Den Frieden verhandeln im Krieg
Der Fall Kolumbien
von José Armando Cárdenas Sarrias
Seit der Unabhängigkeit 1810 ist der Krieg eine Konstante in der Geschichte Kolumbiens – ebenso wie die Versuche, diesen zu entschärfen. Diverse Waffenruhen, 63 Begnadigungen, 26 Amnestien und die mehrmalige »Entwaffnung« einzelner Gruppen der Guerrilla, Milizen und Paramilitärs seit den 1950er Jahren zeugen von partiellen Versuchen, dem Krieg zu begegnen. Der kolumbianische Wissenschaftler Mario Ramírez Orozco definiert diese Versuche als „trügerischen Frieden“, weil sie sich jeweils nur an eine kleine Anzahl von Personen richteten und die strukturellen Probleme des Landes nicht angingen: „[I]n Kolumbien hat es immer […] Friedensprozesse gegeben, aber diese berührten nie die fundamentalen, die strukturellen Ursachen des Konflikts [….], der nicht nur ein bewaffneter, sondern auch ein politischer und sozialer ist.“ 1
Seit Oktober 2012 gibt es einen neuen Versuch, den bewaffneten Auseinandersetzungen in Kolumbien ein Ende zu setzen: In Havanna, Kuba, verhandelt die Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos mit den »Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo« (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee, kurz FARC-EP). Eine Reihe von Faktoren gibt Anlass zur Hoffnung, dass diese Verhandlungen eine Zäsur in der kriegerischen Geschichte Kolumbiens herbeiführen könnten. Auf der anderen Seite steckt der Prozess momentan in einer schweren Krise, und Kernelemente einer Einigung stehen weiterhin zur Diskussion.
Vor diesem Hintergrund und von der Notwendigkeit einer politischen Lösung für den bewaffneten Konflikt in Kolumbien überzeugt, wendet sich dieser Artikel drei Themen zu:
1. den Fallstricken der bisherigen, gescheiterten Verhandlungsversuche zwischen den FARC-EP und den Regierungen Belisario Betancur (1982-1986) und Andrés Pastrana (1998-2002),
2. den »lessons learned« aus dem aktuellen Dialogprozess in Havanna, der von der Fortführung des Krieges inmitten der Verhandlungen gekennzeichnet ist und
3. der Mobilisierung verschiedener sozialer, politischer und akademischer Gruppen, welche die Friedensverhandlungen unterstützen.
Gescheiterte Versuche und die Verschärfung des Konflikts
Unter der Regierung Belisario Betancur kam es nicht nur zum ersten Verhandlungsversuch mit den FARC-EP. Es wurden überdies zum ersten Mal die strukturellen Ursachen der Gewalt2 in das Blickfeld der Verhandlungen gerückt. Die Gespräche zeichneten sich durch die Anerkennung eines politischen Status und politische Garantien für die Guerilla sowie einen bilateralen Waffenstillstand aus. Allen Fortschritten zum Trotz machten zwei große Fehler diesen ersten Verhandlungsversuch mit den FARC-EP zunichte: Zum einen ging die Regierung nicht auf die Forderung der FARC-EP ein, das Militär mit an den Verhandlungstisch zu holen, um »von Soldat zu Soldat« zu verhandeln. Zum anderen wurden die in den »Acuerdos de la Uribe« (Uribe-Abkommen) zugesagten politischen Garantien nicht eingehalten und die geplanten demokratischen Reformen nicht umgesetzt.3 Stattdessen wurden zahlreiche Menschenrechtsverbrechen an den Mitgliedern der (u.a. von hohen FARC-EP-Repräsentanten) neu gegründeten Partei Unión Patriótica (UP) verübt, was eine sichere und Teilhabe der FARC-EP an der Politik verhinderte.
Zwölf Jahre später kam es unter der Regierung von Andrés Pastrana zum zweiten großen Versuch einer Einigung. Zwischen 1998 und 2002 verhandelten Regierung und Guerilla in der so genannten »Zona de distensión« (eine nicht vom staatlichen Militär, sondern von der Guerrilla kontrollierte Verhandlungszone),4 die »Agenda común por el cambio hacia una nueva Colombia« (Gemeinsame Agenda für den Wechsel zu einem neuen Kolumbien), die Themen wie Arbeit, Menschenrechte, Justizreform, Agrarpolitik und internationale Beziehungen beinhaltete. Diese Verhandlungen wurden ausführlich von der Presse begleitet, die über den Prozess detailliert informierte. Das Militär saß zwar wieder nicht mit am Verhandlungstisch, es nahmen aber mehr als 25.000 Delegierte der verschiedensten sozialen Gruppen an den »audiencias públicas« (öffentlichen Anhörungen) teil. In den fast vier Jahren, über die sich der Dialog in der Verhandlungszone hinzog, ging der Krieg im Rest des Landes weiter. Das Verhandeln inmitten von Krieg hatte eine Reihe schwerwiegender Folgen, wie die Schaffung strategischer Korridore jenseits der Verhandlungszone durch die FARC-EP, die Stärkung der militärischen Kapazität der Regierung und anhaltende Menschenrechtsverletzungen durch beide Konfliktparteien. In diesem Klima entwickelte die Regierung Pastrana mit technischer und finanzieller Unterstützung durch die USA den »Plan Colombia«: eine Militärstrategie, die im Rahmen der »Política de Defensa y Seguridad Democrática« (Politik der Demokratischen Verteidigung und Sicherheit) unter Präsident Uribe (2002-2010) schließlich auch umgesetzt wurde. Trotz massiver, teilweise von den USA finanzierter Investitionen in das Militär gelang es der Regierung jedoch nicht, die Guerilla zu besiegen. So veschoben sich die Prioritäten in der Folgeregierung unter Juan Manuel Santos erneut zugunsten des politischen Dialogs.5
Ein neuer Versuch: Mobilisierung für den Frieden
In den seit Oktober 2012 laufenden Verhandlungen zwischen der Regierung und den FARC-EP nach dem Prinzip »nichts gilt als vereinbart, solange es keine Einigung in allen Punkten gibt«, wurden bisher Einigkeit in drei von fünf Agendapunkten erzielt (Agrarreform, Drogenproblematik, politische Partizipation, Opfer und Ende des Konflikts). Zwar dauern die Verhandlungen schon weit länger an, als ursprünglich vom Präsidenten versprochen, im internationalen Vergleich sind das Tempo und die Anzahl und Regelmäßigkeit der bisher 37 Verhandlungsrunden6 jedoch durchaus bemerkenswert. Nichtsdestotrotz ist auch dieser Prozess nicht einfach, wie wiederholte Krisen belegen.
Zuletzt brachte am 22. Mai 2015 ein Kommuniqué des zentralen Generalstabs der FARC-EP die Verhandlungen ins Wanken. Der Generalstab teilte darin mit, dass FARC-EP den am 20. Dezember 2014 proklamierten, unilateralen und unbefristeten Waffenstillstand wieder aufkündigt. In ihrer Mitteilung beschuldigten die FARC-EP die Regierung, sie sei nach „fünf Monaten der Land- und Luftoffensiven gegen unsere Strukturen im ganzen Land“ für den Abbruch des Waffenstillstands verantwortlich.7 Der Aufkündigung des Waffenstillstands war eine militärische Eskalation vorausgegangen. Zunächst hatten die FARC-EP in klarer Missachtung des unilateralen Waffenstillstands bei einem Angriff in Buenos Aires (Departement Cauca) elf Soldaten getötet. In den darauffolgenden Bombardements der Regierung in Guapi (Departement Cauca) und in Riosucio (Departement Chocó) fielen drei wichtige Guerrilleros der FARC-EP: Emiro Chaqueto, Jairo Martínez und Román Ruiz. Die ersten beiden waren Mitglieder der Verhandlungsdelegation in Havanna und damit beauftragt, in Kolumbien unter den Mitgliedern der FARC-EP Friedenspädagogik voranzutreiben und über den Fortschritt der Gespräche zu informieren.
Trotz dieser schweren Krise und der erneuten Gewalteskalation erklärten sowohl die FARC-EP als auch die Regierung, weiter verhandeln zu wollen, wenn auch unter gleichzeitiger Fortsetzung der militärischen Auseinandersetzung mit allen Mitteln.
Lehren aus der Vergangenheit
Bei den Verhandlungen in Havanna wurden enorme Fortschritte erreicht, auch deshalb, weil aus den Fehlern der Vergangenheit Lehren gezogen wurden. Dazu zählen nicht nur eine Reihe von Maßnahmen zur Deeskalation des bewaffneten Konflikts, wie der unilaterale Waffenstillstand von Seiten der FARC-EP, die temporäre Aussetzung von Bombardements auf »subversive Strukturen« durch die Regierung und der Start der »humanitären Entminung«, bei der das Militär und die FARC-EP kooperieren. Auch die Teilnahme der Militär- und Polizeivertreter (im Ruhestand) Jorge Enrique Mora und Óscar Naranjo an den Verhandlungen, die relativ schnelle Einigung auf die Agendapunkte in geheimen Vorverhandlungen, der Durchbruch bei drei von fünf dieser Punkte sowie die Mobilisierung unterschiedlicher sozialer, politischer und akademischer Gruppen zur Unterstützung des Friedensprozesses zeugen vom Fortschritt der Verhandlungen. Seminare, Kurse und Konferenzen zur Friedensthematik, der Weltgipfel für Kunst und Kultur, der von 6.-11. April 2015 stattfand, und der »Marsch für das Leben«, der Menschen auf der ganzen Welt dazu aufrief, am 9. März 2015 für den Frieden in Kolumbien auf die Straßen zu gehen, sind Beispiele für die Mobilisierung für den Frieden. Dieser wird jedoch kontinuierlich von Verhandlungsgegnern aus dem rechten Lager und durch die militärischen Offensiven beider Seiten geschwächt.8 Die genannten Fortschritte – die Verständigung über strukturelle politische Probleme und der Entschluss zur Durchsetzung humanitärer Maßnahmen – gilt es derweil auch unabhängig von einem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zu bewahren.
Die jüngste Eskalation des Konflikts hat vor Augen geführt, dass der Verhandlungsprozess an einem schwierigen Moment angekommen ist.
Erschwerend kommt die Rolle einzelner Personen in diesem Prozess hinzu, wie der Fall von Antanas Mockus zeigt, dem Ex-Bürgermeister von Bogotá, ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und Mitglied der Beraterkommission des Präsidenten für den Friedensprozess. Nur knapp drei Monate, nachdem er den »Marsch für das Leben« angeführt hatte, gestand er, vor 30 Jahren ein Sympathisant und Gehilfe der Guerilla gewesen zu sein: „Ich habe dem einen oder anderen geholfen. Ich bin der Unterlassung schuldig. Außerdem habe ich auch […] Geheimnisse und Materialien für sie aufbewahrt. Und ich habe für sie übersetzt. […] Ich bin bereit, dieselbe Strafe anzunehmen, zu der die Anführer der FARC verurteilt werden, die sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen schuldig bekennen.“ 9.
Mit seinem völlig unerwarteten Geständnis, trat Mockus nicht nur eine hitzige Debatte über seine Person los, sondern traf auf provokante Weise den Kern der aktuellen Verhandlungsschwierigkeiten: den Umgang mit Wahrheit und Gerechtigkeit. In Bezug auf die Frage der Übergangsjustiz gibt es in Kolumbien keine »lessons learned« aus vorherigen Verhandlungsprozessen mit der FARC-EP.10 Zudem stellt sich eine große Mehrheit der Kommandanten der FARC-EPstrikt gegen jegliche strafrechtliche Aufarbeitung. In dieser verfahrenen Situation ist ist die internationale Gemeinschaft gefordert, auf der Basis von Erfahrungen in anderen Weltregionen neue Denkanstöße zu geben. Für einen gesamtgesellschaftlichen Friedensprozess wäre zu wünschen, dass Initiativen, die sich fernab des offiziellen Dialogs für die Wiederherstellung eines Mindestmaßes an gesellschaftlichem Vertrauen und Versöhnung einsetzen, stärker beachtet und gefördert würden. Denn auch wenn ein Verhandlungsabschluss ein wichtiger Meilenstein wäre, ist es noch ein langer Weg hin zum Frieden in Kolumbien.
Anmerkungen
1) In einem Interview auf Kienyke.com; siehe David Baracaldo Orjuela: La mala suerte de los diez intentos de paz que ha tenido Colombia. 9. Februar 2014.
2) Bis heute ist die Ungleichheit in Kolumbien frappierend. Das Land rangiert mit einem Gini-Index von 0,58 weltweit an vierter Stelle und in Lateinamerika an erster Stelle der Länder mit hoher Ungleichverteilung. Siehe: Desigualdad Extrema en Semana. semana.com, 12. März 2011.
3) Der Unión Patriota zufolge kamen mehr als 5.000 ihrer Anhänger durch politische Verfolgung ums Leben. Unter den gefolterten, verschleppten und getöteten Personen befanden sich auch zwei Präsidentschaftskandidaten, acht Kongressabgeordnete, Hunderte Bürgermeister, Stadträte und Sozialaktivisten. Siehe Carlos Guillén Lozano (2002), Prologo.
4) Diese umfasste 42.000 km2 in den Gemeinden La Uribe, Mesetas, La Macarena y Vista Hermosa im Department Meta und San Vicente del Caguán im Department Caquetá. Die Ausweisung der Zone wurde achtmal verlängert; am 20.2.2012 wurde die Zone schließlich vom kolumbianischen Militär eingenommen.. Siehe Jeffrey Deaver (2000) und Alejo Vargas(2003).
5) Bereits zuvor war die Regierung Julio César Turbay Ayala (1978-1982), die mit ihrem »Estatuto de Seguridad« (Sicherheitsstatut) jeden Protest kriminalisiert hatte, der es aber nicht gelungen war, die Guerilla zu besiegen, von der Regierung Belisario Betancur abgelöst worden, die wie oben geschildert Friedensverhandlungen zur Priorität erklärte. Beide Beispiele zeigen, dass sich in der Geschichte des bewaffneten Konflikts wiederholt Ansätze der totalen Kriegsführung mit politischen Verhandlungen abgewechselt haben. Die unterschiedlichen Politikvorschläge zum Umgang mit dem Konflikt haben dabei entscheidend die Wahlkämpfe geprägt, einschließlich der Präsidentschaftswahlen.
6) Stand Ende Mai 2015.
7) Comunicados de la Delegación de Paz de las FARC-EP: Que se abran los archivos, que se sepa la verdad. pazfarc-ep.org, 4. Juni 2015.
8) So sind die Umfragewerte gegenüber Santos und den Friedensverhandlungen so pessimistisch wie noch nie seit Beginn der Verhandlungen; siehe: Última encuesta Gallup: Santos y el proceso de paz se van al piso. las2orillas.co, 29. April 2015.
9) Öffentlicher Brief, der am 22. Mai 2015 in der Tageszeitung El Tiempo publiziert wurde.
10) Die Erfahrungen mit Übergangsjustizregelungen im Rahmen des Demobilisierungsprozesses des Paramilitärs sind in Kolumbien heftig umstritten, können allerdings als Anstoß dienen, welche Fehler es zu vermeiden gilt.
Literatur
Fernando Cubides (2005): Algunas consideraciones acerca de los procesos de paz fallidos en Colombia. Blog unter fcubides.tripod.com.
Jeffrey Deaver (2000): La Silla Vacía. Colombia: Alfaguara.
Carlos Guillén Lozano (2002): Prologo. In: Luis Alberto Matta Aldana (Hrsg.): Poder capitalista y violencia política en Colombia: terrorismo de estado y genocidio contra la Unión Patriótica. Bogotá: Edición Ideas y Soluciones Gráficas.
Gonzalo Sánchez (1984): Raíces históricas de la amnistía o las etapas de la guerra en Colombia. In: Gonzalo Sánchez (Hrsg.): Ensayos de historia social y política del siglo XX, Bogotá: El Áncora Editores.
León Valencia und Ariel Ávila: ¿Para qué sirvió el cese unilateral al fuego de las Farc? Las 2 Orillas, las2orillas.co, 26. Mai 2015.
Alejo Vargas Velásquez (2003): Nueva prospectiva para la paz en Colombia. Revista Investigación y Desarrollo, Vol. 10 (31). Barranquilla: Universidad del Norte.
José Armando Cárdenas Sarrias ist Soziologe und Historiker (MA). Er promoviert am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.