W&F 2017/4

De-facto-Staaten

Prekäre Staatlichkeit und eingefrorene Konflikte

von David X. Noack

Im Zuge der Nationenbildung seit Ende des 18. Jahrhunderts bildeten sich immer wieder so genannte stabilisierte De-facto-Regime. Sie entstanden vor allem durch den Zerfall größerer Staaten, durch post-koloniale Konflikte und infolge zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen. Solche Staaten stehen bis heute im Zentrum eingefrorener Konflikte, weisen nach der Drei-Elemente-Lehre des Staatsrechtlers Georg Jellinek (1851-1911) alle Merkmale eines Staates auf, werden jedoch nicht allgemein international anerkannt. Dieser unklare rechtliche Status verursacht nach wie vor in den De-facto-Staaten selbst, den Mutterstaaten – von denen sich die De-facto-Regime abspalteten – und auch international erhebliche Probleme. Da keine Kampfhandlungen stattfinden, sind die Konflikte aber nicht »heiß«, sondern eingefroren – aber nicht gelöst.

Georg Jellinek schrieb in seinem 1900 erstmals veröffentlichten Werk »Allgemeine Staatslehre«, ein Staat müsse ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt besitzen (Jellinek 1905). Nach dieser Definition existieren heute neben den 193 Staaten, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, noch mindestens zehn weitere Staaten, die in verschiedenen Abstufungen in die internationale Staatengemeinschaft und Weltökonomie eingebunden sind.1 Diese De-facto-Staaten machen deutlich, dass nicht nur die von Jellinek benannten Elemente (Jellinek‘sche Trias) ein konstituierendes Kennzeichen von Staatlichkeit sein können.

Vertraglich kodifiziert wurde dieser Umstand bei der Siebten Internationalen Konferenz Amerikanischer Staaten. 1933 beschlossen die Abgesandten von 20 Staaten des amerikanischen Doppelkontinents, dass ein weiterer Aspekt hinzukommen müsse: „Der Staat als Subjekt des internationalen Rechts sollte folgende Eigenschaften besitzen: (a) eine ständige Bevölkerung; (b) ein definiertes Staatsgebiet; (c) eine Regierung; und (d) die Fähigkeit, in Beziehung mit anderen Staaten zu treten.“ (Seiler 2005, S. 49, Fn. 354) Was in der »Konvention von Montevideo« noch ziemlich theoretisch klang, stellte sich in den folgenden Jahrzehnten als praktischer Leitfaden heraus: Staaten werden heute in »allgemein anerkannt« und »allgemein nicht anerkannt« unterschieden.

Bei den allgemein nicht anerkannten De-facto-Regimen kommt hinzu, dass sich über kürzere oder längere Zeit ein anderer Staat als Garantiemacht herausschält, der den De-facto-Staat ökonomisch, politisch und militärisch stützt und damit den eingefrorenen Konflikt verstetigt. Der Grad der Patronage dieses Staates ist durchaus unterschiedlich. Dessen unbenommen ist aber festzustellen, dass nahezu alle De-facto-Regime aus kulturellen, politischen und sozioökonomischen Sollbruchstellen hervorgingen, die in den Mutterländern existierten.

Ein kurzer Blick auf die Geschichte

Die Versprechen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker von US-Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) im Westen und Wladimir Lenin (1870-1924) im Osten führten in den Jahren 1917 bis 1919 zu vielen Staatsgründungen. Die wenigsten konnten sich dauerhaft halten. Auch legten das Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten sowie der russische Revolutionsführer keine klaren Maßstäbe bei dem »Recht auf Unabhängigkeit« an. Während sich die US-Regierung am Ende des Ersten Weltkriegs für die Eigenständigkeit der Tschechoslowakei einsetzte, besetzten US-Truppen die Karibikrepubliken Haiti und Dominikanische Republik (Castor 1974). Auf der anderen Seite akzeptierte die sowjetische Regierung rasch die Unabhängigkeit Finnlands, verleibte sich aber die eigenständigen Kaukasusrepubliken sowie das autonom organisierte Zentralasien ein.

Der Völkerbund wurde nach dem Ersten Weltkrieg 1919 im Kontext des Versailler Vertrags gegründet und schuf auf globaler Ebene erstmals einen Mechanismus, mit welchem die britische und die französische Regierung der internationalen Staatengemeinschaft einen Rahmen geben wollten. Dem Bund gehörte keineswegs die Gesamtheit der damals allgemein anerkannten Staaten an (die Vereinigten Staaten z. B. traten nie bei), er wurde also nicht zur Norm. Überdies entstanden jenseits des Bundes weitere Staaten, die nach modernen Kriterien als De-facto-Regime gelten würden.2

Der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg brachte den Beginn einer von den USA dominierten Weltordnung mit sich. 1945 wurden die Vereinten Nationen (UNO) gegründet, durch welche die internationalen Beziehungen bis heute kanalisiert werden; kurz darauf löste sich der Völkerbund auf. Der endgültige Durchbruch der Vereinten Nationen kam mit dem Ende der Systemkonfrontation 1989-1991. Nicht nur die neu gebildeten Staaten in Osteuropa und Zentralasien, sondern auch diverse Staaten des Pazifiks, die beiden Koreas und westeuropäische Kleinstaaten traten Anfang der 1990er Jahre der Organisation bei. Die neutrale Schweiz folgte sogar erst 2002, womit der letzte damals allgemein anerkannte Staat Mitglied der Vereinten Nationen wurde.

Während seitdem die Vereinten Nationen die Norm darstellen, gibt es weiterhin internationale Beziehungen jenseits dieser Organisation. Der älteste Staat außerhalb des UN-Gefüges ist Taiwan (Republik China). 1971 beschloss die UN-Vollversammlung, nicht länger die Vertreter Taiwans, sondern die der Volksrepublik China anzuerkennen (Resolution 2758). 1979 nahmen die Vereinigten Staaten diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik auf, und im gleichen Jahr verabschiedete der US-Kongress den »Taiwan Relations Act«, der die Beziehungen zwischen Washington und Taipeh bis heute regelt. Im selben Jahrzehnt hoben türkische Besatzungstruppen in Nordzypern ein eigenes De-facto-Regime aus der Taufe. Nachdem die Türkei Zypern 1974 völkerrechtswidrig überfallen hatte, besetzte das NATO-Land circa ein Drittel der Insel. Aus den Besatzungsbehörden ging 1983 die Türkische Republik Nordzypern hervor, die bis heute lediglich von einem UN-Mitglied anerkannt wird: der Türkei selbst.

Außerdem entstand in den 1970er Jahren die Demokratische Arabische Republik Sahara (Westsahara). Nachdem die Kolonialmacht Spanien das Gebiet 1975 in die Unabhängigkeit entlassen hatte, marschierten marokkanische Truppen in die Provinz ein und annektierten einen Großteil des Gebiets.3 Mithilfe Algeriens, des traditionellen Konkurrenten Marokkos in der Region, etablierte die sahaurische Befreiungsfront Polisario ein Staatswesen, welches sich bis heute auf die nicht-annektierten Gebiete sowie auf Flüchtlingslager in Algerien konzentriert.

Mit dem Ende des realsozialistischen Blocks 1989-1991 sowie der Desintegration der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens entstanden nicht nur viele neue allgemein anerkannte Staaten in Europa und Zentralasien, sondern auch einige De-facto-Regime.4 So erklärten beispielsweise Gagausien (Moldau), die Tschetschenische Republik Itschkerien (Russland) und die Republika Srpska (Bosnien-Herzegowina) ihre Unabhängigkeit. Einige dieser für längere Zeit existierenden De-facto-Regime wurden gewaltsam zerschlagen oder in politische Lösungen gezwungen. Mit einer Bombardierungskampagne zwangen beispielsweise die NATO-Regierungen die politische Führung der Republika Srpska 1995 zu einem politischen Kompromiss, und die russische Armee zerschlug Itschkerien im Jahr 1999.

Eines der wenigen Positivbeispiele bei der Bewältigung von Konflikten mit stabilisierten De-facto-Regimen ist Gagausien im Süden der Republik Moldau. Die gagausische politische Führung, welche die Region vier Jahre lang unabhängig von der Zentralregierung kontrolliert hatte, einigte sich mit der moldauischen politischen Führung auf eine Autonomielösung mit weitgehenden politischen und kulturellen Sonderrechten (Chinn and Roper 1998).

Über die inzwischen wieder zerschlagenen De-facto-Staaten hinaus entstanden 1990/1991 noch diverse andere, die sich stabilisieren konnten. Diese reichen von Somaliland am Horn von Afrika bis nach Transnistrien, einem kleinen Landstrich zwischen der Republik Moldau und der Ukraine.

Eigenschaften stabilisierter De-facto-Staaten

Viele Staaten jenseits der Vereinten Nationen beanspruchen zwar alle Eigenschaften der Jellinek‘schen Trias, dennoch stellt sich die Frage, inwieweit bei näherer Betrachtung diese Kriterien – Staatsvolk, Staatsgrenzen und Staatsgewalt – tatsächlich oder in vollem Umfang erfüllt sind.

Die Gründung vieler De-facto-Regime ging mit Vertreibungen einher, so im Zusammenhang mit dem Krieg um Bergkarabach (1989-1994) (zu Bergkarabach siehe den Text von Aser Babajev auf S. 18). Aufgrund der ethnischen Säuberungen leben bis heute 623.000 Flüchtlinge im Mutterland Aserbaidschan. Abchasien hat durch den Unabhängigkeitskrieg gegen Georgien 1992/1993 etwa die Hälfte der Bevölkerung verloren und aus dem Kosovo wurden bereits 1999 circa 100.000 Serben vertrieben (Finn 1999). Es stellt sich also die Frage, ob die vertriebenen Teile der Bevölkerung dem jeweiligen Staatsvolk noch hinzuzählen sind. Ohne diese Frage zu klären, können die eingefrorenen Konflikte nicht gelöst werden.

Bei den meisten De-facto-Regimen ist auch das Staatsgebiet nicht gesichert. So beansprucht die Regierung Westsaharas das gesamte von Marokko annektierte Gebiet, kontrolliert aber nur einen Bruchteil davon. Die kosovarische Regierung wiederum beansprucht das gesamte Gebiet der einstigen jugoslawischen autonomen Provinz Kosovo und Metochien, kontrolliert aber nicht den mehrheitlich serbisch besiedelten Norden.

Der dritte Aspekt ist die Staatsgewalt – der Faktor, der sich am schwersten messen lässt. Die De-facto-Regime beanspruchen zwar die Kontrolle über ihr jeweiliges Land. Einschränkungen werden jedoch im Kosovo und in Nordzypern besonders deutlich – beide sind von NATO-Streitmächten besetzt. Auch in den Gebieten weiterer De-facto-Regime gibt es Stützpunkte und Truppen anderer Länder, wie russische Truppen in Abchasien, Südossetien und Transnistrien oder armenische Soldaten in Bergkarabach.

Da alle der De-facto-Regime Patronagestaaten haben, die ihre Unabhängigkeit garantieren, stellt sich immer die Frage, welchen Einfluss diese »großen Brüder« haben. So kann Abchasien, dessen Armee­chef ein von Russland eingesetzter russischer Militär ist, schwerlich als unabhängig gelten. Auf der anderen Seite prägen diverse bilaterale Streitfragen die Beziehungen zwischen der russischen und der abchasischen Regierung, und sowohl die strategische Elite als auch weite Teile der Bevölkerung Abchasiens orientieren sich auf Unabhängigkeit (Frear 2014, S. 7).

In Bergkarabach, im Kosovo und in Südossetien ist dies anders, dort gibt es starke irredentistische Bewegungen, d.h. große Teile der Bevölkerungen und teilweise auch die Regierungen dieser Länder streben einen Beitritt zum Patronagestaat an – und somit die Auflösung des eigenen De-facto-Staats.

Die Frage der Souveränität stellt sich auch in der wirtschaftlichen Sphäre. So hat das Kosovo kaum eine eigene Wirtschaftspolitik. Noch unter UN-Verwaltung (1999-2008) legte die UNMIK die Grundsteine für die heutige kosovarische Volkswirtschaft. Bereits im ersten Jahr der UN-Verwaltung des Gebiets führten die Behörden die Deutsche Mark als offizielle Währung ein.5 Außerdem begannen die – vor allem westlichen – Verwalter im Jahr 2002 mit der Privatisierung des öffentlichen Eigentums. Bis dahin war ein Großteil der Wirtschaft in öffentlicher Hand gewesen (Knudsen 2013, S. 292-294). Zusätzlich trat das 2008 unabhängig erklärte Land – obwohl damals nur von einem Bruchteil aller UN-Mitglieder anerkannt – im Jahr 2009 dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank bei, was die Grundlage für eine dauerhaft institutionalisierte neoliberale Wirtschaftspolitik schuf.6 Das Kosovo sollte zu einem Vorbild eines »(neo-) liberalen Friedens« werden. Heute ist es das Armenhaus Europas (Reljic 2015).

Auch die Art der Volkswirtschaften der Nicht-UN-Länder ist höchst unterschiedlich. So ist Taiwan ein Land des globalen ökonomischen Zentrums mit einem hohen Lebensstandard.7 Transnistrien und Nordzypern sind semi-periphere Länder, die auf der einen Seite ein gewisses Industriepotenzial haben, auf der anderen Seite zu einem Großteil vom Export landwirtschaftlicher Güter (Nordzypern) bzw. dem Handel (Transnistrien) abhängen. Die meisten der stabilisierten De-facto-Regime sind jedoch nur peripher in den Welthandel integriert und exportieren ausschließlich Rohstoffe und landwirtschaftliche Güter. Im Falle Südossetiens und Westsaharas kann man kaum von einer Wirtschaft sprechen: In der von Wüsten geprägten Westsahara leben nur einige Nomadenstämme, und in Südossetien ist der zu circa 90 % mit russischen Budgethilfen finanzierte Staat der wichtigste Arbeitgeber (Gordijenko 2016).

Aufgrund der komplizierten rechtlichen Lage sind viele internationale Organisationen in den meisten De-facto-Staaten nicht präsent. Diese erhalten auch wenig Entwicklungshilfe, und internationale Konzerne investieren selten bis gar nicht in diese Volkswirtschaften. Teilweise verhängten die Mutterstaaten eine Wirtschaftsblockade über die De-facto-Regime, so Georgien gegenüber Abchasien und Südossetien oder die Ukraine gegenüber Donezk und Lugansk. Eine Ausnahme ist der Fall Transnistrien: Dort ist international vertraglich abgesichert, dass der De-facto-Staat Handel betreiben darf (Noack 2017, S. 18).

Nach der Konvention von Montevideo ist die Fähigkeit, mit anderen Staaten diplomatische Beziehungen einzugehen, ein Faktor für Staatlichkeit. Alle De-facto-Staaten pflegen diplomatische Beziehungen. Die Anzahl der UN-Staaten, welche sie anerkennen, ist hingegen höchst unterschiedlich. So wird Kosovo von 115 Staaten anerkannt, Westsahara von 84, Taiwan von 20 und Somaliland, Bergkarabach und Transnistrien von keinem.

Trotzdem pflegen die De-facto-Regime aktive Außenbeziehungen mit UN-Staaten. Taiwan beispielsweise hat über 50 inoffizielle Vertretungsbüros. Staaten wie Abchasien und Bergkarabach setzen stark auf Nichtregierungsorganisation und die tscherkessische bzw. armenische Diaspora (Frear 2014). Darüber hinaus spielen private Firmen eine Rolle in der Vertretung Abchasiens und Taiwans auf der internationalen Ebene, und gemeinnützige Organisationen helfen den Regierungen Somalilands und Westsaharas. Über all diese Kanäle sowie aktive Internetpräsenzen, Sportveranstaltungen und Städtepartnerschaften haben viele der De-facto-Regime in den vergangenen Jahrzehnten eine äußerst aktive Außenpolitik jenseits der Vereinten Nationen etabliert (Kosienkowski 2012; Frear 2014).8

Probleme stabilisierter De-facto-Regime

Das Hauptproblem stabilisierter De-facto-Regime ist der nicht endgültig geklärte Zustand. So tendieren Regierungen der Mutterstaaten immer wieder dazu, den völkerrechtlichen Schwebezustand durch Gewalt zu lösen. Ein solcher Versuch war der Angriff der georgischen Armee auf Südossetien im Jahr 2008, ein ähnlicher Versuch der Vier-Tage-Krieg Aserbaidschans gegen Bergkarabach im Frühjahr 2016 (Noack 2016). Diese Beispiele zeigen ebenso, dass bei einem Krieg zwischen einem teilweise anerkannten Staat und dem Mutterstaat auch der Patronagestaat in den Krieg hineingezogen werden kann. Doch auch die Regierungen der De-facto-Staaten neigen in einigen Fällen dazu, den militärischen Druck gegenüber ihren Mutterstaaten aufrecht zu erhalten, um ihren Anspruch auf Gebiete deutlich zu machen. Letzteres kann man etwa in Westsahara sehen.

Ein weiteres Problem sind die internationale Rüstungskontrolle und die Verhinderung der Verbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen. Die De-facto-Regime können nicht in internationale Rüstungskon­trollregime eingeschlossen werden. Im Falle Taiwans übernehmen die USA als Garantiemacht die Gewährleistung des atomwaffenfreien Status.9 Für die anderen De-facto-Regime gibt es keine vergleichbaren Regelungen. Immerhin: Selbst als Abchasien noch zu keinem international allgemein anerkannten Staat diplomatische Beziehungen unterhielt, besuchten Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA das Physikalisch-Technische Institut in der abchasischen Hauptstadt Suchum (NTI 2005). Dort hatten Wissenschaftler in den 1950er Jahren Teile der sowjetischen Atombomben gebaut.

Darüber hinaus führt die fehlende Anerkennung auf der Mikroebene dazu, dass die Bevölkerung nur eingeschränkt reisen kann, da ihre Pässe in vielen Ländern nicht anerkannt werden. Deshalb besitzen viele Menschen neben den Pässen der De-facto-Regime zusätzlich andere Pässe, zum Beispiel der Patronage-Staaten.

Ansätze zur Konfliktlösung und Zukunftsaussichten

Von allen eingefrorenen Konflikten um De-facto-Regime scheinen Transnistrien und Nordzypern einer Konfliktlösung am nächsten. Die unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen und der OSZE geführten Verhandlungen standen bereits öfter vor einem Durchbruch und somit der Möglichkeit, die Konflikte »aufzutauen«, scheiterten letztlich aber doch. Bei vielen De-facto-Regimen stellen sich Fragen der Reintegration der Bevölkerung, was die Frage einschließt, wie Vertriebene entschädigt werden sollen. Andererseits geht es darum, wie die rechtlichen und wirtschaftlichen Sonderentwicklungen harmonisiert werden können. Die Volkswirtschaften der De-facto-Regime entwickeln sich teilweise seit Jahrzehnten unabhängig von den Mutterstaaten, was auch in dieser Hinsicht eine Reintegration nicht ohne Weiteres möglich macht.

Das Beispiel Gagausien im Süden der Republik Moldau kann hinsichtlich einer politischen Lösung ein Vorbild sein: Die Region hat heute eine weitgehende kulturelle Autonomie mit wirtschaftlichen Sonderrechten. Die abgespaltene Provinz war damals – und ist es bis heute – vor allem landwirtschaftlich geprägt, weshalb dort die Harmonisierung der wirtschaftlichen Separatentwicklung verhältnismäßig einfach war.

Das Scheitern der Nordzypern-Verhandlungen im Sommer 2017 zeigt jedoch, dass es bei einem eingefrorenen Konflikt nicht nur vonnöten ist, die Interessen der De-facto-Regime sowie der Mutterländer zu harmonisieren, sondern dass alle involvierten Mächte ein Interesse an der Lösung des Konfliktes haben müssen. Die Gespräche zu Nordzypern schlugen unter anderen wegen der militärischen Ansprüche der türkischen Regierung fehl (Aswestopoulos 2017). Aufgrund dieser schwierigen Aushandlungsprozesse ist davon auszugehen, dass trotz des Engagements der Vereinten Nationen viele der De-facto-Staaten noch für längere Zeit weiterexistieren werden. In manchen Fällen gibt es sogar kaum Verhandlungen.

Die Beispiele Bergkarabach, Donezk und Lugansk beweisen zudem, dass es immer wieder zur militärischen Eskalation in den Gebieten der stabilisierten De-facto-Regime kommt. Die Konflikte können auch gewaltsam »auftauen«, also »heiß« werden. Das zeigt, dass hinsichtlich des internationalen Friedens, aber ebenso im Sinne der Rüstungskontrolle und der Verhinderung der Proliferation von ABC-Waffen, die Notwendigkeit besteht, die eingefrorenen Konflikte dauerhaft und nachhaltig zu lösen.

Anmerkungen

1) Abchasien, Bergkarabach, Kosovo, Nordzypern, Somaliland, Südossetien, Taiwan (Republik China), Transnistrien und Westsahara. Oft wird Palästina dazu gezählt. Die Donezker und Lugansker Volksrepubliken sind im Entstehen begriffene De-facto-Staaten (siehe dazu den Text von Agnieszka Legucka auf S. 26).

2) So existierten 1920-1924 die Sowjetischen Volksrepubliken Buchara und Chiwa, 1921-1944 die VR Tannu-Tuwa und ab 1921 die Mongolische VR. Die Mongolei ist seit 1961 UN-Mitglied.

3) Zunächst hatten Truppen Mauretaniens 1976-1979 den Süden Westsaharas besetzt.

4) Parallel dazu zerfiel auch noch der somalische Staat und Somaliland entstand.

5) Mit der Einführung des Euro in Deutschland hat das Kosovo den Euro ebenfalls als Währung übernommen.

6) Zur Weltbank siehe Solty (2014) und Solty (2015).

7) Taiwan hat einen HDI-Wert (Human Development Index) von 0,885 und liegt damit ähnlich wie Spanien (0,884).

8) Mit der »Gemeinschaft für Demokratie und das Recht der Nationen« haben Abchasien, Bergkarabach, Südossetien und Transnistrien sogar eine eigene internationale Organisation etabliert.

9) International Atomic Energy Agency, INFCIRC/158 vom 8. März 1972 als Fortführung des IAEA-Abkommens INFCIRC/133 vom 30. Oktober 1969. 1964 hatte Taiwan ein eigenes Atomwaffenprogramm gestartet, trat aber 1968 dem Nichtverbreitungsvertrag bei.

Literatur

Nuclear Threat Initiative/NTI (2005): IAEA Experts Visit Abkhazia. 26.9.2005; nti.org.

Aswestopoulos, W. (2017): Zypern – Die Verhandlungen um die Einigung der Insel sind gescheitert! heise.de, 8.7.2017.

Castor, S. (1974): The American Occupation of Haiti (1915-34) and the Dominican Republic (1916-24). The Massachusetts Review, Vol. 15, No. 1/2, S. 253-275.

Chinn, J.; Roper, S.D. (1998): Territorial autonomy in Gagauzia. Nationalities Papers, Vol. 26, No. 1, S. 87-101.

Finn, P. (1999): Refugees Want Kosovo Free of Serbs. Washington Post, 6.6.1999.

Gordijenko, I. (2016): Im Schwebezustand – Südossetien. dekoder.org, 8.6.2016.

Jellinek, G. (1905): Allgemeine Staatslehre. Berlin: Verlag von O. Häring, 2. Auflage.

Knudsen, R.A. (2013): Privatization in Kosovo – »Liberal Peace« in Practice. Journal of Intervention and Statebuilding, Vol. 7, No. 3, S. 287-307.

Kosienkowski, M. (2012): Continuity and Change in Transnistria’s Foreign Policy after the 2011 Presidential Elections. Lublin: The Catholic University of Lublin Publishing House.

Noack, D.X. (2016): Vier Tage Krieg. junge Welt, 2.6.2016.

Noack, D.X. (2017): Der Konflikt um Transnistrien 1989 bis 2016 – Politische Ökonomie, Nationalstaatswerdung und Großmachtinteressen an einem geopolitischen Brennpunkt in Su¨dosteuropa. multipolar, Vol 1, Nr. 1, S. 11-26.

Reljic, D. (2015): Kosovo braucht einen Beschäftigungspakt mit der EU. zeit.de, 15.2.2015.

Seiler, C. (2005): Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung. Tübingen: Mohr Siebeck.

Solty, I. (2014): Eine »flache Welt«. junge Welt, 31.12.2014.

Solty, I. (2015): Eine »andere Welt«. junge Welt, 2.1.2015.

David X. Noack ist Militärhistoriker und Politikwissenschaftler.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/4 Eingefrorene Konflikte, Seite 6–9