Debating Postcolonialism
Workshop des AK Theorie der AFK, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 1.-2.2.2019
von Hartwig Hummel, Lotta Mayer und Frank A. Stengel
Was können de- und postkoloniale Perspektiven zur Friedens- und Konfliktforschung (FKF) beitragen? Was bedeutet de- und postkoloniale Kritik für bestehende Ansätze und zentrale Analysebegriffe der FKF?
Mit diesen Fragen beschäftigte sich aus der Perspektive der deutschsprachigen, in der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) organisierten FKF der zweitägige Workshop des AK Theorie der AFK, der am 1. und 2. Februar 2019 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf stattfand und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung gefördert wurde. Der Ausgangspunkt des Workshops »Debating Postcolonialism – Eine kritische Auseinandersetzung mit postkolonialen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung« war die Beobachtung, dass die international in sehr vielen Disziplinen sehr lebhafte Debatte um de- und postkoloniale Perspektiven in der deutschsprachigen FKF – im Unterschied zur englischsprachigen – wenig rezipiert wird. Zwar fanden die genannten Ansätze mittlerweile in Form von Publikationen Eingang in die deutschsprachige FKF (vgl. etwa den von Cordula Dittmer 2018 herausgegebenen ZeFKo-Sonderband »Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung«), doch ihre Rezeption ist nach wie vor sehr begrenzt. Erstens ist die Anzahl von de- und postkolonialen Beiträgen bislang noch sehr überschaubar; zweitens ist zu beobachten, dass eine systematische – ob nun affirmative oder kritische – inhaltliche Auseinandersetzung mit solchen Perspektiven bisher, wenn überhaupt, in nur sehr geringem Maß stattfindet.
Dies ist insofern überraschend, als de- und postkoloniale Perspektiven zum einen mit ihrer Kritik an der Fortschreibung kolonialer Hierarchien zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“ (Stuart Hall) durch westliche »Friedens-« und »Entwicklungs-« Politik – einschließlich ihrer teilweise sehr gewaltreichen Folgen, welche ihre Bezeichnung konterkarieren – einen zentralen Analysegegenstand der FKF ins Visier nehmen. Mehr noch: Teils stellen die genannten Politikbereiche auch ein Betätigungsfeld der FKF dar, insofern diese sich auch als praktische Wissenschaft versteht. Gerade vor diesem Hintergrund wäre zum anderen zu erwarten, dass die FKF (und zwar auch die deutsche) darüber diskutiert, ob die von Vertreter*innen post- und dekolonialer Ansätze konstatierte Verstrickung akademischer Wissensproduktion in die Reproduktion von Eurozentrismus und Kolonialität auch in der FKF vorzufinden bzw. in manche ihrer zentralen Begriffe eingeschrieben ist. Dies wäre umso mehr zu erwarten, als die FKF, wie Christoph Weller argumentiert, eine „reflexive Wissenschaft“ ist, d.h. eine Wissenschaft, die kritisch ihre eigene Wissensproduktion hinterfragt. Jedoch finden diese Auseinandersetzungen, soweit wir das überblicken, bislang allenfalls sehr randständig statt.
Vor diesem Hintergrund war es das Ziel des Workshops, Vertreter*innen de- und postkolonialer Ansätze mit Friedensforscher*innen zusammenzubringen, die sich bislang nicht oder nicht primär mit solchen Ansätzen befasst haben, um die theorieübergreifende Debatte über de- und postkoloniale Perspektiven voranzutreiben – aber nicht über die Köpfe von deren Vertreter*innen hinweg, sondern im Dialog mit ihnen. Gemeinsam sollte der Beitrag de- und postkolonialer Ansätze zur FKF, aber auch deren Grenzen, ausgelotet werden. Nachfolgend fassen wir zentrale Diskussionspunkte, Schlussfolgerungen und offene Fragen zusammen, die unserer Ansicht nach von übergreifendem Interesse für die FKF sind.
Zentrale Diskussionspunkte waren (1) die Frage nach dem Verhältnis von kritischen und postkolonialen Ansätzen in der FKF, (2) die Vor- und Nachteile eines um den Begriff der »epistemischen Gewalt« erweiterten Gewaltbegriffs, womit auch die Frage nach der Möglichkeit gewaltfreier Wissenschaft überhaupt angesprochen war, und (3) die wiederum damit verbundene Frage der Bewertung von westlicher Moderne und Rationalität überhaupt.
Kritische und postkoloniale Ansätze in der FKF
Da die meisten, wenn nicht sogar alle, Workshop-Teilnehmer*innen sich explizit selbst als Vertreter*innen einer kritischen FKF verstanden, waren die miteinander verbundenen Fragen, worin post- und dekoloniale Ansätze mit anderen kritischen Ansätzen übereinstimmen, wo zentrale Unterschiede liegen und was erstere entsprechend einer kritischen FKF noch hinzufügen, von wesentlichem Interesse. Übereinstimmung bestand dahingehend, dass die FKF in zwei Dimensionen kritisch sein müsse: zu den sozial hergestellten Gegebenheiten, die sie in ihrem Feld vorfindet (also zum empirischen Gegenstand), als auch zu sich selbst. In beiden Dimensionen, auch hier waren die Diskutierenden sich einig, leisten post- und dekoloniale Ansätze einen wichtigen Beitrag.
Besonders lebhaft entwickelte sich die Debatte im Hinblick auf die spezifischen forschungsethischen Folgerungen, die sich aus einer post- bzw. dekolonialen Sichtweise ergeben. Konsensuell war die Forderung, vorab das persönliche Erkenntnisinteresse und den eigenen Standpunkt zu reflektieren und nicht bloß den jeweiligen Fall weiterhin aus einer distanzierten Perspektive zu analysieren. Kontrovers diskutiert wurde dagegen der Versuch, sich vermeintlich authentischer, vorkolonialer Begriffe und Bewertungen zu bedienen. Allerdings verwiesen die anwesenden Vertreter*innen postkolonialer Perspektiven darauf, dass auch die Orientierung an universalistischen, global geltenden Werten, wie z.B. den Menschenrechten, angesichts von deren Entstehungszusammenhang in der mit dem Kolonialismus eng verwobenen westlichen Aufklärung keinesfalls unproblematisch sei.
Michaela Zöhrer wies in ihrem Papier einige Punkte zurück, die sehr häufig aus der Perspektive anderer kritischer Ansätze an postkolonialen Studien vorgebracht werden (insbesondere den einer Ausblendung materieller Ungleichheiten durch einen bloßen Fokus auf symbolische Ungleichheit). Auf der anderen Seite warf Hartwig Hummel die grundsätzliche Frage nach dem Standpunkt postkolonialer Kritik auf: Wo verorteten sich denn de- und postkoloniale Ansätze selbst in der Wissenschaft, wenn sie doch gleichzeitig behaupteten, dass die Wissenschaft als Teil der Moderne durch und durch kolonial durchdrungen sei?
Die Diskussion nach dem Standpunkt de- und postkolonialer Ansätze führte zum grundlegenden epistemologischen bzw. metaethischen Problem aller »kritischen« (auch z.B. feministischen oder kapitalismuskritischen) Ansätze, nämlich der Frage, inwieweit Wissenschaftler*innen es vermögen, einen Diskurs kritisch zu reflektieren und ihm widersprechende Positionen zu formulieren, wenn sie doch im Foucault’schen Sinne durch ihn erst objektiviert (zu Subjekten gemacht) werden. Denn bei aller Heterogenität teilen kritische Ansätze ja die Annahme, dass es eben keinen Archimedischen Punkt außerhalb von Gesellschaft gibt, von dem aus letztere objektiv beobachtet werden könnte.
Epistemische Gewalt: Kann Wissenschaft gewaltfrei sein?
Ein weiterer Gegenstand intensiver Diskussion war der Begriff der »epistemischen Gewalt« in Claudia Brunners Beitrag. Brunner versteht darunter den „Beitrag zu gewaltförmigen gesellschaftlichen Verhältnissen, der im Wissen selbst, in seiner Genese, Ausformung, Organisation und Wirkmächtigkeit angelegt ist“ (Brunner 2015: Das Konzept epistemische Gewalt als Element einer transdisziplinären Friedens- und Konflikttheorie. In: Friedensforschung in Österreich, hrsg. von Wintersteiner und Wolf; S. 39). Diese Debatte verweist zunächst auf die (für die FKF nicht ganz neue) Frage der Vor- und Nachteile einer Erweiterung des Gewaltbegriffs. Einerseits geht es dabei um das Bemühen, die Rolle von Wissen bzw. Diskursen, Kultur usw. beim Entstehen und dem Fortbestand von physischer Gewalt ernst zu nehmen; andererseits führt dies zum Problem der Unterscheidbarkeit von angrenzenden Phänomenen, wie sozialer Ungleichheit, und zur Sorge, ob eine Erweiterung des Gewaltbegriffs möglicherweise auch für Delegitimierungsstrategien genutzt werden könnte, wie in der Diskussion insbesondere Klaus Ebeling hervorhob. Allerdings gingen Brunners Beitrag und die an ihn anschließende Diskussion in mehreren zentralen Aspekten über die in der FKF etablierten erweiterten Gewaltbegriffe hinaus. Erstens kritisierte Brunner Johan Galtungs Konzept der kulturellen Gewalt als ein Beispiel für Eurozentrismus. Zweitens wurde heftig diskutiert, inwieweit Galtung vorgeworfen werden könne, selbst Wissen unsichtbar gemacht zu haben, indem er zwar de- und postkoloniale Argumente aufgenommen habe, dies allerdings nur in relativ holzschnittartiger Weise und ohne die Quellen derart zu nennen, dass die Herkunft der Argumente nachvollzogen werden könne. Drittens stellte Brunner die grundsätzlichere Frage, inwieweit epistemische Gewalt überhaupt jemals vollkommen vermieden werden könne und, damit verbunden, ob gewaltfreie Wissenschaft überhaupt möglich sei. In seinem Kommentar bezweifelte Christoph Weller jedoch, dass die Dekonstruktion wissenschaftlicher Autorität durch die Offenlegung impliziter Annahmen und inhärenter Widersprüche – ein zentraler Anspruch vieler »kritischer« Analysen – aus methodologischer Sicht überhaupt möglich sei und wenn doch, ob diese automatisch zu einer Reduktion epistemischer Gewalt führe.
Die hier aufgeworfene Frage der (Mit-) Verantwortung von Wissenschaft zog sich als eine zentrale Diskussionslinie durch die gesamte Tagung. Alke Jenss und Ruth Streicher erinnerten an die Verquickung der Entstehungsprozesse von moderner Wissenschaft, Kolonialismus und Kapitalismus. Ebenso wurde darauf verwiesen, dass Wissenschaft dazu genutzt wurde und wird, andere Wissensformen und -bestände insbesondere in den Ländern des Globalen Südens zu delegitimieren. Während in diesem Punkt weitgehend Einigkeit unter den Tagungsteilnehmer*innen bestand, blieb jedoch die Frage nach den Konsequenzen einer inhärenten Gewaltsamkeit von Wissenschaft für den von ihr erhobenen Wahrheitsanspruch und für ihr emanzipatorisches Potential offen. Soll Wissenschaft ihren Wahrheitsanspruch – der, hier bestand Einigkeit, nur kontingenterweise auch eingelöst werden kann – aufgeben? Oder ist der Wahrheitsanspruch im Gegenteil konstitutiv auch für die Möglichkeit von Emanzipation im Sinne der Überwindung bestehender Abhängigkeiten und Machtungleichgewichte und als solcher gerade auch in emanzipatorischer Absicht aufrechtzuerhalten, trotz aller Uneinlösbarkeit und aller Ambivalenz infolge der Instrumentalisierbarkeit von Wissenschaft und ihrer Ergebnisse? Hier wurden sehr unterschiedliche wissenschaftstheoretische Positionen erkennbar, die eine vertiefende Diskussion lohnen würden.
Zur Bewertung der Moderne
In einem engen Zusammenhang mit dieser wissenschaftstheoretischen Frage stand die noch grundlegendere Auseinandersetzung über die Definition und Bewertung moderner Rationalität. Hier wurden sehr grundlegende Differenzen zwischen einigen der Tagungsteilnehmer*innen sichtbar – wobei, dies soll hier ausdrücklich betont werden, die Trennlinie keinesfalls einfach zwischen Vertreter*innen postkolonialer Ansätze und »dem Rest« verlief. Die zentrale und in sehr unterschiedlicher Weise beantwortete Frage lautete letztlich – in Anlehnung an Jürgen Habermas reformuliert –, ob die westliche Rationalität mit der instrumentellen Rationalität, die konstitutiv für Kapitalismus und Kolonialismus war, zusammenfalle oder ob dies nicht der Fall sei, weil auch noch andere Formen der Rationalität bestünden. Klaus Ebeling argumentierte, dass die westliche Moderne nicht nur von einem Zugewinn an Verfügungswissen getragen sei, sondern auch von einem Zugewinn an Reflexionswissen. Der Zugewinn an Reflexionswissen, von dem die moderne Wissenschaft ein Teil sei, bedeute auch ein Potential für Emanzipation.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Auseinandersetzung mit de- und postkolonialen Perspektiven von den Teilnehmenden als notwendig und gleichzeitig nutzbringend für die eigene Arbeit gesehen wurde – insbesondere hinsichtlich der Sensibilisierung für Selbstreflektion, die zwar in der FKF durchaus thematisiert wird, aber nicht notwendig in Forschung und Lehre ausreichend Beachtung findet. Gleichzeitig muss ebenso festgehalten werden, dass der Workshop mehr Fragen, auch sehr grundlegender wissenschafts- und gesellschaftstheoretischer Art, aufgeworfen als beantwortet hat. Er kann nur Anfangspunkt eines ungleich breiteren Verständigungsprozesses innerhalb der FKF sein, den es noch anzustoßen gilt. Denn auch wenn durchaus kontrovers über einzelne Aspekte diskutiert wurde, bestand grundsätzliche Einigkeit darin, dass die FKF gut daran täte, de- und postkoloniale Argumente ernst zu nehmen. Insbesondere die Kritik des Eurozentrismus und der nachdrückliche Hinweis auf eine mögliche unbeabsichtigte Fortschreibung von Kolonialität auch in Forschung und Lehre sind für eine FKF wichtig, die sich dem Ideal der Gewaltfreiheit verschrieben hat, denn eine unzureichende Reflexion birgt letztlich das Risiko, dass die FKF durch die unbeabsichtigte Legitimierung gewaltsamer Verhältnisse ihre eigenen Bemühungen untergräbt.
Hartwig Hummel, Lotta Mayer und Frank A. Stengel