W&F 2023/2

Dennoch friedenslogisch denken und handeln!

Fünf zivilgesellschaftliche Arbeitsfelder

von Hanne-Margret Birckenbach

Am 11. März 2023 wurde Hanne-Margret Birckenbach der Göttinger Friedenspreis für ihr Lebenswerk verliehen. Erst kurz zuvor erschien ihr jüngstes Buch »Friedenslogik verstehen«1, das als Desiderat vieler Jahre der Schärfungen des Ansatzes verstanden werden kann. W&F dokumentiert an dieser Stelle die Rede der Preisträgerin anlässlich der Verleihung, in der sie fünf Aufgabenfelder für friedenslogisches Denken und Handeln aufreißt – und die Leser*innen darin bestärkt, der Aufgabe der Friedensgestaltung bestimmt und mit der nötigen Komplexität nachzugehen.

Friedensforschung und Friedens­praxis – wie passt das zusammen? Das Feld der Friedensforschung ist schmal. Das Praxisfeld ist dagegen breit. Davon zeugt die Liste der bisherigen Träger:innen des Göttinger Preises. Sie kommen aus der Politik, dem Journalismus, den Bürgerinitiativen, der Friedenspädagogik und der Trauma- und Versöhnungsarbeit. Auch Musiker:innen und Seenot­retter:innen leisten Friedensarbeit. Mit diesen und anderen Praxisfeldern stehen Friedensforscher:innen oft im Austausch, insbesondere sofern sie erfahrungswissenschaftlich arbeiten.

Auch meine Arbeiten zur Friedenslogik sind im Austausch mit Praktiker:innen entstanden, die sich in dem friedenspolitischen Netzwerk der »Plattform Zivile Konfliktbearbeitung« zusammengeschlossen haben. Ein Ergebnis sind die friedenslogischen Handlungsprinzipien. Sie informieren darüber, worauf nach heutigem Kenntnisstand zu achten ist, sofern Frieden die Folge bewussten Handelns in Politik und Gesellschaft sein soll.

Die sozialwissenschaftliche Forschung unterscheidet zwischen Frieden als einem Ideal und Frieden als einem Weg, diesem Ideal näher zu kommen. Wenn es gut läuft, dann nehmen direkte und indirekte Gewalt ab und Zusammenarbeit nimmt trotz Konflikt im Interesse der Existenz­erhaltung zu. Friedensbemühungen sind dann am ehesten erfolgreich, wenn Akteure aus Politik, Diplomatie und Zivilgesellschaft in Verbindung stehen. Sie können dann mit den je eigenen Zugängen die Kreisläufe von Gewalt und Gegengewalt unterbrechen, Konfliktformationen entschlüsseln und verändern. Dies geschieht, wenn Kommunikation zwischen Konfliktparteien gelingt und widerstrebende Interessen in friedensverträgliche Bahnen gelenkt werden.

Im günstigen Fall erreicht eine solche Arbeit zwar nicht das Ideal des Friedens; sie führt vielmehr »nur« zu mehr Frieden im Unfrieden. Die Arbeit am Frieden ist daher niemals abgeschlossen. Sie ist eine Daueraufgabe. Denn mit Unzufriedenheit ist auch im günstigen Fall zu rechnen. Daher ist darauf zu achten, dass der erreichte Frieden nicht an Unzufriedenheit zerbricht und dass langfristig mehr Zufriedenheit entsteht. Ohne zivilgesellschaftliche Beteiligung kann das unter heutigen Bedingungen vielfältiger transnationaler Verflechtungen nicht gelingen.

Diese Befunde abstrahieren von konkreten Fällen. Aber weltfremd sind sie nicht. Deutschland wirbt für sie vor allem im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Es entsendet zu diesem Zweck Fachkräfte an viele Orte im globalen Süden. Auch in Kolumbien sind sie tätig. Wenn allerdings Politiker:innen wie die kolumbianische Vizepräsidentin am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz die Erwartung aussprechen, diesen Wissensfundus auch im Fall des Krieges gegen die Ukraine anzuwenden, und wenn sie dann noch ihre Hilfe anbieten, entsteht doch Irritation.

Es gibt faszinierende Erfolgsgeschichten, von denen hier aber heute nicht die Rede sein soll. Denn eine schier unlösbar erscheinende Konstellation hält heute das Denken, Fühlen und Handeln in Europa und auch mich gefangen. Die Friedensentwicklung, die in den frühen 1990er Jahren erreicht wurde, ist zerfallen. Russland hat nun die Schwelle zum Krieg gegen die Ukraine überschritten. Die Aussichten auf einen Friedensprozess sinken mit jedem Kriegstag – nicht anders als in anderen Kriegen. Erschwerend ist, dass neben dem Aggressor Russland auch diejenigen Staaten, die sich bisher in den Vereinten Nationen als »Peace-Maker« profiliert haben, an der Entstehung und an der Eskalation der Konfliktlage sowie an den anhaltenden Kämpfen beteiligt sind. Diese Staaten sehen sich nun in der Verantwortung, die Ukraine militärisch und politisch gegen Russland zu verteidigen.

Sicher geht es ihnen um die Verteidigung von hohen Werten, um die Verteidigung des Völkerrechts und um die Verteidigung der ukrainischen Staatlichkeit. Ob die Mittel dazu geeignet sind, ist jedoch fraglich. Friedensförderlich sind sie ganz sicher nicht. Gleichzeitig verfolgen die westlichen Staaten auch hegemoniale Interessen. Deren Legitimität wird in vielen Teilen der Welt nicht mehr akzeptiert.

Auch Friedensforscher:innen fällt es heute schwer, solide Aussagen darüber zu treffen, wie der Krieg gegen die Ukraine friedensfördernd beendet werden kann. Eine große Lücke klafft zwischen den Konfliktanalysen einerseits und den daraus ableitbaren praktischen Handlungsschritten andererseits. Dennoch wird auch von Friedensforscher:innen erwartet, dass sie ausloten, was friedensfördernd getan werden kann, und dass sie Ihre Überlegungen mit denen teilen, die danach fragen.

So schrieb mir eine Fachkraft für zivile Konfliktbearbeitung: „Die momentane Eskalation in den dritten Weltkrieg lässt uns alle entsetzt mit Ohnmachtsgefühlen zurück. Noch nie haben wir ein so starkes Machtgefälle erlebt. Wo siehst Du Ansatzpunkte für uns als zivilgesellschaftliche Gruppe, dem Rad in die Speichen zu fallen? All die »Petitionen« scheinen ja keinerlei Wirkung zu haben, und bei Demos sind wir ein kleiner kläglicher Haufen.“

Ich stelle die Frage ein wenig anders: Welche Rollen können zivilgesellschaftliche Akteure absehbar für eine Friedensentwicklung in diesem europäischen Krieg spielen? Auf fünf Arbeitsfelder möchte ich hinweisen. In allen geht es um vielfältige Ansätze dialogischer Konfliktbearbeitung.

1. Diskurs in Gang halten und erweitern

In Deutschland besteht weitgehend Einigkeit darüber: Der Weg aus dem Krieg führt über Verhandlungen. Strittig ist, wie und wann es zu fruchtbaren Verhandlungen kommen kann. Sofern man den öffentlichen Verlautbarungen glauben darf, setzen Russland und die Ukraine sowie ihre westlichen Unterstützerstaaten darauf, dass sie das Kriegsgeschehen kontrollieren können und dass sie durch den Einsatz militärischer Kräfte die jeweiligen Verhandlungspositionen verbessern können. Warnungen vor den zerstörerischen Auswirkungen dieser allseitigen Strategie können selbst nach einem Kriegsjahr auf allen Seiten nur schwer aufgenommen werden. Sie stören die Strategie.

Die Folge sind Propaganda sowie polarisierende und unergiebige Debatten unter Freund:innen, in den Zeitungen, in den Talkshows. Auf allen Seiten schrumpfen die Denk-, Dialog und Kooperationsräume. Diese Einschränkungen spüren am deutlichsten solche friedensorientierten Personen in der Ukraine und in Russland, die am Narrativ ihrer Regierungen zweifeln. Es spüren auch prominente Persönlichkeiten in Deutschland und Abgeordnete im Bundestag. Und es spüren alle Friedensinitiativen. Dennoch scheinen mir deren Aufrufe, Stellungnahmen und Aktionen keineswegs wirkungslos. Denn sie halten friedensorientiertes Denken, Sprechen und Handeln in der Öffentlichkeit in Gang. Oft gelingt es ihnen auch, den kritischen Stimmen aus der Ukraine, aus Russland und auch aus den USA ein Forum zu bieten. Bei allen Unterschieden stimmen die friedenspolitischen Initiativen zumindest in drei Punkten überein. Sie kritisieren die russische Aggression und Kriegführung ohne Wenn und Aber. Sie fordern eine Deeskalation sowie ein Ende der Kämpfe. Und sie treten für einen sofortigen Beginn von Verhandlungen ein.

Diese Forderungen stehen in voller Übereinstimmung mit der UN-Charta und den Resolutionen, die von der UN-Generalversammlung zum Krieg gegen die Ukraine seit Februar letzten Jahres verabschiedet wurden. An deren Zustandekommen hat auch Deutschland mitgewirkt, und es hat ihnen zugestimmt.

Sanktionen oder militärische Unterstützung sind danach nicht ausgeschlossen. Sie werden aber auch nicht empfohlen. Es gibt für sie keine politische Mehrheit. Solange die Friedensaufrufe Erwartungen formulieren, die diesem UN-Rahmen entsprechen, stützen sie internationale Bemühungen um eine Friedensentwicklung, die es ja hinter den Kulissen auch gibt. Wie die Kernforderungen erfüllt werden sollen, können die Initiativen nicht angegeben. Es ist auch ihnen notwendigerweise unklar. Denn sie verfügen weder über die für eine Antwort erforderlichen Informationen noch über die politischen Zugänge, um solche Informationen zu erhalten. Im Krieg nimmt politische Intransparenz zu. Bei der Umsetzung dessen, wofür die Bundesregierung in den Vereinten Nationen geworben hat, ist die Bundesregierung federführend. Sie kann sich freilich auch mit Fachvertreter:innen aus der Zivilgesellschaft darüber beraten, was unter den schwierigen Bedingungen doch möglich ist.

2. Friedensoasen ausweiten

Die jüngste Resolution der UN-Generalversammlung (A/RES/ES-11/6) verlangt, diplomatische Anstrengungen zur Beendigung des Krieges verstärkt zu unterstützen. Nun wird gegen die Möglichkeit von Verhandlungserfolgen eingewendet: Mit Russland könne vorerst nicht verhandeln werden. Auch lehne es Verhandlungen ab. Die Ukraine wolle ebenfalls nicht verhandeln.

Unter Diplomat:innen sind diese Einwände umstritten. Mehrere Erzählungen darüber, an wem und an was bisherige Bemühungen gescheitert sind, stehen nebeneinander. Es scheint mir gegenwärtig nicht möglich zu entscheiden, was sich tatsächlich zugetragen hat. Richtig scheint mir allerdings, dass über geopolitische Konfliktpunkte zurzeit nicht erfolgreich verhandelt werden kann und soll. Zu ihnen gehören die Osterweiterung des Westens und die imperialen Territorialansprüche Russlands. Nicht verhandelbar ist auch die Souveränität der Ukraine.

Aus dieser Einschätzung lässt sich jedoch nicht schließen, dass Verhandlungen über andere Themen zwangsläufig scheitern. Selbst im UN Sicherheitsrat gelingt weiterhin Kooperation mit Russland in weltpolitischen Fragen. So wurden auch in den letzten Monaten die meisten Resolutionen im Sicherheitsrat einstimmig oder mehrheitlich angenommen. Nur wenige wurden durch eine der Vetomächte blockiert. Auch haben international moderierte Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland bereits zu konkreten Ergebnissen geführt. Diese wirken unmittelbar gewaltmindernd. Humanitäre Korridore sind eingerichtet worden. Gefangene wurden ausgetauscht. Die Internationale Atomenergiebehörde verhandelt über weitere Schutzzonen um Atomkraftwerke. Erfolgreich waren auch die Vereinbarungen über Getreidelieferungen, an denen auch das NATO-Mitglied Türkei beteiligt ist und die der Forderung der UN-Generalversammlung nach Ernährungssicherheit entsprechen.

An all diesen Vereinbarungen lässt sich auch ablesen, was internationale Diplomat:innen brauchen, um erfolgreich zu sein: erstens ein Mandat, zweitens humanitär begründete Erwartungen und drittens ein politisches Umfeld, das von den Parteien verlangt, umsetzbare Ergebnisse auszuhandeln. Diplomat:innen aus dem Kreis der OSZE haben nun vorgeschlagen, solche Oasen erfolgreichen Verhandelns auszuweiten und beispielsweise auch Schulen, soziale Einrichtungen, sowie Aussaat und Ernte zu schützen.2 Friedenslogisch ergibt sich daraus die Frage, wie die Bildung weiterer Oasen initiiert und unterstützt werden kann. Eine Einigung über die territorialen Grenzen bzw. die Rückgabe der annektierten Gebiete scheint dazu nicht erforderlich.

Erfahrungen aus anderen Gewaltkonflikten zeigen nun, dass zivilgesellschaftliche Akteure gebraucht werden, damit solche Oasen zustande kommen, damit sie durch Frühwarnungen vor Sabotage geschützt werden und damit sie mit den Methoden des zivilen »peace-keeping« abgesichert werden. In der Ukraine haben sich einige Gruppen zum Beispiel in der »Platform for Non Violent Activism« und in der »Foundation for Community Development« zusammengeschlossen. Diese Gruppen können jetzt von ihren Partner­organisationen in Deutschland gefragt werden, ob und wie sie sich an solchen Oasen beteiligen wollen, welche sie selbst initiieren wollen und welche externe Unterstützung dabei hilfreich ist.

3. Globale Normen und zivile Ansätze integrieren

Im ersten Kriegsjahr wurde eine Reihe von Themen für eine Verhandlungs­agenda vorgeschlagen.3 Zum Beispiel soll es um die Entmilitarisierung der Kampfzonen gehen, um territoriale Grenzen, um Rüstungskontrolle, um Neutralität, um Sicherheitsgarantien, um europäische Sicherheit, um ein Wiederaufbauprogramm und gar um einen zweiten Helsinkiprozess.

Für Akteure der Zivilen Konfliktbearbeitung lohnt es sich, genauer hinzugucken. Zwei Lücken sind offensichtlich. Auch auf sie wurde am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz hingewiesen.

  • Zum einen sind alle Vorschläge europazentriert. Die Beendigung des Krieges ist jedoch auch eine globale Angelegenheit. Dieser Krieg belastet das Völkerrecht sowie die internationale Zusammenarbeit. Er hat immense Folgen für Ernährung, Energieversorgung, das Finanzwesen, den Schutz vor nuklearer Verwüstung. Er schädigt die Umwelt und beeinträchtigt überall die menschenrechtliche Entwicklung. Die UN-Mitglieder wollen, dass dieser Krieg endet, und zwar nicht irgendwann, sondern rasch. Für Vertreter:innen westlicher Staaten ist es nun herausfordernd zu akzeptieren, wie sehr sie die Zustimmung aus dem Globalen Süden brauchen, um europäische Konfliktlinien zu befrieden. Westliche Staaten spüren jetzt ihre Glaubwürdigkeitslücke. Politische Entscheidungen zur Abwehr der russischen Aggression gewinnen weltweit an Zustimmung und Legitimität, wenn sie mit den globalen Verpflichtungen vereinbar sind. Das betrifft nicht zuletzt die Verpflichtung abzurüsten, den Waffenhandel zu beschränken, Ressourcen zu schonen und die 17 Ziele der Agenda 2030 umzusetzen. Diese weltpolitischen Verpflichtungen setzen europazentrierten Vorschlägen Grenzen. Das gilt insbesondere für Absichten, die Sicherheit in Europa durch weitere Aufrüstung gewährleisten zu wollen.

Damit ist die Frage aufgeworfen, wie eine länderübergreifende Bewegung entstehen kann, die zum einen frei vom Verdacht ist, autoritäre oder diktatorische Interessen zu verfolgen, und die zum anderen stark genug ist, auf der glaubwürdigen Umsetzung internationaler Vereinbarungen zu bestehen. Zahlreiche Kontakte aus der friedens- und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen sowie breite Kampagnenerfahrungen sind vorhanden. Können diese Kontakte und Erfahrungen ähnlich wie beim Atomwaffenverbotsvertrag genutzt werden? In jedem Fall brauchen die zivilgesellschaftlichen Akteure im globalen Norden jetzt viel Unterstützung von ihren Partnerorganisationen im globalen Süden. Auch das gilt es jetzt offen und mit Demut zu kommunizieren.

  • Die zweite Lücke in der Themenliste betrifft gesellschaftspolitische Fragen. Die Themenliste ist staatszentriert. Sie lässt auch keinen Bezug zur zivilen Konfliktbearbeitung erkennen. Deren Akteure stehen aber nicht auf Abruf bereit. Sie brauchen einen langen Vorlauf, um tätig werden zu können. Daher ist es jetzt wichtig, vorausschauend mögliche Rollen zu formulieren und transnational abzustimmen. Denn davon hängt ab, was Verhandlungsergebnisse konkret beinhalten – ob sie beispielsweise auf Abschottung durch Stacheldraht und Minen ausgerichtet sind oder ob bedürfnisorientierte Lösungen für einen leichten Grenzverkehr gefunden werden. Von zivilgesellschaftlichen Akteuren hängt auch ab, wie effektiv Verhandlungsergebnisse umgesetzt werden.

Eine Entmilitarisierung der Kampfzonen sowie eine Kontrolle der 2.000km langen Grenze zwischen der Ukraine und Russland oder sogar der 4.000 km Grenze zwischen der EU und Russland sind ohne zivile Kräfte kaum denkbar. Und wie sonst soll man sich beispielsweise einen neuen Helsinkiprozess vorstellen? In ihm muss es ja zum Beispiel auch um umweltverträgliches Wirtschaften, um konstruktive Formen des Umgangs mit historischen und aktuellen Gewalt- und Unrechtserfahrungen sowie um die Auflösung von Hass und Feindschaft gehen. Zu all dem gibt es aus anderen Kontexten vielfältige Konzepte und Erfahrungen, die auch wissenschaftlich ausgewertet wurden. Diese Erfahrungen und Ergebnisse müssen nun für einen anderen Kontext übersetzt werden.

4. Friedensdiskurs lebensnah verankern

Friedenspolitische Diskurse finden auch in demokratischen Gesellschaften nicht das erhoffte und notwendige Interesse in der Bevölkerung. Sozialpsychologische Untersuchungen, die in der Zeit zwischen 1980 und 2000 gemacht wurden, haben gezeigt, wie Anforderungen in der Arbeits- und Lebenswelt dazu führen, dass Bürger:innen sich ausgeliefert oder überfordert sehen.4 Sie nehmen deshalb Haltungen ein, die ihnen den emotionalen und gedanklichen Zugang zum Thema politischer Friedensgestaltung verbauen. Heute sind diese Zusammenhänge vermutlich noch weit ausgeprägter. Denn die planetarischen Krisen werden auch in den wohlfahrtsorientierten Ländern stärker im Alltag gespürt. Der rasante Veränderungsdruck ermüdet. Es ist nachvollziehbar, wenn Bürger:innen politischen Auseinandersetzungen um Themen jenseits ihrer Erfahrungswelt aus dem Weg gehen.

Die Kolleg:innen in der schulischen und außerschulischen Friedensbildung haben aus solchen Befunden den Schluss gezogen, auf die Verknüpfungen zwischen persönlichen Erfahrungen in Mikrokonflikten und den Interpretationen des weltpolitischen Geschehens zu achten. Sie gestalten Friedensbildung daher erfahrungsnah und so, dass Teilnehmende sich als selbstwirksam erleben können. Ähnlich verfahren mediative Ansätze zur kommunalen Konfliktbewältigung im In- und Ausland. Die zivilen Fachkräfte arbeiten jeweils mit Personen und Gruppen zusammen, die in den lokalen Gemeinschaften verwurzelt sind, die dort Vertrauen genießen und um die Lebenswirklichkeit der Bevölkerung und ihrer Traditionen wissen.

Auch jetzt im Ukraine-Krieg findet lebensnahe Friedensarbeit statt. Oftmals wird sie von Frauen ins Leben gerufen. Nur wenige können unter den Bedingungen des Krieges öffentlich auftreten. Dennoch gelingt über die zivilen Friedensdienste und andere Organisationen trotz der enorm schwierigen Bedingungen weiterhin transnationale Zusammenarbeit. Exemplarisch erwähne ich die »Women’s Initiatives for Peace in Donbas(s)«. In dieser Initiative arbeiten Praktikerinnen, Mediatorinnen und Wissenschaftlerinnen aus der Ukraine, aus Russland, aus der Schweiz und aus Deutschland zusammen. Es handelt sich um eine besonders gelungene Form von Aktionsforschung.

Seit 2016 schaffen es diese Frauen sich lagerübergreifend über ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen der Situation am konkreten Ort zu verständigen. Sie sprechen über ihre Bedürfnisse und die ihrer Familien. Es geht um Bildung, Arbeit und die Möglichkeiten mit den Angehörigen und Freund:innen auf der anderen Seite der Grenze und im anderen Lager Kontakt zu halten. Und sie überlegen, was sie für einander tun können. Sie geben einander die Kraft, um – jenseits von Propaganda – eigenständig zu deuten, was in und mit ihren Ländern geschieht. Die Arbeit dieser Gruppe ist für Akteure aus Kultur-, Wissenschaft und Bildung vorbildlich. Sie alle können jetzt viel zur Entgiftung der Kommunikation zwischen den Lagern beitragen.

Seit Abbruch der Minsker Verhandlungen fehlt allerdings auch dieser Frauenini­tiative im Donbas(s) ein politischer Rahmen, in den sie ihre Überlegungen einfädeln und den sie mit frischen Gedanken versorgen können. Auch die finanziellen Ressourcen bleiben aus. Wie für alle Formen der Dialogarbeit ist es daher notwendig, dass schnell ein politischer Verhandlungsrahmen entsteht, in dem Frieden gewollt wird. Denn die Reichweite von lebensnaher Friedensarbeit hängt davon ab, ob diplomatische Kanäle sich für zivilgesellschaftliche Teilhabe öffnen. Und sie hängt davon ab, welche Verbindungen zu Entscheidungsebenen gezogen werden können. Vertrauensbildung zwischen diesen Ebenen bedarf eigener Anstrengungen. Nur vermittelt über Ombudspersonen und in geschützten Räumen können Akteure, die auf unterschiedlichen Ebenen Friedensarbeit leisten, darüber beraten, wie sie einander besser ergänzen.

5. Multiperspektivische Friedensdialoge wagen

Von dem Friedensforscher Klaus Horn habe ich noch als Studentin gelernt, dass die Anerkennung der eigenen Ohnmacht in komplexen Prozessen eine Voraussetzung für wirksames Friedenshandeln ist. Wenn ich nun die von mir genannten Arbeitsfelder bedenke, bekomme ich selbst einen Schreck. Den politischen Friedensdiskurs in Gang zu halten, an Oasen der Friedensentwicklung und der Umsetzung von globalen Verpflichtungen mitzuwirken, Stimmen aus dem globalen Süden zu Rate zu ziehen und ein Verständnis für die vielfältigen Ansätze von Friedensarbeit zu verbreitern: Mit diesen Hinweisen habe ich eine lange Antwort auf eine kurze Frage aus der Praxis gegeben und ein umfangreiches Programm für sehr viele Mitwirkende formuliert.

Es ist viel Arbeit, ein solches Programm kleinzuarbeiten. Wo immer unter den akuten Bedingungen etwas davon gelingt, öffnet sich ein Fenster für mehr Frieden im Unfrieden. Überall fehlen jetzt Gelegenheiten, die Menschen mit unterschiedlichen Kenntnissen, Positionen und Ängsten miteinander über Fragen der Friedens­entwicklung ins Gespräch bringen. Nur so erfahren sie, welche Möglichkeiten zur Gewaltminderung und Konflikttransformation in dialogischen Verfahren stecken und in welcher Weise sie an Friedensentwicklungen teilhaben können.

Die Ausgangsbedingungen für solche Dialoge sind hier in Göttingen nicht schlecht. Die Göttinger 18 haben 1957 eine Tradition gestiftet, vor nuklearer Bewaffnung zu warnen. Göttingen ist Mitglied des weltweiten Netzwerkes der Bürgermeister:innen für den Frieden und die Oberbürgermeisterin Frau Broistedt setzt sich in diesem Rahmen für den Beitritt weiterer Staaten zum Atomwaffenverbotsvertrag ein. Niedersachsen hat eine Koordinierungsstelle Friedensbildung beim Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung. Es gibt ein Netzwerk aus Fachkräften, die Erfahrungen in ziviler Konfliktbearbeitung im In- und Ausland gemacht haben. Sie stehen bereit, an Schulen und anderen Einrichtungen über ihre Methoden und Erfahrungen zu berichten. Göttinger Schulen sind an Friedensbildung interessiert, obwohl dies – anders als in Baden-Württemberg – noch nicht im Lehrplan steht. Wenn ich es richtig verstanden habe, fehlt allein eine politische Entscheidung, finanzielle Mittel dafür in den Landeshaushalt oder den Haushalt der Stadt einzustellen. Da ließe sich rasch etwas von Frieden machen.

Und schließlich hat Göttingen ein Theater voll von Geschichten über Verbrechen, über Lüge, Angst und Liebe. Und es hat mit Herrn Sidler einen Intendanten, der das Haus als Ort der Begegnung und Aushandlung beschreibt. Bertolt Brecht hat in der Parabel »Der gute Mensch von Sezuan« ein Dilemma konstruiert, das so ausweglos erscheint wie die aktuelle Debatte über immer mehr Waffen und Gräueltaten im Krieg. Im Epilog öffnet sich das Fenster für einen veränderungsorientierten Diskurs, der dann doch noch zu einem gutem Schluss führen könnte. Denn es müsse ein guter da sein, „muss, muss, muss“, heißt es im Text.

Vielleicht hilft der Leitbegriff Frieden, auch hier im Theater einen neuen Anfang zu finden. Womöglich wollen viele von Ihnen damit gleich jetzt beginnen. […]

Anmerkungen

1) Siehe auch die Rezension des Buches von Eva Senghaas-Knobloch auf S. 64f. dieser Ausgabe

2) Vgl. auch Dienes, A. (2021): Was sind »Inseln der Kooperation«. In: Dienes et al.: Mehr »Gemeinsame Sicherheit« wagen. Neue Impulse zur Entspannung für eine hochgerüstete Welt. W&F Dossier 92, S. 10-12.

3) Ronnefeldt, C. (2023): Diplomatische Lösungsansätze im Ukraine-Krieg. FriedensForum 2/2023, S. 18f.

4) Volmerg, B. und U.; Leithäuser, Th. (1983): Kriegsängste und Sicherheitsbedürfnis: Zur Sozialpsychologie des Ost Westkonflikts im Alltag. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag.

Hanne-Margret Birckenbach ist Professorin i.R. an der Universität Gießen und lebt in Hamburg. Homepage: hanne-margret-birckenbach-wellmann.de

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/2 Klimakrise, Seite 43–46