W&F 2020/2

Der Frieden in Kolumbien

„… ist nicht der Frieden, den wir wollen“

von Dorothea Hamilton und Matthias Grenz

Im November 2016 wurde mit dem »Friedensvertrag von Havanna« der längste Bürgerkrieg der Welt beendet. Seit der Entwaffnung der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) herrscht im Land offiziell »Frieden«. Jedoch zeigen vielerlei soziale Missstände, dass ein dauerhafter Friede noch weit entfernt ist. Dem Friedensvertrag wurde international sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt, doch wie wird diese Friedenszeit von der betroffenen Bevölkerung wahrgenommen? Welche Elemente des Friedensvertrags führen dazu, dass ein »positiver Frieden« noch in weiter Ferne scheint? Und was können wir von Kolumbien lernen?

Kolumbien kann dank des Friedensvertrages zwischen den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der kolumbianischen Regierung als ein »Labor für Frieden« betrachtet werden, denn hier lassen sich in Echtzeit und gemeinsam mit Betroffenen die unterschiedlichen Friedensvorstellungen beobachten. Der mehr als 50 Jahre andauernde bewaffnete Konflikt zwischen der Guerillaorganisation und Regierungstruppen wurde mit dem »Friedensvertrag von Havanna« vom November 2016 offiziell beendet. Dieser findet international große Anerkennung; dem verhandelnden Präsidenten Manuel Santos wurde dafür der Friedensnobelpreis verliehen. Kritiker*innen des Vertrages bemängeln, dass es sich lediglich um einen „Frieden auf dem Papier“ (Naucke und Oettler 2018) handle. Es gehe nur um die Entwaffnung der FARC, andere Vereinbarungen, wie eine gerechtere Verteilung von Land an Kleinbauern, würden nicht eingehalten: Der Frieden von Santos ist nicht der Frieden, den wir wollen, denn zum Frieden, den die Landbevölkerung sucht, gehören soziale, ökonomische und politische Veränderungen. Aber dieser Frieden von Santos bedeutet, die Guerilla zu entfernen, um unsere Territorien den multinationalen Konzernen zu geben.(Interview A).

Andauernde Probleme, wie das Aufkommen neuer bewaffneter Gruppen, die teilweise Wiederbewaffnung der FARC, die Ermordung von Menschen- und Umweltaktivist*innen sowie ehemaligen Kämpfer*innen und die mit der Ausweitung illegaler Ökonomien, wie Drogenanbau oder Goldabbau, verbundene Gewalt, werfen die Frage auf, ob die Abgabe der Waffen tatsächlich als »Frieden« bezeichnet werden kann. Bereits in der Vergangenheit wurden in Kolumbien mit verschiedenen bewaffneten Gruppen Friedensverträge ausgehandelt. Diese führten zwar zur offiziellen Auflösung bewaffneter Gruppen (z. B. 1991 der Guerillagruppen EPL, M-12 und Quintin Lame, 2005 der Paramilitärvereinigung AUC), jedoch nicht zur Beendigung des bewaffneten Konflikts, da sich viele bewaffnete Akteure lediglich umbenannten und neu formierten (Nussio 2016, S. 3).

Einen theoretischen Rahmen für die differenzierte Betrachtung des Verhältnisses von Friedensvertrag und »Frieden« bietet Johann Galtungs Konzept des positiven bzw. negativen Friedens. Negativer Frieden ist als Abwesenheit kriegerischer Gewalt“ (Galtung 1969, S. 161 f.) zu verstehen, wohingegen sich der positive Frieden durch eine gesellschaftliche Transformation und Mitsprache auszeichnet. In Kolumbien kann aufgrund der Abgabe der Waffen von einem negativen Frieden gesprochen werden. Das Eingangszitat macht deutlich, dass viele weitere Schritte fehlen, damit ein positiver Frieden entstehen kann. Dazu ist es notwendig einen „territorialen Frieden“ (Maihold 2016) anzustreben, also dem Subsidiaritätsprinzip folgend die Umsetzung eines Friedens »von unten«. Dazu gehört es auch, lokale Verständnisse dessen, was Frieden beinhalten sollte, einzubeziehen.

Positiver Frieden durch den Friedensvertrag?

In einer quantitativen repräsentativen Untersuchung befragten wir ein Jahr nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages in der Stadt Cali 144 Personen unterschiedlichen Geschlechts, Alters, sozioökonomischen Standes und Berufs dazu, wie sie die Umsetzung eines dauerhaften Friedens einschätzten. Die ernüchternden Ergebnisse der Erhebungen zeigten, dass lediglich 22 % der Befragten an einen dauerhaften Frieden unter den gegebenen Voraussetzungen glaubten. Nur knapp 17 % der Befragten glaubten an die friedliche Koexistenz aller ehemals beteiligten Konfliktakteure mit der Zivilgesellschaft (Grenz 2019).

Im Altersvergleich fielen insbesondere die Gruppe der 16- bis 25-jährigen, die unteren sozialen Schichten und die sehr Wohlhabenden durch ihre sehr pessimistische Haltung in Bezug auf den Frieden auf. Die kolumbianische Zivilgesellschaft kann sich kaum eine reale Umsetzung des Friedens vorstellen. Dies wirft die Frage auf, weshalb die Befragten gegenüber dem Friedensvertrag so pessimistisch eingestellt sind.

Extraktivismus als Hindernis für Frieden

Neben vielen weiteren Problemen der Umsetzung ist einer der Kernkritikpunkte am Friedensvertrag von Havanna, dass das extraktivistische Wirtschaftsmodells nicht benannt wird. Kritiker*innen sind der Meinung, dass die Entwaffnung der FARC vor allem eine politische Voraussetzung für die Ausweitung der extraktivistischen und neoliberalen Wirtschaftslogik sei (z.B. Colmenares 2016, Velasquez 2015). In den vormals von der FARC kontrollierten Gebieten können nun die vorhandenen Ressourcen auf Kosten der Umwelt und der lokalen Bevölkerung ausgebeutet werden. Ein Umweltaktivist fasste diese Position mit folgenden Worten zusammen: „Natürlich wollen wir Frieden, alle wollen Frieden, aber dieser Frieden begünstigt vor allem die Großkonzerne. (Interview B)

Kolumbiens Wirtschaft beruht traditionellerweise stark auf Kaffee und Kohle und soll auf Gold, Kupfer und Coltan ausgeweitet werden. Die Regierung betont, dass insbesondere die Ausbeutung nicht-regenerativer Ressourcen notwendig sei, um einen langfristigen Frieden finanzieren zu können. Die kapitalistische Inwertsetzung der vorhandenen »ungenutzen« Rohstoffe mineralischer oder agrarischer Art soll zur Reduzierung der sozialen Spaltung beitragen (Interview C).

Jedoch ist die Exportorientierung auf unverarbeitete Rohstoffe seit der Kolonialisierung Teil eines Wirtschaftssystems, das bestehende Machtasymmetrien reproduziert und mit Umweltzerstörung und Unterdrückung anderer, z.B. indigener, afrokolumbianischer oder kleinbäuerlicher, Lebensweisen einhergeht (Hamilton 2018). Selbstbestimmte Entwicklungsvorstellungen der Lokalbevölkerung über den Umgang mit ihrer Umwelt, die Voraussetzung für einen positiven Frieden wären, werden mit Verweis auf ihre »Fortschrittsfeindlichkeit« diffamiert und mitunter kriminalisiert. Die räumliche Ausweitung der vermeintlich produktiven Logik hat bereits jetzt den Verlust der Biodiversität in vormals durch den bewaffneten Konflikt geschützten Gebieten zur Folge (Reardon 2019).

Vonseiten der Regierung wird ignoriert, dass die extraktivistische Logik mit zur gegenwärtigen Situation im Land geführt hat. Der Friedensvertrag klammert den Umgang mit den natürlichen Ressourcen, mit Ausnahme der Landfrage und der illegalen Drogen, komplett aus. Die Kritik am extraktivistischen Wirtschaftsmodell ist Kernbestandteil des so genannten »Acuerdo de Quito«, des angedachten Friedensvertrags mit der kleineren Guerillaeinheit ELN (Nationale Befreiungsarmee). Dessen Umsetzung ist allerdings aus verschiedenen Gründen fraglich (Maihold 2016).

Postkonflikt oder Post-Acuerdo?

In Kolumbien kursieren verschiedene Begriffe, welche die Zeit nach dem Friedensvertrag beschreiben. Während von offizieller Seite die derzeitige Phase als »Postkonflikt« bezeichnet wird, verwenden Kritiker*innen den Begriff »Post-Acuerdo«, also Zeit »nach dem Vertrag«, um damit auf die anhaltende Gewalt und den fehlenden positiven Frieden hinzuweisen. Die Bezeichnung »Post-Acuerdo« verweist auf den »negativen Frieden«, der zwar die Entwaffnung der FARC und eine generelle Abnahme der Gewalt mit sich bringt, aber die Bekämpfung der eigentlichen Konfliktursachen weitestgehend außer Acht lässt. Ein ehemaliger Kämpfer der demobilisierten M-19 beschrieb die Voraussetzung für einen positiven Frieden so: „Die Art der Veränderung, die das Land braucht, ist durch strukturelle Reformen bedingt, die nicht im Friedensvertrag festgelegt wurden, und würde voraussetzen, dass die Demokratie ausgebaut wird. Dazu gehört auch eine Transformation der Vorstellungen über Frieden und Gewalt […] Ich glaube, dass es sehr naiv ist, zu glauben, dass der Friedensvertrag mit den FARC allein zu einem stabilen und nachhaltigen Frieden führen wird. (Interview D)

Die Bezeichnung »Postkonflikt« hingegen ignoriert die anhaltenden sozialen Missstände und vergisst, auf die Folgekonflikte der so genannten Post-Bürgerkriegsgesellschaft einzugehen. Die Kernprobleme des Landes, wie Ungleichverteilung, anhaltende Gewalt und Ungleichheit, werden durch den bestehenden Vertrag nicht gelöst, sondern möglicherweise durch die zukünftige Ausweitung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells noch verstärkt. Eine Kaffeebäuerin antwortete auf die Frage, ob der Friedensvertrag ihr Leben verändert habe, so: Ich würde sagen, dass es sehr wenig verändert hat, man sagt, dass jetzt, wo der Frieden unterschrieben wurde, alles normal wird, aber das stimmt nicht. Es ist nicht normal, es gibt weiterhin Kriege, die Unterstützung, die den Kleinbauern versprochen wurde, hat nicht stattgefunden. (Interview E)

Der bewaffnete Konflikt und somit auch der Friedensvertrag sollten vielmehr als Symptom einer weitaus größeren Problematik verstanden werden. Denn schon in den Zeiten vor dem offiziellen Konflikt befand sich Kolumbien kaum in einem Zustand des positiven Friedens. Im derzeitigen Friedensprozess werden jedoch die eigentlichen Ursprünge der Situation in Kolumbien kaum thematisiert. Durch die Entstehung von bewaffneten Guerillabewegungen, paramilitärischen Einheiten und einem bis heute florierenden Drogenhandel wird der Blick mehr auf die Symptome als auf die eigentlichen Ursachen der prekären Situation in Kolumbien gelenkt.

Somit ist der Friedensschluss mit den FARC zwar ein Schritt in Richtung Frieden, jedoch kommt davon in der Praxis vielerorts nichts an. Ein Vertreter einer Bauernorganisation verwies darauf wie folgt: „Dafür hat Santos den Friedensnobelpreis gewonnen. Das hilft ihm, aber uns hat es nichts geholfen. (Interview B) Und eine Bäuerin warf ein, dass Frieden nicht eine nationale, politische Entscheidung sei, sondern „den Frieden müssen wir bei uns zu Hause anfangen“ (Interview E).

Literatur

Colmenares, R. (2015): Naturaleza en disputa y paz. In: Giraldo Isaza, F., Revéiz, E. (Hrsg.): El posconflicto – Una mirada desde la academia. Bogotá: Academia Colombiana de Ciencias Económicas, S. 143-152.

Galtung, J. (1969): Violence, Peace, and Peace Research. Journal of Peace Research, Vol. 6, Nr. 3.

Grenz, M. (2019): Zur Perzeption des Friedensprozesses bei der kolumbianischen Bevölkerung. Wissenschaftliche Abschlussarbeit, Fachbereich Geographie, Justus-Liebig-Universität Gießen.

Hamilton, D. (2018): Ein neues El Dorado – In Kolumbien wehren sich lokale Gemeinden gegen den Goldabbau. iz3w, Nr. 365, S-10-11.

Maihold, G. (2016): Kolumbien und der »vollständige Frieden«. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 43.

Naucke, P.; Oettler, A. (2018): Kolumbien – Frieden in Gefahr? Wissenschaft und Frieden 2-2018, S. 5.

Nussio, E. (2016): Frieden und Gewalt in Kolumbien. Zürich: Center for Security Studies der ETH Zürich, CSS Analysen zur Sicherheitspolitik Nr.191.

Reardon, S. (2018): Peace is killing Colombia’s jungle – and opening it up. Nature, Nr. 558.

Velásquez, F. (2015): Paz territorial e indústrias extractivas en Colombia. In: Giraldo Isaza, F., Revéiz, E. (Hrsg.): El posconflicto – Una mirada desde la academia. Bogotá: Academia Colombiana de Ciencias Económicas, S. 153-168.

Zitierte Interviews

Interview A, 5.10.2017, Cauca, Kolumbien: Führungsperson der Asociación Nacional de Usuarios Campesinos – Nationale Bauernvereinigung.

Interview B, 27.9.2019, Quindío, Kolumbien: Umweltaktivist.

Interview C, 26.10.2017, Bogotá, Kolumbien: Vorsitzende der Colombian Mining Association.

Interview D, 4.8.2017, Valle del Cauca, Kolumbien: Demobilisierter Kämpfer der ehemaligen Guerillagruppe M-19.

Interview E, 12.1.2018, Cauca, Kolumbien: Kleinbäuerin.

Dipl.-Geogr. Dorothea Hamilton ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie der JLU Gießen und hat in Marburg neben Geographie auch Friedens- und Konfliktforschung studiert. Sie promoviert zum Umgang mit Ressourcen in Postbürgerkriegssituationen in Lateinamerika. Im Rahmen ihrer Recherchen verbrachte sie zwischen 2017 und 2019 mehrere Aufenthalte in Kolumbien.
Matthias Grenz ist Geograph und Lehrer. Er absolvierte kurz nach der Unterschreibung des Friedensvertrages in Kolumbien ein Schulpraktikum an der Deutschen Schule Cali. Zudem forschte und studierte er an der öffentlichen Universität in Cali und gab in einem Camp ehemaliger FARC Kämpfer*innen Englisch- und Geographie­unterricht.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/2 Frieden begreifen, Seite 27–29