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W&F 1984/4

Den Frieden lehren. Einige Anmerkungen zu „Friedensvorlesungen“

von Ranganathan Yogeshwar

Seit einiger Zeit finden an vielen Hochschulen der BRD Ringvorlesungen zur Friedensthematik statt. Die Zahl dieser wöchentlich stattfindenden, zum Teil öffentlichen Veranstaltungen, steigt. Dieser Beitrag analysiert einige Aspekte dieser Ringvorlesungen.

Als im vergangenen Wintersemester (1983/ 84) die Aachener Ringvorlesung „Verantwortung für den Frieden“ einen alle Erwartungen übertreffenden Erfolg feierte, fragte ich mich, ob es sich hierbei nur um ein „lokales“ Ereignis handeln würde, oder ob sich vielleicht Ähnliches auch an anderen Hochschulen der BRD abspielen würde. Die Beantwortung dieser Frage war jedoch nicht einfach: Wohl gab es vereinzelt Hinweise auf andere Veranstaltungen, jedoch wurde mir schnell bewußt, daß kein richtiger Überblick existierte. In einer Vielzahl von Telefongesprächen und Briefen löste sich der Nebel auf und ein erstaunliches Resultat wurde sichtbar: Es stellte sich heraus, daß bundesweit über 20 Ringvorlesungen stattfanden (Im Vergleich: Insgesamt gibt es in der BRD 39 Universitäten und 7 Technische Hochschulen.) Diese Reihen waren eine neben der anderen entstanden, glichen sich in Form und Art, und all, dieses, ohne daß es einen gemeinsamen Aufruf oder gar eine zentrale Koordination gegeben hätte. Die Erfreulichkeit dieser Tatsache bewog mich dazu, innerhalb des „Göttinger Kongresses“ den „Workshop: Ringvorlesungen“ zu organisieren und durchzufahren. Es erschien wichtig, auch die anderen darüber zu informieren, daß es sich bei den „Friedensvorlesungen“ nicht um Einzelveranstaltungen handelte, sondern daß sich ein möglicher Beginn einer breiten Bewegung an den Hochschulen abzeichnete, vielleicht eine neue Form des „Studium Generale“?

Was jedoch stellen diese Ringvorlesungen dar, wie waren sie aufgebaut, was war ihre Zielsetzung? Die Veranstaltungen waren „interdisziplinär“: Aus den verschiedensten Fachbereichen, von der Physik bis zu den Theaterwissenschaften wurden wöchentlich Vorträge zur Friedensthematik gehalten. Meist kamen die Referenten aus dem Hochschulbereich. Die Zielsetzung war, innerhalb von mehr oder weniger allgemeinverständlichen Vorträgen die Verantwortung des Wissenschaftlers sowie Aspekte der Friedensproblematik aus der Sicht des eigenen Fachbereichs zu verdeutlichen. Wieso aber ist dieses so wichtig?

Folgen der Wissenschaft bedenken

An den meisten Hochschulen der BRD und auch anderer Staaten werden Studenten kaum mit den Konsequenzen ihres Faches vertraut: im Gegenteil oft zieht man eine „wertfreie“ Anschauung vor, die kritische Auseinandersetzung wird allzuoft als negativ oder gar „zersetzend“ bewertet. Diese Haltung ist um so schlimmer, da der spätere Beruf oftmals in enger Beziehung mit der Rüstungsindustrie bzw. -forschung steht. So schreibt z. B. der amerikanische Physiker E. L. Woollett:

„…Die Hälfte aller Physiker und Ingenieure machen Forschung und Entwicklung; davon die Hälfte ist mit Forschung und Entwicklung für Rüstungszwecke beschäftigt.“ (E. L. Woollett. „Physics and modern warfare: the akward silence“ in Amer. J. Phys. 48 (2) 1980)

Nach Schätzungen arbeiteten Anfang der 80er Jahre zwischen 15 und 30 % der rund 2,5 Millionen Wissenschaftler der Erde (ohne Sozial- und Kulturwissenschaftler) für die Rüstungsforschung und -entwicklung. Den meisten Studenten aber ist diese Tatsache unbekannt, und die Ignoranz über den Stellenwert des gewählten Faches in bezug auf militärische Zwecke möchte ich als skandalös bezeichnen. Ein Ziel muß es also sein, dieses Loch an Unwissenheit zu füllen. Die Interdisziplinarität spielt hierbei eine Schlüsselrolle: Die immer enger werdende Spezialisierung verschlechtert den Kontakt zu anderen Disziplinen. Man forscht und entwickelt – und übersieht oftmals die Konsequenzen der Entwicklung, die häufig weit über den eigenen Fachbereich hinausragen. Umgekehrt ignoriert der Einzelne oftmals den „großen Rahmen“, der seine Tätigkeit umgibt, und so birgt gerade eine solche „ausschließende“ Spezialisierung eine große Gefahr des Mißbrauchs. Ein bekanntes Beispiel soll dies verdeutlichen:

„Insgesamt wurden für den Bau der Bomben 2 Milliarden Dollar investiert und 150 000 Menschen, darunter 14 000 Physiker, Chemiker und Ingenieure beschäftigt. Davon durften allerdings nur wenige (max. 100) Personen von dem übergeordneten Ziel der vielen Teilaufgaben informiert gewesen sein.“

(Vgl. R. Jungk: „Heller als Tausend Sonnen“, Reinbek 1964)

Aber aufgepaßt! Viele kritische Geister zitieren im Kontext des militärischen Mißbrauchs von wissenschaftlicher Erkenntnis historische Beispiele, ohne jedoch die Aktualität dieser Tatsache zu unterstreichen, so daß bei manchen der falsche Eindruck entsteht, es handele sich um einen längst begangenen Fehltritt der Wissenschaft, der mittlerweile behoben sei. Gerade die Aktualität der gesamten Thematik ist eine wichtige Eigenschaft dieser Reihen, denen man manchmal nachsagt, sie seien „politische Manifestationen“. Wohl sind es politische Themen, die behandelt werden; die Vorträge vermitteln allerdings ein Fundament an Informationen und Wissen, daß bei Manifestationen oftmals fehlt. Bleiben wir jedoch noch einen Moment bei der Vielfalt der beteiligten Fachbereiche: Wie breit war eigentlich das Spektrum der beteiligten Disziplinen? Ich verglich die Verteilung der Ringvorlesungsbeiträge mit der Verteilung der Studenten nach Fachbereichen (Abb. S. 13). Beispiel: Momentan studieren etwa 16 % aller Studenten ein naturwissenschaftliches Fach; demgegenüber befaßten sich etwa 30 % aller fast 200 gehaltener Vorträge innerhalb der Ringvorlesungen mit naturwissenschaftlichen Aspekten der Friedensthematik. Darunter fallen Vorträge über Kernwaffen oder über chemische Waffen etc. Man erkennt, daß Natur-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften überproportional an den Veranstaltungen beteiligt waren, die anderen Disziplinen in etwa entsprechend der „Erwartung“. Es gibt jedoch eine deutliche Ausnahme: Stellen die Ingenieurwissenschaften im Hochschulspektrum immerhin 18 % aller Studenten, so fehlten sie fast vollkommen bei den Ringvorlesungen! Dieses Fehlen eines so wichtigen Zweiges, der stark innerhalb der militärischen Forschung und Entwicklung verwickelt und beteiligt ist, erscheint mir erstaunlich. Wieso fehlen die Ingenieure? Eine mögliche Erklärung ist ihre Verbindung mit der Industrie: Sind andere Fachbereiche oftmals abgekoppelt von der Welt außerhalb der Hochschule, so sind es fast ausschließlich die Ingenieurwissenschaften, die durch Forschungsaufträge und Praktika einen tiefen Kontakt zur Industrie pflegen. In dieser Umgebung wird wohl kaum eine kritische Haltung zur eigenen Tätigkeit bzw. zur beteiligten Firma gefördert!

Kontakt zur Öffentlichkeit wichtig

Ein wichtiger Punkt ist der Kontakt zur Öffentlichkeit. Hatte doch auf manchen Plakaten der Reihen ein Satz wie „für jeden zugänglich“ gestanden, hatte die Lokalpresse manchen Bürger dazu aufgerufen, sich an der Reihe zu beteiligen, so kamen dennoch wenige. Wohl gab es einige, doch sie standen in keinem Verhältnis zu den oft über 1000 Zuhörern aus dem Hochschulbereich. Dieses Zeichen scheint mir ein Symptom einer tiefen und ernsten Krankheit zu sein, die nicht nur den Hochschulbereich sondern gar einen Großteil der Wissenschaft befallen hat. Über Jahre hat eine Abkopplung von der Gesellschaft stattgefunden. Der Wissenschaftler ignoriert allzuoft die gesellschaftlichen Bedürfnisse. Sind die Mittel zur Forschung bewilligt, so zieht er sich in seinen Elfenbeinturm zurück und tritt kaum mit der Außenwelt in Verbindung. Etwas überspitzt schreibt z. B. H. G. B. Casimir:

„Die Förderung der Elementarteilchenphysik ist „eine niedliche Farce“. Die Gesellschaft gibt vor, die Teilchenphysik zu unterstützen, weil sie an deren Erkenntnissen interessiert ist, obwohl sie jedoch in Wirklichkeit nur praktische Resultate will. Und die Teilchenphysiker halten diese Hoffnung auf praktische Anwendung aufrecht, obwohl sie eigentlich nur an den fundamentalen Zusammenhängen interessiert sind.“ (H. G. B. Casimir: „Avoid military research, Casimir tells physicists“, Phys. today Dez. 1975)

Diese Haltung wird womöglich durch die Tatsache unterstützt, daß die immer fortschreitende Technik sich von den meisten Bürgern entfremdet hat und diese nur noch zu unwissenden Verbrauchern degradiert, verstärkt durch eine hohe Trennmauer von Fachtermini und Formeln zwischen Wissenden und Unwissenden. Die technische Entfremdung der nächsten Umgebung hat viele in eine passive Haltung gezwungen, in der sie, die Funktionsprinzipien ignorierend, in einer unaufhaltsam steigenden Innovationsflut untergehen. Hierdurch flaut eine kompetente Kritik des Bürgers an den Werken der Wissenschaftler ab und übergibt letzterer einen nie dagewesenen Freiraum. Die Aufspaltung zwischen Wissenschaft und Bürger birgt eine tiefe und zu wenig beachtete Gefahr in sich. Gerade die engagierten Referenden der Vortragsreihen sollten diesen Punkt mehr als bisher beachten: Alleine der vernünftige Gebrauch der Sprache mit dem Ziel einer Allgemeinverständlichkeit wäre ein großer Schritt hin zu mehr Kontakt mit der Öffentlichkeit. Das Aufgeben gewisser „Privilegien“ ist vielleicht der Preis, den Wissenschaftler bezahlen müssen, falls sie ihre Verantwortung dem Bürger glaubhaft machen möchten. Eine solche Haltung sehe ich in einem gewissen Gegensatz zu Formeln wie „Die Mainzer 23“, die wohl in Verbindung mit dem illustren Kreis der „Göttinger 18“ gebracht werden sollen…! Was gibt es für Alternativen zu den Ringvorlesungen? Auf den ersten Blick fallen fachinterne Seminare auf, Kolloquien und Arbeitsgruppen. Die bessere Frage ist jedoch: Müssen es Alternativen sein? Es gibt zusätzliches, was man tun kann, jedoch die Form dieser Vortragsreihen, die oftmals die einzigen interdisziplinären Veranstaltungen im Angebot der Hochschulen darstellen, sollte aus manchem der genannten Gründe fortgesetzt werden, also kein „Entweder oder“ sondern ein „Sowohl als auch!“ Am wichtigsten erscheint mir die Einbeziehung der Verantwortungs- und Friedensthematik in den regulären Unterricht. Langfristig sollte die Behandlung dieser Aspekte ein fester Bestandteil des Lehrstoffs werden und nicht durch Veranstaltungen außerhalb des regulären Lehrbetriebs nur wenigen Interessierten vermittelt werden. Nur so kann die starke Kopplung zwischen dem Erlernten und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Konsequenzen bewußt gemacht werden.

Kontinuität sichern

Ein letzter Punkt sollte erwähnt werden: die Kontinuität. Viele Ringvorlesungen begannen im Rahmen der Aufrüstungsdebatte im vergangenen Herbst. Das allgemeine Interesse an dieser Debatte flaut leider etwas ab, doch dieses Verhalten hat sich auch bei vergangenen Auseinandersetzungen gezeigt. Auch bei Wissenschaftlern lösen solche Debatten eine Aktivität aus, die unmittelbar politische Ziele hat. Nach einem Erfolg (z. B. das Atomteststop-Abkommen) oder einem Mißerfolg (z. B. die jetzt stattgefundene Stationierung) läßt das Engagement nach, und die meisten der Betroffenen wenden sich wieder ihrer „alltäglichen“ Beschäftigung zu. Im Gegensatz zu diesen politischen „Höhepunkten“ beinhaltet die Idee der Lehre eine Kontinuität. Die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers ist keine eng zeitlich begrenzte, sondern trägt Langzeitcharakter. Aktuelle Themen sollen helfen, diese Frage immer wieder neu zu stellen; das Ziel ist jedoch eine langfristige Veränderung des Bewußtseins. Von daher sollten sich Veranstalter solcher Reihen nicht enttäuschen lassen, falls die Zuhörerzahlen etwas schrumpfen. Wichtig ist, die Verantwortungs- und Friedensthematik langfristig in die Hochschulen zu integrieren, und dieses Ziel ist erreichbar, wenn wir es nur wollen.

Anmerkung: Im Rahmen des „Workshops: Ringvorlesungen“ hat sich das „Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung“ (Kontaktadresse: Dr. H. G. Franke, Institut für Kernphysik, Domagkstr. 71, 44 Münster) bereit erklärt, Interessenten für die Organisation von Ringvorlesungen zu unterstützen. (Referentenlisten, Literaturverzeichnisse…)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1984/4 1984-4, Seite