Dekolonisierung der Friedensbildung
Georg Arnhold International Summer Conference, Leibniz-Institut für Bildungsmedien Georg-Eckert-Institut (GEI), Braunschweig, 28.08.-02.09.2022
Für die diesjährige Konferenz des Georg-Arnhold-Programms für Forschung zu Bildung für nachhaltigen Frieden kamen 25 junge Forschende, etablierte Wissenschaftler*innen und Personen aus der praktischen Friedensarbeit aus 12 verschiedenen Ländern zusammen, um sich mit den Besonderheiten und Bedingungen für eine kritische Neubewertung des Feldes der Friedensbildung im Kontext des Dekolonisierungsdiskurses auseinanderzusetzen.
Im Sinne der Dekolonisierung des Konferenzprozesses selbst strebte die Konferenz ein partizipatives Design an. Verschiedene Referent*innen leiteten z.B. in sogenannten Co-Note-Diskussionen (statt Keynotes) in aufeinander abgestimmten Vorträgen gemeinsam die Diskussionen der Teilnehmenden ein und fassten die Themen eines Tages in integrativen Sitzungen zusammen, die nicht selten in kreativen Methoden ihren Ausdruck fanden. Gemäß dem Anspruch des Georg-Arnhold-Programms, die Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis im Bereich der Friedensbildung zu stärken, wurde das Programm durch zwei Online-Workshops des »International Rescue Committee« (IRC) ergänzt. In diesen hatten die Teilnehmenden Gelegenheit, Einblicke in aktuelle Projekte des IRC zu erhalten, »Design-Thinking«-Methoden für die Entwicklung von Interventionen im Bereich der Friedensbildung kennenzulernen und ihre wissenschaftliche Expertise in Beispielinterventionen einzubringen.
Die Co-Note-Diskussionen befassten sich vor allem mit Herausforderungen bei der Übersetzung des Dekolonisierungsdiskurses in dekoloniale Praxis, besonders akademischer Strukturen der universitären Lehre sowie in akademischen Profilierungs- und Publikationspraktiken. Die Beiträge von Hakim M. A. Williams (Gettysburg College) und Rina Malagayo Alluri (Universität Innsbruck) betonten die Notwendigkeit der Dekolonisierung auf persönlicher Ebene, durch Selbstreflexion und Selbsterkenntnis, als eine Voraussetzung für die Ko-Konstruktion von Frieden auf Basis lokaler Expertise. Die Bedeutung der Dezentrierung der Wissensproduktion und Diversifizierung des Universitätspersonals sowie des Lehrkörpers unter Einbeziehung lokaler und indigener Wissensformen, Methoden und Perspektiven wurde in den Beiträgen von Mere Skerrett, Jenny Ritchie (Victoria University of Wellington) und Noorie Brantmeier (Seven Sisters Community Development Group) am Beispiel der Maori Aotearoas und der nordamerikanischen indigenen Gemeinschaften verdeutlicht. Spätestens seit René Decartes und dann der Aufklärung ist unsere internationale Wissenschaftskultur auf vom Globalen Norden geprägten Denkstrukturen gebaut, die vor allem eine Trennung von z.B. Geist und Natur, Mensch und Umwelt, Subjekt und Objekt vorsehen. Die Beiträge von Skerrett, Ritchie und Brantmeier zeigten auf, wie indigene Wissensformen, Methoden und Perspektiven aus dem Globalen Süden den Weg aus den herkömmlichen Denkmustern der westlichen Wissenschaftskultur bereiten können. Dabei soll der Ausgangspunkt immer die Anerkennung individueller und kollektiver Traumata und Ungerechtigkeiten sein – eine der wichtigsten Erkenntnisse der Konferenz. Ist diese Basis geschaffen, können, darauf aufbauend, durch die Diversifizierung des Forschungs- und Lehrpersonals und Maßnahmen in Richtung staatlicher Wiedergutmachungsinitiativen und Geschichtsrevisionen der menschliche Wissensstand – nach wie vor zentrales Ziel jeglicher Forschung – um mannigfaltiges Wissen und diverse Perspektiven erweitert werden.
Auf die Herausforderungen und Chancen verschiedener pädagogischer Ansätze gingen Kevin Kester (Seoul National University) und Michalinos Zembylas (Open University of Cyprus) ein. Zembylas kritisierte in seiner Kartierung des Dialogs postkolonialer, dekolonialer und kritischer Theorien der Friedenserziehung, wie der eurozentrische modernistische Referenzrahmen, der der kritischen Friedenserziehung zugrunde liegt, ihr emanzipatorisches Versprechen in Richtung Dekolonisierung begrenzt. Kester betonte darauffolgend anhand zweier Fallbeispiele zu pädagogischen Herangehensweisen im Hochschulbereich in Afghanistan und Somaliland die Handlungsmacht des Lehrpersonals als Friedensarbeiter*innen in von Konflikt betroffenen Kontexten. Er stellte somit vor, wie auf lokale Gegebenheiten abgestimmte Pädagogiken zu Friedenskonsolidierungsprozessen beitragen können.
Überlegungen zum konkreten Handeln, also zur Frage, wie Lehre, Wissenschaft und akademische Praktiken aussehen können, die nicht koloniale Elemente reproduzieren, stellten schließlich María José Bermeo (Universidad de los Andes) und Edward J. Brantmeier (James Madison University) an. Neben dem Ruf nach kreativen und kunstbasierten reflexiven Ansätzen im Unterricht (Bermeo), referierte Brantmeier über strukturelle Hürden im akademischen Publikationswesen, die den Bemühungen um Dekolonialisierung desselben entgegenstehen, wie die Rolle etablierter Akademiker in Schlüsselpositionen mit Definitionsmacht z.B. in Peer-Review-Verfahren, Zeitschriftenbeiräten und Promotionsprüfungsausschüssen, oder finanzielle Hürden für Open-Access-Publikationen, wie Article Processing Charges (APCs) und der Beherrschung des akademischen Publikationsmarktes durch eine kleine Anzahl großer Unternehmen. Wendy Anne Kopisch (Leibniz Institute for Educational Media) knüpfte hier mit ihrem Beitrag an, in dem sie über die erkenntnistheoretischen Annahmen im Zusammenhang mit dem Prestige wissenschaftlicher Veröffentlichungen reflektierte und in diesem eine Form der epistemischen Gewalt herausarbeitete, mit der der Globale Norden Standards der Wissensproduktion fortschreibt, die koloniale Strukturen aufrechterhalten.
Weitere Beiträge nahmen in fünf thematischen Panels die Impulse der Co-Note-Diskussionen auf und befassten sich dabei mit Theorien dekolonisierender Erkenntnisgewinnung (Rey Ty, Payap University; Daniela Lehner, Universität Klagenfurt), alternativen philosophischen Ansätzen (Tongnan Xie, Seoul National University), kritischen Methodologien und Methoden dekolonialer formaler und nicht-formaler Bildung (Joakim Arnøy, University of Tromsø/The Narvik War & Peace Centre; Runeela Taskeen, Colorado State University) sowie den Perspektiven verschiedener Akteure (Bouchra Saab, Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg; Nina Westerholt, Niederrhein University of Applied Sciences).
Aus unterschiedlichen Blickwinkeln kamen die Beiträge dabei wiederholt auf den Gegensatz zwischen theoretischer und normativer Sichtweise in der wissenschaftlichen Praxis zurück (Primitivo III Cabanes Ragandang, Mindanao State University-Iligan), bei dem z.B. partizipative und kollaborative Forschungsvorhaben und -methoden den strukturellen Zwängen der akademischen Karriereverfolgung oder Publikationsstandards entgegenstehen (Mneesha Gellman, Emerson College). Gleichzeitig machte u.a. Obasesam Okoi (University of St Thomas, Minnesota) am Beispiel Nigerias den Bedarf deutlich, für wirksame und nachhaltige Bildungsprogramme zur Friedenskonsolidierung lokale Gemeinschaften mit einzubeziehen. Weitere Beiträge führten daher Fallbeispiele vor, wie das trotz struktureller Hürden gelingen kann (Phill Gittins, World BEYOND War; Staci B. Martin, Portland State University; Ashmeet Kaur, TERI School of Advanced Studies). Aus Sicht des Globalen Südens beleuchtete Xochilt E. Hernandez (Peace First/University for Peace, Costa Rica) die strukturelle Geschlossenheit des Wissenschaftssystems des Globalen Nordens, indem sie vorführte, wie Forschende von der westlichen Wissensgenese ausgeschlossen bleiben.
Alle Beiträge der Konferenz betonten die Notwendigkeit der Abkehr von den seit der Aufklärung im Globalen Norden fest etablierten cartesianischen Denkstrukturen mit der damit einhergehenden binären, machtrelevanten Weltaufteilung. Die Beiträge gaben einige wertvolle Impulse, wie solch andere Friedenspädagogiken in Zukunft aussehen könnten.
Katharina Baier. Bericht erstellt unter Mitarbeit von Joakim Arnøy, Runeela Taskeen, Ashmeet Kaur, Staci B. Martin, Nina Westerholt, Primitivo III Cabanes Ragandang, Daniela Lehner und Xochilt E. Hernandez, Wendy Anne Kopisch.