auswirkungen auf Deutschland.13

Letztlich schafft der Blick durch die Brille nationaler Sicherheit eine Welt der Asymmetrien: Während die eigenen Anliegen als berechtigt erscheinen und daher mit allen zweckdienlichen Mitteln an jedem dafür geeigneten Ort realisiert werden dürften, wird politischen Widersachern dies nicht in gleicher Weise zugestanden. Deren Ansprüche gelten vielmehr als Störfaktor für die internationale Ordnung oder gar als Bedrohung der nationalen Sicherheit. Der eigene Beitrag zur Genese problematischer Entwicklungen hingegen gerät aus dem Blickfeld. Als mögliche Ursachen von Migration beispielsweise identifiziert das Weißbuch „Krieg und Bürgerkrieg, Vertreibung, Verfolgung, Umweltzerstörung, Armut, Hunger oder andere [...] Notlagen“.14 Hinweise etwa auf eine gegenüber den Ländern Afrikas katastrophale Praxis der Europäischen Union fehlen jedoch (z.B. unfaire Handelsabkommen, ruinöse Billigfleischexporte). Ähnliche Defekte zeigen sich bei den beklagten „Störungen der Rohstoff- und Warenströme [...] durch zunehmende Piraterie“.15 Hier endet der sicherheitspolitische Blick beim räuberischen Akt. Der eigene Anteil an der Verursachung der Piraterie (z.B. Überfischung, Giftmüllverklappung) bleibt unthematisiert. Derart verkürzte Analysen verengen auch den Strategieraum der hohen Politik: Die Korrektur des eigenen Verhaltens scheidet aus dem Handlungsrepertoire aus.

Dem Paradigma nationaler Sicherheit wohnt ein zweites Risiko inne, das die »Kopenhagener Schule«16 pointiert herausstellt: Es leistet dem Einsatz militärischer Mittel Vorschub, denn bei Sicherheit handelt es sich um einen ganz besonderen Zielwert, verweist sie doch auf das eigene Überleben. Attestiert Politik einem Problem Sicherheitsrang, katapultiert sie sich gleichsam in einen Notwehrmodus. Dieser rechtfertigt nach gängiger Auffassung auch den Einsatz gewaltsamer Mittel. Das bedeutet: Phänomene, die ein Sicherheitslabel erhalten, werden für eine militärische Bearbeitung auch dann geöffnet, wenn dies sachlich (noch) nicht erforderlich wäre. Dazu tragen die Dramatisierung der Lage, die unmittelbaren Handlungsdruck suggeriert, und die schnelle Entsendefähigkeit der Streitkräfte bei. Mithin kommt hier eine irrationale Komponente ins Spiel, die in den Plädoyers für eine Politik der freien Hand meist unterbelichtet bleibt.

Im erwähnten Fallbeispiel Ebola könnte der Auftrag an die Armee unter Umständen eben nicht nur lauten, medizinisches Personal und Gerät bereitzustellen, sondern darüber hinaus Erkrankte gegebenenfalls unter Einsatz militärischer Gewalt zu isolieren, um die Verbreitung des Erregers zu unterbinden. Die (reaktive) Eindämmung der Symptome wäre unter Umständen kaum mehr als eine billige Ersatzhandlung für die ausgebliebene (präventive) Bekämpfung der Ursachen. Kontinuität ist also mit Blick auf das kommende Weißbuch durchaus eine problematische Option.

Drei (bessere) Alternativen

Die Alternativen zur Kontinuität lauten: Kehrtwende, reflexive Sicherheitspolitik und reflexive Friedenspolitik. Sie müssen sich nicht wechselseitig ausschließen, sondern können einander durchaus ergänzen. Die programmatische Kehrtwende bedeutete nichts anderes als die Rückkehr zum »status quo ante«. Der Sicherheitsbegriff würde wieder auf existentielle Gefährdungen durch personale Großgewalt (Kriege, terroristische Anschläge) beschränkt und das Militärische an den Verteidigungsauftrag rückgebunden. Das Leitmotiv »nationale Sicherheit« bliebe jedoch unberührt, seine Defekte wirkten also fort.

Hier setzt die moderate Paradigmenkorrektur zugunsten reflexiver Sicherheitspolitik an. Dabei gälte es zunächst, die eigenen Anteile an der Genese sicherheitsrelevanter Probleme mit in die Analyse einzubeziehen und die Änderung des eigenen Agierens als Strategieoption zu begreifen. Dafür sprechen nicht nur ethisch-moralische, sondern auch pragmatische Überlegungen: Das eigene Verhalten ist der Steuerungsfähigkeit unmittelbarer zugänglich als das Handeln anderer Akteure. Die Vorstellung, von außen Gesellschaften beeinflussen und Staaten errichten zu können, hat sich jedenfalls als sozialtechnologische Illusion erwiesen.17 Gleichwohl handelt es sich bei der Forderung nach Selbstreflexion nicht um eine Zauberformel, die alle Probleme zum Verschwinden brächte. Schließlich trägt »der Westen« in den meisten Fällen kaum eine Allein-, sondern eher eine Mitverantwortung, die in wechselnden Kontexten noch dazu unterschiedlich groß ausfallen mag.

Die Kehrseite der Selbstreflexion heißt Empathie. Wer die Folgen des eigenen Handelns bedenken will, muss sich ein Bild von den externen Wirkungen machen. Das impliziert auch das Eintauchen in die Sichtweisen anderer Akteure. Je intensiver dies geschieht, desto stärker relativiert sich das Paradigma nationaler zugunsten internationaler Sicherheit, desto mehr weicht das Prinzip der Eigenbezüglichkeit einem Perspektivenpluralismus. Zwar generiert die Ausrichtung am Konzept internationaler Sicherheit nicht automatisch (gewaltfreie) kooperative Politiken, allerdings leistet die Einsicht in Interdependenzen ihnen doch Vorschub. Je mehr Probleme reflexiv durchgearbeitet würden, desto besser.

Die reflexive Friedenspolitik geht einen Schritt weiter als ihr sicherheitspolitisches Pendant. Was wäre mit diesem Paradigmenwechsel gewonnen? Idealtypisch zugespitzt: Sicherheit stellt eine genuin eigenbezügliche Kategorie dar, Frieden ist von vornherein als Beziehungsbegriff angelegt. Sicherheit befördert also asymmetrische Strukturen, Frieden begünstigt symmetrische Beziehungsmuster. Sicherheit kuriert eher am sichtbaren Symptom, Frieden arbeitet stärker an den Ursachen. Sicherheit manipuliert Völkerrecht nach Nützlichkeitserwägungen, Frieden respektiert dessen Eigenwertigkeit. Sicherheit setzt den jeweils anderen Akteur zunächst unter Feindverdacht, Frieden sieht ihn zuvorderst als gleichberechtigten Partner. Sicherheit lässt Kooperation als Möglichkeit zu, Frieden ist sie als Handlungsmaxime eingeschrieben. Sicherheit setzt dort, wo partnerschaftliche Zusammenarbeit nicht (mehr) greift, auch auf militärische Stärke, Frieden sucht nach gewaltfreien Alternativen.

Gleichwohl ist der Frieden gegenüber Verlockungen der Gewalt nicht immun. Bereits der Philosoph Nicolai Hartmann (1882-1950) warnte eindringlich vor einer »Tyrannei der Werte«.18 Dieses Risiko bestehe dann, wenn der Wert vereinzele, d.h. nicht in ein komplexes Wertgefüge eingesponnen werde. Mit Blick auf den Frieden läge die Gefahr darin, ihn mit einem bestimmten Inhalt – etwa einer speziellen Lebensform, einer präferierten Religion etc. – gleichzusetzen. Damit stiege auch die Versuchung, die Differenz zwischen Realität und Zielwert gewaltsam zu beseitigen. Allerdings hält das Friedensparadigma auch das Gegengift parat: Die Konstruktion des Friedens als Wert mit einer „potentielle[n] Geltungsuniversalität“ 19 würde gleichsam als Vorgriff auf den Weltfrieden dazu anhalten, den anderen stets als künftigen Partner zu behandeln, auf dessen Belange schon heute Rücksicht zu nehmen ist. Das schließt den (noch dazu gewaltsamen) Oktroy partikularer Friedensvorstellungen aus. Und die Besinnung auf die Vollwertigkeit des Friedens, der Ziel und Weg gleichermaßen umfasst, würde Gewalt zusätzlich delegitimieren. Auch der Frieden bedarf also der Selbstreflexion. Das schließt die Verpflichtung zur Empathie mit ein.

Ausblick: das neue Weißbuch

Wie zeichnen sich die vier Entwicklungsmodi bereits heute im Diskurs ab? Für die erste Option, die Kontinuität, sprechen die »Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011«.20 Abgesehen von einigen Umetikettierungen beschränken sie sich darauf, neue Sachverhalte unter den weiten Sicherheitsbegriff zu subsumieren, ohne den Raum militärischer Möglichkeiten zu begrenzen.21 Dieser Befund erscheint durchaus relevant: Seit Ende des Kalten Kriegs sind es die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die – in Umkehrung der bürokratisch vorgesehen Reihenfolge – die Impulse für die nachfolgenden Weißbücher setzen. Des Weiteren stellen Andeutungen aus dem Apparat des Verteidigungsministeriums zumindest bei den großen Linien Kontinuität in Aussicht. Darüber hinaus enthält der Bericht der Rühe-Kommission keine Anzeichen für eine Kursänderung, allerdings beschränkt er sich auftragsgemäß auf Fragen der Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen unter den Bedingungen fortschreitender Bündnisintegration.22 Die Zeichen stehen demnach auf Fortschreibung des bisherigen Kurses.

Für die zweite Option, die programmatische Kehrtwende, besteht hingegen kaum Hoffnung. Weder zeichnet sich eine Engführung des Sicherheitsbegriffs noch eine Begrenzung des Militärischen ab. Angesichts unbefriedigender Interventionserfolge (z.B. Afghanistan, Irak, Libyen) deuten sich unter dem umstrittenen Schlagwort der „Merkel-Doktrin“ 23 allenfalls pragmatische Korrekturen an. Demnach würde Deutschland sich bei der Entsendung der Bundeswehr künftig stärker zurückhalten, dafür aber vermehrt auserkorene Partner unterstützen – sei es mit Rüstungslieferungen (wie im Falle Saudi-Arabiens) oder mit Ausbildungshilfen bei Bedarf auch vor Ort (wie im Falle der kurdischen Peschmerga im Irak). Eine solche »Ertüchtigungsstrategie« könnte durchaus ins »Weißbuch 2016« Eingang finden. Ob damit tatsächlich mehr Sicherheit produziert würde, ließe sich bei einer reflexiven Wende, die funktionale wie dysfunktionale Effekte gleichermaßen zu bedenken hätte, mit gutem Grund bezweifeln.

Gemessen am Problemdruck führt eigentlich kein Weg an der dritten Option, einer reflexiven Sicherheitspolitik, vorbei. Besonders augenfällig zeigt sich dies im äußerst gespannten Verhältnis »des Westens« zu Russland. Nicht nur, aber auch eine forsche Ostausdehnung der Europäischen Union und vor allem der Nordatlantischen Vertragsorganisation haben dazu beigetragen. Ökonomische Sanktionen und militärische Drohgebärden bleiben bislang nicht nur ihren Erfolg schuldig, sondern haben kräftig an der Eskalationsschraube gedreht. Gelänge es, die Beziehungen durch politische Vertrauensbildung zu entspannen, erübrigte sich nicht nur riskantes Säbelrasseln, sondern es eröffneten sich neue Möglichkeiten für die Bearbeitung anderer Konflikte, insbesondere in Syrien. Wenngleich Deutschland keineswegs zu den Hardlinern zählt, sondern auch diplomatische Spielräume sucht, scheint die Bundesregierung noch nicht bereit, den eigenen Anteil am Problem systematisch aufzuspüren, einzuräumen und abzubauen.

Dürfte das Weißbuch schon kaum im Zeichen reflexiver Sicherheitspolitik stehen, gilt dies umso mehr für eine reflexive Friedenspolitik. Dabei ist diese vierte Option nicht so naiv, wie sie auf den ersten Blick anmutet: Widmet sich das erste »Weißbuch 1969« noch ganz der Verteidigungspolitik, beziehen die Nachfolgedokumente die Sicherheitspolitik mit ein. Warum sollte es also nicht möglich sein, Friedenspolitik als weitere Kategorie hinzuzufügen oder gar als neues Leitmotiv zu etablieren? Immerhin lautet der Auftrag in der Präambel des Grundgesetzes, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Und einige Probleme, denen das »Weißbuch 2006« Sicherheitsrang einräumt, scheinen für eine friedenspolitische Bearbeitung geradezu prädestiniert: Die massenhafte Migration nach Europa, um nur ein Beispiel zu nennen, dürfte ohne Bekämpfung der Ursachen, also Eröffnung von Lebenschancen, kaum nachhaltig abnehmen.

Da die Federführung für das kommende Weißbuch erneut beim Verteidigungsministerium liegt, steht ein solcher Paradigmenwechsel allerdings nicht zu erwarten. Zudem weht ziviler Friedenspolitik kalter Wind entgegen. Kein geringerer als Bundespräsident Joachim Gauck denunziert in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 pazifistische Positionen als Ausdruck von Weltabgewandtheit und Bequemlichkeit, während er militärisches Engagement als Übernahme von Verantwortung würdigt.24

Der Sachverhalt, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier unmittelbar danach Gaucks Formel wiederholt, Deutschland müsse bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen, gilt etlichen Kritikern als Einstimmung der Öffentlichkeit auf noch mehr Bundeswehreinsätze. Dabei setzt Steinmeier durchaus eigene Akzente: Entscheidend sei, gemeinsam mit anderen intensiver und kreativer darüber nachzudenken, wie der Instrumentenkasten der Diplomatie auszustatten und für kluge Initiativen nutzbar zu machen wäre.25 Hier schimmert reflexive Friedenspolitik zumindest durch. Stilbildend für das neue Weißbuch wird sie wohl nicht.

Anmerkungen

1) Bundesminister der Verteidigung (1985): Weißbuch 1985 zur Lage und Entwicklung der Bundeswehr. Bonn, S.393 (Ziffer 890).

2) Bundesminister der Verteidigung (1992): Verteidigungspolitische Richtlinien 1992. Bonn, S.16.

3) Ibid., S.16.

4) Bundesministerium der Verteidigung (1994): Weißbuch 1994 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr. Bonn, S.26.

5) Ibid., S.39.

6) Bundesministerium der Verteidigung (2003): Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Berlin, S.18 (Pkt. 5).

7) Ibid., S.28 (Pkt. 79).

8) Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, S.75.

9) Ibid., S.29.

10) Körber-Stiftung (2014): Einmischen oder zurückhalten. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage von TNS Infratest Politikforschung zur Sicht der Deutschen auf die Außenpolitik. Hamburg, S.6f.

11) Weißbuch 2006, S.27.

12) Ibid., S.28.

13) Ibid., S.25 und S.27.

14) Ibid., S.27.

15) Ibid., S.26.

16) Barry Buzan u.a. (1998): Security – A New Framework for Analysis. Boulder, London: Lynne Rienner.

17) Berrit Bliesemann de Guevara und Florian P. Kühn (2010): Illusion Statebuilding – Warum sich der westliche Staat so schwer exportieren lässt. Hamburg: Edition Körber-Stiftung.

18) Nicolai Hartmann (1949): Ethik. Berlin: Walter de Gruyter, 3. Aufl., S.576f.

19) Valentin Zsifkovits (1973): Der Friede als Wert – Zur Wertproblematik der Friedensforschung. München und Wien: Olzog Verlag, S.20.

20) Bundesministerium der Verteidigung (2011): Verteidigungspolitische Richtlinien 2011. Berlin.

21) Sabine Jaberg: Bundeswehrreform ohne Fundament – Neue Richtlinien schreiben Defizite fort. W&F 3-2011, S.9-11.

22) Deutscher Bundestag: Unterrichtung durch die Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Abschlussbericht der Kommission. Drucksache 18/5000 vom 16. Juni 2015.

23) Konstantin von Hammerstein u.a.: Die Merkel-Doktrin. Der Spiegel, 49/2012, S.20-27; hier: S.21.

24) Rede von Bundespräsident Joachim Gauck zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz vom 31. Januar 2014.

25) Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz vom 1. Februar 2014.

Dr. Sabine Jaberg ist Dozentin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Friedensforschung an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2015/4 Deutsche Verantwortung – Zäsur oder Kontinuität?, Seite 15–18